Seit zwei Wochen herrscht Krieg in der Ukraine. Das Völkerrecht scheint ohnmächtig – aber die internationale Gemeinschaft sieht nicht einfach zu, erklärt der Völkerrechtler Claus Kreß im Interview.
LTO: Herr Professor Kreß, seit zwei Wochen herrscht Krieg in der Ukraine, mitten in Europa, das man eigentlich für befriedet gehalten hat. Wie blicken Sie als Völkerrechtler auf die aktuelle Situation?
Prof. Dr. Claus Kreß: Wie jeder andere Bürger bin ich zutiefst bestürzt über das entsetzliche Leid, das Putin den Menschen in der Ukraine zufügt. Dies ist ein fundamentaler Angriff, nicht nur auf einen souveränen Staat, sondern auf die Völkerrechtsordnung insgesamt! Aber zugleich nehme ich wahr, dass die internationale Gemeinschaft nicht vor dem Aggressor zurückweicht. Die Welt schließt sich gerade vielmehr in ihrer großen Mehrheit zusammen, um solidarisch mit der Ukraine zu sein und um die Geltung der Völkerrechtsordnung zu bekräftigen. Wenn diese große Mehrheit entschieden Kurs hält und sich dabei auch zu eigenen wirtschaftlichen Opfern bereit zeigt, dann wird nicht nur der Ukraine in ihrer elementaren Not Hilfe zuteil, sondern dann kann Putin auch die Völkerrechtsordnung insgesamt weder zerstören noch in ihren Grundfesten schwächen.
Woraus schließen Sie das?
Ganz wichtig war erstens die schnelle und klare Verurteilung Russlands als Aggressor durch die UNO-Generalversammlung. Zentral sind zweitens die sehr weitreichenden Sanktionen, mit denen eine sehr große Zahl von Staaten auf den russischen Bruch des Völkerrechts reagiert. Und dann kämpft die Ukraine gerade nicht nur mit ihren Soldaten bewundernswert tapfer, sondern auch mit ihren Juristen – und zieht mit ihnen vor internationale Gerichtshöfe.
Die Ukraine hat den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und den Internationalen Gerichtshof (IGH) angerufen. Mitten im Krieg setzt die ukrainische Regierung also auf zwei Gerichte, die keinerlei Gewalt haben, ihre Entscheidungen durchzusetzen. Warum?
Zu den elementaren Aufgaben des Völkerrechts zählt der Schutz der schwächeren Staaten vor fremder Aggression. Diesen Schutz macht die Ukraine nun geltend. Ja, es gibt keine Vollstreckungsgewalt, eine sofort sichtbare Wirkung darf man nicht erwarten. Aber man unterschätze nicht die symbolische Ebene: Putin argumentiert auch mit dem Völkerrecht, manipuliert dieses dabei allerdings skrupellos, auch gestützt auf ein falsches Tatsachennarrativ. Die UNO-Generalversammlung hat sich dem mit großer Mehrheit entgegengestellt. Zur Frage von Recht und Unrecht haben Feststellungen internationaler Gerichtshöfe indessen am Ende das größte Gewicht.
Die Ukraine ist seit dem völkerrechtswidrigen russischen Gewalteinsatz auf der Krim 2014 in einer Situation, in der ein Teil ihres Staatsgebietes völkerrechtswidrig besetzt ist. Ukrainische Juristen haben schon vor Jahren begonnen, völkerrechtlichen Schutz zu mobilisieren; sie waren vielleicht auch deshalb jetzt gut vorbereitet.
"Es ist bemerkenswert, dass der EGMR zu Kampfhandlungen Stellung bezieht – anders als noch im Georgien-Krieg"
Der EGMR hat bereits eine erste Entscheidung getroffen. Was bedeutet das?
Es geht hier um einstweiligen Rechtsschutz, noch nicht um eine abschließende Entscheidung. Der EGMR hat tatsächlich in einem Eilverfahren eine vorläufige Maßnahme des Inhalts erlassen, Russland solle Angriffe auf Zivilisten und zivile Ziele unterlassen. Das ist einerseits eng. Denn damit verlangt das Gericht von Russland – durch das Einfallstor der Menschenrechte – im Kern nur, das diesen Staat bindende humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Andererseits ist es höchst bemerkenswert, dass der EGMR überhaupt zu dieser einstweiligen Anordnung gekommen ist. Denn zuvor hatte er sich auf den Standpunkt gestellt, dass aktive Kampfhandlungen auf fremdem Staatsgebiet nicht in seine Zuständigkeit fielen. Noch vor einem Jahr hat der EGMR mit Blick auf den Krieg in Georgien 2008 erklärt, für die Zeit während der Kampfhandlungen könne Russland nicht für Menschenrechtsverstöße verantwortlich gemacht werden.
