UN-Tribunal-Prozess gegen Rote-Khmer-Anführer: Das letzte Urteil gegen "Bruder Nr. 2" von Kam­bod­scha?

von Malte Stedtnitz

15.11.2018

Am Freitag wird in Kambodscha das zweite Urteil gegen zwei ehemalige Anführer der Roten Khmer gesprochen. Sie waren bereits 2014 zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Nicht die einzige Besonderheit des Prozesses, erklärt Malte Stedtnitz.

Das Rote-Khmer-Tribunal in Phnom Penh, Kambodscha, hat schon so einiges aushalten müssen: Vorwürfe politischer Einmischung, ständige Finanzmittelknappheit und das Versterben von hochbetagten Beschuldigten. Die Zeit läuft gegen die juristische Aufarbeitung.  Da ist es eine gute Nachricht, dass die zwei verbleibenden Angeklagten im Verfahren 002/02, der 87-jährige Khieu Samphan und der 92-jährige Nuon Chea, noch immer gesund und verhandlungsfähig sind. Am Freitag wird das Gericht sein Urteil gegen die beiden Männer verkünden.

Khieu Samphan und Nuon Chea sind die ranghöchsten noch lebenden Führungspersönlichkeiten der Roten Khmer. Deren politischer und militärischer Anführer, Pol Pot, starb bereits 1998. Gleich nach ihm in der Hierarchie stand Nuon Chea, der als "Bruder Nummer zwei" bekannt war. Khieu Samphan seinerseits war Staatsoberhaupt des "Demokratischen Kampuchea", wie die Roten Khmer das Land unter ihrer Führung nannten.

Es geht um die Jahre zwischen 1975 und 1979. In dieser Zeit hatte der radikale Agrar-Kommunismus der Roten Khmer das Land an den Abgrund des Ruins gebracht. Bis zu zwei Millionen Menschen starben. Die Städte wurden zwangsweise evakuiert, die Bevölkerung musste auf Reisfeldern oder in Infrastrukturprojekten Zwangsarbeit leisten. Gegner des Regimes – oder wen man dafür hielt – wurden gefoltert und hingerichtet.

Der lange Weg zur Gerechtigkeit

Es dauerte lange bevor an eine gerichtliche Aufarbeitung der Geschehnisse überhaupt zu denken war. Zunächst musste das Land wieder aufgebaut werden. Die Roten Khmer waren zwar 1979 von vietnamesischen Truppen aus der Hauptstadt vertrieben worden, doch bis in die 1990er Jahren hatten sie noch Gebiete an der Grenze zu Thailand unter ihrer Kontrolle. Erst 1997 wandte sich die kambodschanische Regierung an die Vereinten Nationen und bat um Unterstützung bei der Aufarbeitung des Regimes.

Erst neun Jahre später nahm das Tribunal im Jahr 2006 seine Arbeit auf. Grund für die Verzögerung waren zähe Verhandlungen über die Frage, wie es aufgebaut werden sollte. Die UN sträubte sich zunächst gegen eine Beteiligung von kambodschanischen Richtern, da das Justizsystem im Land als korrupt und dem Willen des Premierministers, Hun Sen, unterworfen gilt. Schließlich kam es zu einem Kompromiss, der ein Hybrid-Tribunal unter Beteiligung von sowohl internationalem als auch nationalem Personal vorsah.

Eine Vielzahl teils komplexer Regeln im Statut des Gerichts sollte eine Einflussnahme auf das Verfahren verhindern. So bedarf jede gerichtliche Entscheidung der Stimme mindestens eines der internationalen Richter.  Die Anklagebehörde und die Behörde der Untersuchungsrichter sind aufgeteilt in einen internationalen und einen kambodschanischen Zweig. Eine Vorverfahrenskammer soll bei Uneinigkeiten als Schlichtungsinstanz agieren. Die Folge der komplizierten Arbeitsweise, über teils erhebliche Sprachbarrieren hinweg, sind indes häufige Uneinigkeiten zwischen internationalen und nationalen Richtern.

