Deutschland liefert Waffen in die Ukraine – und beteiligt sich an der Ausbildung ukrainischer Soldaten auf deutschen US-Stützpunkten. Das macht die Bundesrepublik aber nicht zur Konfliktpartei, erklärt Philipp Dürr.
Russland eskaliert im Angriffskrieg gegen die Ukraine mehr und mehr. Derweil hat der Bundeskanzler eine Zeitenwende deutscher Außen- und Sicherheitspolitik angekündigt. Durch die Lieferung militärischer Waffensysteme in die Ukraine nach öffentlichem, auch innerkoalitionärem, Druck hat die Bundesregierung mittlerweile mit der Umsetzung begonnen.
Dabei treibt nicht wenige Bürger:innen Deutschlands die Sorge um eine mögliche Kriegsbeteiligung Deutschlands. Insbesondere die unglückliche mediale Darstellung und Verbreitung eines Nebensatzes in einem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes (WD) des Bundestags hat zu weiterer Verunsicherung geführt: Demnach stehe eine Kriegsbeteiligung Deutschlands durch die Ausbildung ukrainischer Soldaten auf deutschem Staatsgebiet im Raum. Doch ist dies überhaupt zutreffend? Welche rechtlichen Folgen hätte der Status als "Konflikt-" bzw. "Kriegspartei" für Deutschland?
Ausnahmen vom Gewaltverbot der UN-Charta
Grundsätzlich gilt das Gewaltverbot nach Art. 2 Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta). Diese zentrale Norm des Friedens- und Sicherheitsrechts verbietet Staaten die Gewaltanwendung gegen andere Staaten. Lediglich ausnahmsweise ist die Gewaltanwendung gestattet und damit rechtmäßig, nämlich bei einer Feststellung durch den UN-Sicherheitsrat oder einem Angriff eines Staates auf einen anderen Staat. Dann greift das Selbstverteidigungsrecht, welches in Art. 51 der UN-Charta verbrieft ist.
Die erste Ausnahme ist am Veto Russlands als ständigem Mitglied im UN-Sicherheitsrat gescheitert. Die zweite gibt Staaten das Recht, sich gegen den Aggressor auch mit Gewalt zur Wehr zu setzen. Dabei dürfen sie allein gegen den Aggressor kämpfen (individuelle Selbstverteidigung) oder sich gemeinsam mit anderen Staaten verteidigen (kollektive Selbstverteidigung). Die helfenden Staaten handeln völkerrechtskonform, wenngleich sie durch die aktive und unmittelbare Teilnahme an Konflikthandlungen den völkerrechtlichen Status einer "Konfliktpartei" (co-belligerent) einnehmen.
Ukraine und Russland als alleinige Konfliktparteien
Bisher unterstützt Deutschland mit seinen westlichen Verbündeten die Ukraine auf vielfältige Weise: Neben humanitärer Hilfe für geflüchtete Personen und der Bereitstellung medizinischer Güter werden mittlerweile auch schwere Waffen an die Ukraine geliefert. Damit unterstützt Deutschland die Ukraine im Konflikt, ohne selbst aktiv an den Kampfhandlungen teilzunehmen. Das macht allein die Ukraine. Sie handelt innerhalb ihres individuellen Selbstverteidigungsrechts und ist neben Russland die einzige Konfliktpartei.
Denn auch die westliche Parteinahme für die Ukraine ändert daran nichts. Eine völkerrechtliche Pflicht zur Neutralität besteht nicht, wie bereits detailreich dargelegt wurde. Staaten dürfen sich auf die Seite des angegriffenen Staates stellen, ohne direkt zur "Konfliktpartei" zu werden. Alles andere "wäre ein Bruch mit der Logik der legitimen Selbstverteidigung, wenn die Unterstützung mit militärischen Lieferungen nur um den Preis eines Kriegseintritts zu leisten wäre", wie Matthias Herdegen unlängst klargestellt hat (GSZ-Sonderausgabe 2022).
Dabei ist rechtlich nicht nur gleichgültig, welche Art von Waffen geliefert wird. Es kann – anders als im eingangs zitierten Gutachten angeklungen – auch nicht vom Umfang der Einweisung in diese Waffensysteme auf eine Stellung als Konfliktpartei geschlossen werden.
Aktive und unmittelbare Teilnahme an Kampfhandlungen entscheidend
Die entscheidende völkerrechtliche Schwelle ist die aktive und unmittelbare Teilnahme an Konflikthandlungen, die einem Staat zuzurechnen ist. Sollten sich also gegenwärtig vereinzelt deutsche Privatpersonen den ukrainischen Streitkräften als Kämpfer angeschlossen haben, wie dies etwa einige britische Soldaten getan haben sollen, liegt auch hierin keine aktive und unmittelbare Teilnahme an Konflikthandlungen, die Deutschland zugerechnet werden könnte.
Das WD-Gutachten bezieht sich in einer Fußnote auf die folgende Aussage von Herrn Professor Pierre Thielbörger in einem Interview mit der NZZ: "Anders könnte es sein, wenn es eine Beratungsleistung gibt, wie Waffen zu gebrauchen sind. Aber auch hier bleibt die Betrachtung des Einzelfalls ausschlaggebend."* Inwiefern die Kombination von Waffenlieferungen und Ausbildung einer aktiven Teilnahme an Kampfhandlungen gleichzusetzen sein soll, bleibt angesichts der knappen und relativierenden Aussage unklar. Auch bisherige Waffenlieferungen haben Instruktionen in Form von Bedienungsanleitungen und übersetzten Video-Tutorials enthalten.
