Provozierte Neuwahlen: Im Ver­trauen auf feh­lendes Ver­trauen

von Martin Rath

08.12.2024

Der Bundestag kann sich nicht selbst auflösen. Um zu vorgezogenen Neuwahlen zu kommen, muss der Umweg über die sogenannte unechte Vertrauensfrage gegangen werden. Als das zum ersten Mal geschah, sah die Bundesrepublik noch etwas anders aus.

Das Kollegium der Realschule erfüllte an diesem Tag seinen pädagogischen Auftrag auf ungewöhnliche Weise, jedenfalls für die politisch interessierten Kinder und Jugendlichen. Angeblich machten die Lehrer einen Betriebsausflug. Solche schulfreien Tage waren ganz ungewöhnlich. Denn noch verbanden aufstiegsbewusste Eltern aus dem kleinen Bürgertum und der aufstrebenden Arbeiterklasse mit der mittleren Reife eine sehr gute Bildung. Nicht zufällig hatte die Stadtverwaltung das Schulgebäude in den 1960er Jahren direkt neben den Baracken errichten lassen, aus denen die deutschen Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 20 Jahren ausgezogen waren. Aber daran erinnerte sich im Speckgürtel einer der rheinischen Großstädte schon längst niemand mehr, zumindest nicht gerne. 

Am 1. Oktober 1982 blieb jedenfalls die Schule geschlossen. Und wer es wollte, konnte verfolgen, was im Bundestag zu Bonn vor sich ging – am Radiogerät, denn Bildschirme schalteten tagsüber nur Proleten ein. 

Auf der Tagesordnung stand der Antrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP, der Bundestage wolle Bundeskanzler Helmut Schmidt das Misstrauen aussprechen und zu seinem Nachfolger den Abgeordneten Dr. Helmut Kohl wählen, Bundestagsdrucksache 9/2004

Ein Blick in den Stenographischen Bericht dieser 118. Sitzung der 9. Wahlperiode erhöht das autobiografische Erinnerungsvermögen. In der Beratung zum Antrag nach Artikel 67 Grundgesetz (GG), dem Bundeskanzler durch Wahl eines Nachfolgers das Misstrauen auszusprechen, gab zunächst Helmut Schmidt (1918–2015) eine längere programmatische Erklärung ab, teilweise scharf im Ton, nicht uneitel in der Präsentation. Schmidt warf der FDP, die 1980 mit der Aussage in den Bundestagswahlkampf gezogen war, die Koalition mit ihm fortzusetzen, vor, unredlich zu handeln: "Mehr als drei Viertel der Bürgerinnen und Bürger sind für Neuwahlen zum Bundestag. Sie empfinden die Art des Wechsels, der heute von Ihnen in geheimer Abstimmung herbeigeführt werden soll, als Vertrauensbruch." 

Schmidt ging so weit, dem politischen Gegner vorzuwerfen, dieser handle unsittlich, indem er nach den Regeln der Verfassung einen Regierungswechsel herbeiführte: "Dabei wissen die Bürger, daß das Grundgesetz Ihnen diese Handlungsweise ermöglicht. Ihre Handlungsweise ist zwar legal, aber sie hat keine innere, keine moralische Rechtfertigung." 

Choreographie von Kanzlerwechsel und provozierter Neuwahl 

Die unmittelbare Gegenrede übernahm für die CDU/CSU-Fraktion nicht zufällig der Abgeordnete Rainer Barzel (1924–2006). Ihm war zehn Jahre zuvor das konstruktive Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992) misslungen, der zwar seine Mehrheit im Bundestag durch den Partei- und Fraktionswechsel einiger Abgeordneter verloren hatte, aber im Amt blieb, weil der DDR-Auslandsgeheimdienst die Stimmen zweier Angehöriger der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kaufte. 

Barzel war zudem in Fraktion und Partei vom neuen starken Mann der CDU verdrängt worden: Helmut Kohl (1930–2017) stand in den 1970er Jahren für eine Modernisierung der Partei, fort vom alten Kanzlerwahlverein regionaler Honoratioren hin zu einer echten Volkspartei mit programmatischem Anspruch. Der Verlierer von einst, als Schildknecht von heute – 1982 verstand man sich noch auf die Choreographie von Machtverhältnissen. 