Eine Anklage, aber zwei Hauptverfahren

Die Anklage des aktuellen Verfahrens, offiziell "Closing Order" genannt, datiert bereits von 2010. Damals saßen noch zwei weitere Personen auf der Anklagebank, jedoch sind Ieng Sary, "Bruder Nummer drei" unter den Roten Khmer, und seine Frau Ieng Thirith, die ehemalige Sozialministerin, mittlerweile verstorben. Angesichts des hohen Alters der Beschuldigten teilte das Gericht die Anklage auf, um wenigstens einen Teil der Punkte noch zu Lebzeiten zu einem Urteil zu bringen. In mehreren "Mini-Prozessen" sollten sie nacheinander verhandelt werden – ein einzigartiger Vorgang in der Völkerstrafjustiz.

Der erste Prozess, Verfahren 002/01 genannt, behandelte die Zwangsumsiedlungen, während derer zehntausende Menschen an Hunger, Erschöpfung sowie durch gezielte Hinrichtungen gestorben waren. Er endete 2014 mit einer Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe , die 2016 von der Rechtsmittelinstanz bestätigt wurde. Die Mehrheit der Anklagepunk-te wurde allerdings aufgespart für das zweite Verfahren, genannt Verfahren 002/02. In diesem geht es nun um die Kernelemente der Herrschaft der Roten Khmer: Zwangsarbeit, Folter, außergerichtliche Tötungen und Zwangsheiraten sind nur einige der Vorwürfe.

Die Trennung der Verfahren brachte indes eine Vielzahl juristischer Fragen mit sich. Zunächst: Warum überhaupt ein weiterer Prozess, wenn die Angeklagten doch schon zu lebenslanger Haft verurteilt worden sind? Und außerdem: Sind die Richter nicht befangen, wenn sie nun zum zweiten Mal über diejenigen Angeklagten zu befinden haben, die sie schon vorher zu lebenslanger Haft verurteilt haben? So sah es zumindest die Verteidigung beider Angeklagten und stellte – erfolglos – Befangenheitsanträge gegen diejenigen Richter, die schon im Verfahren 002/01 beteiligt waren.

Zwangsheiraten für Rote-Khmer Nachwuchs

Und zuletzt: Welche Anklagepunkte sind wichtig genug für den ersten Prozess, wenn stets die Gefahr besteht, dass es zu einem zweiten nicht mehr kommen würde?

Der Vorwurf der Zwangsheiraten wurde zum Beispiel erst in Verfahren 002/02 behandelt. Während des Regimes wurden im ganzen Land Männer und Frauen, die einander teils kaum oder gar nicht kannten, in Massenzeremonien verheiratet. Eine Vielzahl von Opfern berichtet, dass im Anschluss Soldaten vor ihren Häusern postiert wurden, um den Vollzug der Ehe zu überwachen. So sollte Nachwuchs für die Revolution geschaffen werden.

Bereits 2008 hatte der Sondergerichtshof für Sierra Leone Zwangsheiraten als "andere unmenschliche Handlung" und damit als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet . Der dort entschiedene Fall war jedoch anders gelagert: In Sierra Leone hatten Rebellensoldaten selbst "ihre Frauen" entführt und geheiratet. Zudem müsste sich ein Verbrechen namens "Zwangsheiraten" in seinen Tatbestandsmerkmalen wohl von arrangierten Ehen unterscheiden. Denn diese werden schließlich auch heute noch mancher Orts praktiziert, ohne dass man darin ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sehen würde.

Das morgige Urteil bleibt womöglich das letzte des Tribunals. Premier Hun Sen hat sich öffentlich gegen weitere Verfahren ausgesprochen. Sein Widerstand verwundert kaum, war er doch selbst hochrangiger Khmer-Rouge-Funktionär und hat andere in Regierungspositionen gebracht. Tatsächlich kommen die Ermittlungen in den von ihm abgelehnten Verfahren 003 und 004 seit 2009 kaum voran. Zuletzt waren sich die Untersuchungsrichter uneinig über eine Anklage gegen Ao An . Nun ist die Vorverfahrenskammer am Zug. Dort sind kambodschanische Richter in der Mehrheit – eine Einigung ist kaum zu erwarten.

Malte Stedtnitz ist Master-Student an der Vrije Universiteit Amsterdam im Fach “International Crimes, Conflict and Criminology“. Von November 2017 bis April 2018 war er als Legal Intern an der Hauptverfahrenskammer des Rote-Khmer-Tribunals in Phnom Penh tätig.

Zitiervorschlag

UN-Tribunal-Prozess gegen Rote-Khmer-Anführer: Das letzte Urteil gegen "Bruder Nr. 2" von Kambodscha? . In: Legal Tribune Online, 15.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32111/ (abgerufen am: 20.04.2024 )

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