Eine belastbare Grenzziehung im Falle der Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland erscheint mangels weitergehender Eskalation gewagt und mit Blick auf die Staatenpraxis wenig stichhaltig. Solange allein ukrainische Streitkräfte die aktiven und unmittelbaren Kampfhandlungen ausführen, wird Deutschland als Waffenzulieferer und Ausbilder fernab der Ukraine keine Konfliktpartei.
Kollektive Selbstverteidigung macht Deutschland zur Konfliktpartei
Zur Konfliktpartei könnte Deutschland nur in zwei Szenarien werden. Im ersten Fall aus eigener Entscheidung, wenn man den Boden der Unterstützung der individuellen Selbstverteidigung der Ukraine verlässt und mit regulären deutschen Streitkräften an Kampfhandlungen teilnimmt. Damit würde Deutschland den Bereich der kollektiven Selbstverteidigung betreten. Kampfhandlungen auf ukrainischem Staatsgebiet haben die Bundesregierung und die übrigen Verbündeten jedoch ausgeschlossen.
Selbiges gilt auch bei einer weiteren Eskalation Russlands gegenüber anderen Drittstaaten – womöglich sogar NATO/EU-Partnern –, die zu einem Eintritt des NATO- bzw. EU-Bündnisfalls führen könnte. Auch dann würde Deutschland bei militärischen Kampfhandlungen im Rahmen der kollektiven Selbstverteidigung völkerrechtskonform handeln.
Auch bei Angriff Russlands auf Deutschland wird Bundesrepublik zur Konfliktpartei
Das zweite Szenario zeigt die ganze Krux der Situation und womöglich auch den Geburtsfehler der aktuellen Debatte, die sich am Begriff "Konfliktpartei" aufhängt und dort stehenbleibt: Wenn Putin Deutschland angreifen möchte und dies tut, wird die Bundesrepublik ebenfalls zur Konfliktpartei – ob sie will oder nicht.
Dieser Status hat jedoch – anders als an anderer Stelle angedacht – keine Auswirkungen für die Geltung des Gewaltverbots. Auch wenn Deutschland Konfliktpartei ist, bleiben russische Militärschläge gegenüber Deutschland nach der UN-Charta verboten und stellen ein Verbrechen der Aggression dar. Dieses darf mit militärischer Gewalt bekämpft und auch völkerstrafrechtlich verfolgt werden.
Der Status der "Konfliktpartei" führt folglich in keinem der beiden Szenarien dazu, dass Russland etwa Berlin angreifen dürfte. Im Kriegsfall gelten insbesondere die Regeln des humanitären Völkerrechts (ius in bello), die die Art und Weise der Kriegsführung betreffen.
Russland kann sich nicht auf Ausnahmen vom Gewaltverbot berufen
Eindeutig davon abzugrenzen ist aber das Recht zum Krieg, also das "Ob" der Kriegsführung (ius ad bellum). Diese Frage richtet sich nach den Ausnahmen vom Gewaltverbot. Auf diese kann sich der Aggressor gerade nicht berufen, wenn die anderen Staaten im Rahmen der erlaubten kollektiven Selbstverteidigung gegen ihn vorgehen. Russland darf auch dann andere Staaten nicht angreifen, wenn deren Soldaten die Ukraine bei ihrer Verteidigung gegen die russische Aggression im Kampfeinsatz unterstützen. Nur der angegriffene Staat und seine Verbündeten haben das Recht zu militärischer Gewaltanwendung.
So viel zur völkerrechtlichen Theorie, die faktische Realität ist eine andere: Da sich Russland mit seinem brutalen Angriffskrieg längst vom Völkerrecht losgesagt hat, sind normative Kategorien kein Garant für Sicherheit. Es wäre töricht, anzunehmen, Putin säße mit einem völkerrechtlichen Handbuch im Kreml und würde bei der kleinstmöglichen Überschreitung rechtlicher Regeln zu einer Eskalation des Konflikts gereizt.
Für die Frage, ob Putin andere Staaten angreifen wird, gelten Maßstäbe, über die lediglich spekuliert werden kann. Ihm aber ein Denken in völkerrechtlichen Bahnen zu unterstellen, kann wohlmeinend nur als "naiv" angesehen werden. Dennoch ist wichtig, dass die Sprache des (Völker-) Rechts öffentlich vernehmbar ist. Eine künftige Weltordnung, die weiterhin durch das Recht und gerade nicht durch das Recht des Stärkeren geprägt sein soll, braucht lautstarke Fürsprecher, die im Fall der Fälle bereit sind, diese Ordnung zu verteidigen.
Philipp Dürr ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht der Rheinischen Friedrichs-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Völker- und Staatsrecht, insbesondere in den Bereichen des internationalen Wirtschaftsrechts, des kollektiven Sicherheitsrechts sowie des Außen- und Wehrverfassungsrechts.
*Zitat eingefügt am 05.05.2022, 16:20 (Red.).
Unterstützung im Ukraine-Krieg: . In: Legal Tribune Online, 05.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48348 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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