Im weiteren Lauf der Sitzung ergriffen unter anderem die scharfzüngigen Abgeordneten Heiner Geißler (1930–2017), damals noch alles andere als ein Liebling des politikverdrossenen Bürgertums, und Herbert Wehner (1906–1990) das Wort. Die FDP-Abgeordnete Hildegard Hamm-Brücher (1921–2016) erhielt Gelegenheit, sich hochmoralisch vom Machtbewusstsein ihrer Partei abzusetzen. Kohl, als Kandidat eigentlich nicht zur Aussprache vorgesehen, äußerte sich nur gegen die Vorwürfe, es sei mangels politischen Mandats der Wahlbürger unmoralisch, nach Artikel 67 GG einen neuen Bundeskanzler zu wählen. 

Ganz entziehen wollte sich die neue Mehrheit der Fraktionen von CDU/CSU und FDP der höheren Legitimation durch einen frisch zu fassenden Wählerwillen jedoch nicht. Es wurde angekündigt, für das Frühjahr 1983 Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen. Auf das Prinzip, dass die Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes auch bei der Neubesetzung des Kanzleramts "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind, wollte man sich also nicht berufen, aber doch fünf Monate bis zum Wahltermin nutzen können, um sich im Amt einzurichten. 

Wie man vorgezogene Bundestagswahlen erzwingt 

Den Weg zur vorgezogenen Wahl suchte Bundeskanzler Helmut Kohl gut zwei Monate, nachdem er am 1. Oktober 1982 gekürt worden war – mit der schlichten Mitteilung an den Bundestagspräsidenten, er stelle "den Antrag gemäß Artikel 68 des Grundgesetzes" (Drucksache 9/2304). 

Nach dieser Vorschrift kann der Bundespräsident den Bundestag auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen auflösen, wenn ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Parlaments findet. 

Bis zu diesen Vorgängen im Herbst und Winter 1982/83 herrschte die Vorstellung vor, mit dieser Regelung in Artikel 68 GG sei dem Bundeskanzler in erster Linie ein Machtmittel in die Hand gegeben, die Abgeordneten in der Regierungsdisziplin zu halten, sollte seine Mehrheit und damit seine politische Gestaltungsfähigkeit bedroht sein. Indem er gerade erst im konstruktiven Misstrauensvotum gegen Schmidt die Mehrheit aus CDU/CSU- und FDP-Fraktionen erhalten hatte, also dreier Parteien, die auch an einer künftigen Regierung Kohl mitwirken wollten, fehlte aber Bundeskanzler Kohl diese parlamentarische Mehrheit gerade nicht. 

Ein Blick in Artikel 81 GG belegt zudem, wie sehr dem Parlamentarischen Rat 1949 daran gelegen war, dass eine Bundesregierung auch gegen den Bundestag handlungsfähig bleiben kann: Löst der Bundespräsident den Bundestag nicht nach Artikel 68 GG auf, kann die Bundesregierung Gesetzesvorlagen, die sie als dringlich bezeichnet, im Rahmen des Gesetzgebungsnotstandes mit Zustimmung des Bundesrates sogar gegen die Mehrheit des Bundestages durchsetzen. 

Trotz bestehender parlamentarischer Mehrheit eine Abstimmung herbeizuführen, die man verliert, wurde in der politischen Öffentlichkeit des Jahres 1982/83 noch als sinnwidrig wahrgenommen. Erst die 1990er Jahre sollten Coolness und Ironie derart gesellschaftsfähig machen, dass am Ende sogar die einst biedere "FAZ" ihre Überschriften aus "Donald Duck"-Zitaten kompilierte. 

