Der IGH stellte in seinem Gutachten vom Donnerstag fest, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo nicht gegen geltendes Völkerrecht verstößt. Doch was sich zunächst wie eine rechtlich und politisch bedeutende Feststellung anhört, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine nur begrenzt aussagekräftige Antwort auf eine schlecht formulierte Frage. Gebar der Berg eine Maus?
Kaum ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) ist mit solcher Spannung erwartet worden. Über 25 Staaten beteiligten sich an dem Verfahren, die Medienresonanz war riesig. Am Donnerstagabend berichteten schließlich manche Agenturen: "Der IGH bestätigt die Unabhängigkeit des Kosovo". Doch so eindeutig sich diese Feststellung anhört, so falsch ist sie auch.
Grund für die Verwirrung sind Feinheiten der juristischen Sprache. Auf Betreiben Serbiens legte die Generalversammlung der Vereinten Nationen dem IGH folgende Frage zur Entscheidung vor: "Ist die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo im Einklang mit dem Völkerrecht?" (Resolution 63/3).
Beobachter machten früh deutlich, dass angesichts dieser Formulierung der IGH zunächst entscheiden muss, wie er die Frage auslegt. Wählte er eine enge Auslegung strikt nach dem Wortlaut, so müsste er sich nur mit der Frage befassen, ob die Erklärung an sich, also nur der rein verbale Akt, völkerrechtskonform ist.
Wählte er dagegen eine weite Auslegung, so müsste er sich auch den Konsequenzen der Unabhängigkeitserklärung widmen, nämlich der Frage, ob sich die Kosovaren von Serbien loslösen durften und ob das Kosovo nun ein unabhängiger Staat ist.
Was nicht geklärt wurde: Ist das Kosovo ein unabhängiger Staat geworden?
Der IGH wählte die enge Auslegung und ging den Problemen somit aus dem Weg. Mehrmals im Gutachten unterstreicht er, dass die Formulierung der Frage präzise sei und er sich daher nicht mit den rechtlichen Konsequenzen der Unabhängigkeitserklärung befassen werde. Die Frage sei gerade nicht, ob das Kosovo ein unabhängiger Staat geworden ist.
Dabei lagen hier die wesentlichen Probleme des Falls. Das Völkerrecht schützt die territoriale Integrität der Staaten und gewährt das Recht zur Sezession nur unter außergewöhnlichen Umständen. Anerkannt ist dieses Recht für Kolonialvölker sowie für unterdrückte Völker. Aber sind die Kosovaren überhaupt ein Volk? Und sind sie noch unterdrückt, obwohl Serbien ihnen weitgehende Autonomie zusicherte?
Darauf geht der IGH nicht ein. In wenigen Sätzen stellt er zunächst fest, dass weder die Praxis des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Sicherheitsrat) noch das Völkerrecht generell einseitige Unabhängigkeitserklärungen verbiete. Danach widmet er sich ausführlicher der Frage, ob die Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates eine solche Unabhängigkeitserklärung untersage.
Dies wiederum hängt davon ab, wer Urheber der Unabhängigkeitserklärung ist. Sind es die in der Resolution 1244 genannten Institutionen der Provisorischen Selbstverwaltung, so hätten sie ihre Befugnisse aus der Resolution 1244 überschritten. Denn die Vertretung in Auswärtigen Angelegenheiten obliegt alleine dem Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für das Kosovo. Ist dagegen ein anderes Gremium Urheber der Unabhängigkeitserklärung, so kann ein Verstoß gegen die Resolution 1244 gar nicht gegeben sein.
Formalia entscheiden: Wer gab die Erklärung ab?
Die Unabhängigkeitserklärung wurde am 17 Februar 2008 von 109 der 120 Mitglieder des Kosovarischen Parlaments einschließlich des Premierministers und dem Präsidenten unterzeichnet, der nicht Mitglied des Parlaments ist.
Der IGH argumentiert, dass diese die Unabhängigkeitserklärung jedoch nicht als Institutionen der Provisorischen Selbstverwaltung, sondern nach eigener Bezeichnung als die "demokratisch gewählten Vertreter unseres Volkes…" verabschiedet hätten. Die Urheber der Unabhängigkeitserklärung hätten zudem auswärtige Verpflichtungen übernommen, was nach der Resolution 1244 gerade nicht in den Zuständigkeitsbereich der Institutionen der Provisorischen Selbstverwaltung falle. Auch wurde die Erklärung nicht nach dem üblichen Verfahren des Kosovarischen Parlaments verabschiedet und dem Sondergesandten des UN-Generalsekretärs für das Kosovo zugeleitet.
Der IGH stellt abschließend fest, dass Dritte wie eben auch die "demokratisch gewählten Vertreter" des Volkes nicht an die Resolution 1244 gebunden seien. Somit verstoße die Unabhängigkeitserklärung weder gegen generelles Völkerrecht noch gegen die Resolution 1244.
Was vom Gutachten übrig blieb
Sicherlich wird das Gutachten trotz seiner begrenzten Aussagekraft umstritten sein. Der deutsche Richter am IGH Bruno Simma machte in seinem Sondervotum bereits deutlich, dass nicht alles, was völkerrechtlich nicht verboten, auch erlaubt sei.
Auch lässt sich vortrefflich darüber streiten, in welcher Funktion die Mitglieder des Kosovarischen Parlaments, der Premierminister und der Präsident die Unabhängigkeitserklärung verabschiedeten, ob also doch als Teil der Provisorischen Selbstverwaltung, so dass ein Verstoß gegen die Resolution 1244 vorläge.
Vor allem bleibt aber festzustellen, dass der IGH die Chance hatte, Grundlegendes zur Reichweite des Selbstbestimmungsrechts der Völker, zum Recht auf Sezession und zum Status des Kosovo zu äußern. Er hat diese Chance nicht genutzt. Die Frage, ob das Kosovo ein unabhängiger Staat geworden ist, bleibt somit unbeantwortet. Dies ist vor allem der zu eng formulierten Frage und der Zurückhaltung des IGH geschuldet.
Vielleicht wäre aber zu viel vom IGH verlangt, dass er lösen solle, was die Politik nicht einvernehmlich zu lösen vermochte.
Der Autor Przemyslaw Nick Roguski, Mag. Iur. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Internationales Wirtschaftsrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Przemyslaw Roguski, Unabhängigkeitserklärung des Kosovo: . In: Legal Tribune Online, 23.07.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1052 (abgerufen am: 04.12.2024 )
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