In der Aussprache vor der Abstimmung, Bundeskanzler Kohl derart künstlich das Vertrauen nicht auszusprechen, um zur Neuwahl des Bundestages zu kommen, äußerte Kohl sich unter anderem zur Alternative, den Bundestag nach Artikel 63 Absatz 4 Satz 3 GG aufzulösen:

"Ich habe seit meiner Wahl zum Kanzler der Bundesrepublik Deutschland Ihnen und der deutschen Öffentlichkeit in aller Offenheit meine Erwägungen vorgetragen. Ich habe alles vermieden, was den Anschein des Künstlichen oder der Manipulation erwecken könnte. Der Vorwurf der Manipulation wäre schon eher gerechtfertigt, wenn ich den Weg des Rücktritts gemäß Art. 63 des Grundgesetzes wählen würde. (Lachen bei der SPD) Art. 63 des Grundgesetzes setzt mehrere vergebliche Wahlgänge voraus, um den Weg zu Neuwahlen zu öffnen. In der augenblicklichen Situation würde es niemanden überzeugen, wenn ein derartiges Verfahren eingeschlagen würde, um den Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages zu nötigen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)" (Plenarprotokoll 9/141 vom 17.12.1982, S. 8939 [C]). 

Bundesverfassungsgericht zur sogenannten "unechten Vertrauensfrage" 

Unter den beiden Wegen, die das Grundgesetz zu einer vorzeitigen Auflösung des Bundestages vorsieht, hatte sich Kohl für die elegantere entschieden. Sich in einer Abstimmung testieren zu lassen, formal keine Mehrheit zu finden, ist weit weniger peinlich als nach Artikel 63 GG gleich mehrfach künstlich "durchzufallen". 

Eleganz ist jedoch nur bedingt ein juristisches Argument. Beide "unechten" Vertrauensfragen – von Bundeskanzler Helmut Kohl, 1982, und seines Nachfolgers Gerhard Schröder, 2005 – hatte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu prüfen. Im Organstreitverfahren suchten 1983 vier Mitglieder des Parlaments die Feststellung, dass die Anordnung des Bundespräsidenten nach Artikel 68 GG, den Bundestag aufzulösen, sie in ihrer Rechtstellung als Abgeordnete verletze. Zum Kreis der Kläger zählte etwa der CDU-Abgeordnete Karl-Hans Lagershausen (1924–1988), dem es nicht gelungen war, aussichtsreich zur Neuwahl aufgestellt zu werden. Das gelang nur einem der vier. Sie führten im Verfahren unter anderem an, wie das Gericht referierte: "Die Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG erfolge nur dann gemäß der Verfassung, wenn die Vertrauensfrage aus Anlaß einer aktuellen oder drohenden Konflikts- oder Krisenlage zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit gestellt werde. Der Bundeskanzler müsse mit der Vertrauensfrage den Zweck verfolgen, eine Konfliktsituation entweder durch Wiedererlangung einer verlorenen Mehrheit oder durch Stabilisierung einer labilen Mehrheit im Parlament, im Falle ihrer Verneinung womöglich auf dem Wege über Neuwahlen, zu bewältigen (sogenannte echte Vertrauensfrage). Art. 68 GG meine mithin nicht einen Antrag, den ein von einer Parlamentsmehrheit getragener Bundeskanzler in Übereinstimmung mit dieser Mehrheit allein zu dem Zweck stelle, durch die Auflösung des Bundestages Neuwahlen herbeizuführen (sogenannte unechte Vertrauensfrage)." 

Die "unechte Vertrauensfrage" werde auch nicht durch einen Verfassungswandel etwa dahin gerechtfertigt, dass eine plebiszitäre "Legitimation durch den Wähler" gesucht werden müsse. 

Wie kann man höchsten politischen Entscheidungswillen überhaupt richterlich prüfen? 

Die Bundesregierung führte unter anderem an, dass der Begriff des "Vertrauens" nicht moralisch überfrachtet werden dürfe. Es gehe nicht primär um das Vertrauen in die Person des Bundeskanzlers, sondern um die Suche nach einer "Regierungsprogrammmehrheit", die nicht allein durch die Addition der Mitglieder der Regierungsfraktionen zu ermitteln sei. Weil sich CDU/CSU und FDP im Herbst 1982 nur zu einem begrenzten Programm erster Maßnahmen zusammengefunden hätten, könne sich die Bundesregierung nicht sicher sein, darüber hinaus noch eine Regierungsprogrammmehrheit zu haben. 

Das Bundesverfassungsgericht entschied mit Urteil vom 16. Februar 1983 gegen die vier Abgeordneten und begründete dies unter anderem mit einem nicht gänzlich, aber in der Tendenz formalen Begriff des Vertrauens. Vertrauen sei nur die "die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers, mithin die förmliche Kundgabe der Bereitschaft, das zumindest in Umrissen vorgezeichnete Regierungsprogramm oder ein konkretes Verhalten, mit dem der Bundeskanzler die Vertrauensfrage verbindet, grundsätzlich zu unterstützen" (BVerfG, Urt. 16.02.1983, Az. 2 BvE 1/83). 

Gut zwei Jahrzehnte später erklärte das Bundesverfassungsgericht, nach der unechten Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder, welche Probleme ihm die Prüfung politischer Gestaltungsmehrheiten bereiten würde: "Eine Erosion und der nicht offen gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und feststellen. Was im politischen Prozess in legitimer Weise nicht offen ausgetragen wird, muss unter den Bedingungen des politischen Wettbewerbs auch gegenüber anderen Verfassungsorganen nicht vollständig offenbart werden" (BVerfG, Urt. v. 25.08.2005, Az. 2 BvE 4/05, Ls. 4b). 

Politisches Vertrauen ist ein prekäres Gut 

Seit der ersten "unechten" Vertrauensfrage, mit der Bundeskanzler Kohl am 17. Dezember 1982 den Weg zu Neuwahlen öffnete, haben sich die Bedingungen politischer Kommunikation grundlegend geändert – und damit die Bedingungen, wie Entscheidungen getroffen werden. 

Konservative Denker wie der Soziologe Arnold Gehlen (1904–1976) beklagten früh, dass das politische Tagesgeschäft im Nachkriegsdeutschland weitgehend unauffällig konsensual als Abarbeiten von Sachzwängen ablaufe und dass allein zur Bundestagswahl der eine oder andere Dissens zwischen den Parteien künstlich zur großen Entscheidungsfrage dramatisiert werde. Immerhin entstand damit im Publikum der Eindruck, dass eine Bundestagswahl eine Art Plebiszit sei, bei dem eine Entscheidung zwischen alternativen Programmparteien möglich sei. Dies durch Public-Relations-Pflege auf der Grundlage von demoskopischer Meinungsforschung zu ersetzen, kam erst mit den 1980er Jahren auf. 

In sozialen Systemen entsteht Vertrauen aber in einer Balance von Dingen, die fraglos hingenommen werden, solchen, die schon fragwürdig sind, und schließlich Dingen, die prinzipiell in Frage gestellt werden. Werden Sachverhalte, die schon fragwürdig sind und angegangen werden müssten, dem politischen Publikum nicht greifbar und verständlich als alternativ entscheidbar vorgeführt, weil sie rechtlich und sachlich zu komplex sind, also als Sachzwang abgearbeitet, verschiebt sich die öffentliche Auseinandersetzung zwangsläufig ins Prinzipielle oder – schlimmer noch – ins Persönliche. 

Vertrauen für eine "Regierungsprogrammmehrheit" zu Trivialem zu finden, wird dann parlamentarisch zu einfach, für Komplexeres bei Wahlen zu schwierig. 

Lektürehinweise: Eine tiefe Analyse, warum Vertrauen im deutschen Regierungssystem heikel werden musste, findet sich bei Florian Meinel: "Vertrauensfrage – Zur Krise des heutigen Parlamentarismus". München (Beck) 2019. Für die Lebenswirklichkeit kluge Warnungen vor Vertrauen als Prinzip gibt der Organisationssoziologe Stefan Kühl, z.B. in: "Vertrauen – Die Überschätzung eines Steuerungskonzepts" m.W.n. 

Zitiervorschlag

Provozierte Neuwahlen: . In: Legal Tribune Online, 08.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56051 (abgerufen am: 20.01.2025 )

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