Kann der IGH Russland auffordern, alle Kampfhandlungen einzustellen?
Auch beim IGH ist die Zuständigkeitsfrage zentral. Diese folgt im zwischenstaatlichen Streitverfahren dem Konsensprinzip. Der Gerichtshof kann hiernach nur insoweit urteilen, als beide Streitparteien seine Zuständigkeit anerkannt haben. Die Ukraine beruft sich auf die Zuständigkeitsklausel in Artikel IX der Völkermordkonvention von 1948. Sie begehrt im Kern die Feststellung, dass der russische Völkermordvorwurf gegenüber der Ukraine unhaltbar ist, also der Vorwurf, den Putin bei der "Rechtfertigung" seines Angriffs zunächst in den Vordergrund gestellt hat. In der Verhandlung Anfang dieser Woche hat die Ukraine im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt, der Gerichtshof möge Russland im Wege einer vorläufigen Maßnahme die Fortführung seines Angriffs insgesamt untersagen. Erließe der IGH eine solche Anordnung, so ginge diese deutlich über die Entscheidung des EGMR hinaus.
"39 Staaten forderten den IStGH auf, zu ermitteln – das war einmalig"
Außerdem hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) Ermittlungen wegen etwaiger Kriegsverbrechen aufgenommen. Wie kam es dazu?
Die Anfänge dieses Verfahrens liegen schon Jahre zurück. Den Hintergrund bilden die Besetzung der Krim und der Konflikt in der Ostukraine. Weder Russland noch die Ukraine sind Vertragsstaaten des IStGH-Statuts. Aber der Gründungsvertrag gibt auch Nicht-Vertragsstaaten die Möglichkeit, die Zuständigkeit des IStGH zu eröffnen, indem sie eine Unterwerfungserklärung abgeben. Das hat die Ukraine bereits vor Jahren getan, und die seinerzeitige Anklägerin war im Ergebnis ihrer Vorermittlungen zu der Feststellung gelangt, die Verdachtsmomente zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtfertigten die Aufnahme eines förmlichen Ermittlungsverfahrens. So hatte der amtierende Ankläger Karim Khan zu prüfen, ob er eine Vorverfahrenskammer des Gerichts mit einem entsprechenden Antrag befasst – denn immer, wenn der Ankläger aus eigenem Antrieb handelt, muss eine Kammer die Aufnahme eines solchen Verfahrens erlauben. In diese Prüfung platzte der Angriff auf die Ukraine, und es kam zu einem in der Geschichte des IStGH einmaligen Ereignis: 39 Vertragsstaaten haben den Ankläger aufgefordert, tätig zu werden. Dies hat es dem Ankläger erlaubt, das förmliche Ermittlungsverfahren in der Situation der Ukraine ohne richterliche Autorisierung zu eröffnen.
Wie geht es in dem Verfahren jetzt weiter?
Der IStGH unterscheidet zwischen einer "Situation" und einem "Fall" – bisher handelt es sich hier um eine "Situation". Das heißt, es gibt zwar den Verdacht, dass in der Ukraine Völkerstraftaten begangen wurden, aber es gibt noch keinen konkreten Beschuldigten. Die Zuständigkeit des IStGH erstreckt sich in dieser Situation auf Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Verdichtet sich der Verdacht, kann der Ankläger einen Haftbefehl gegen die betreffende Person erlassen, darüber entscheidet dann eine Kammer des Gerichts. Es wird nicht darum gehen, alle potenziellen Täter zu verfolgen, dazu reichen die leider sehr knappen Ressourcen des IStGH nicht. Die Anklagebehörde des IStGH richtet ihren Blick daher typischerweise auf die mutmaßlich hauptverantwortlichen Personen. Bei aller Empörung sollte man nun aber nicht „über Nacht“ Haftbefehle erwarten. Die Ermittler arbeiten unter schwierigsten Bedingungen und mit überhastet formulierten Haftbefehlsanträgen wäre niemandem gedient.
Der zentrale Verstoß gegen die Völkerrechtsordnung – der Angriffskrieg – liegt doch aber auf der Hand. Warum ermittelt der Ankläger des IStGH nicht wegen des Verbrechens der Aggression?
Weil die Vertragsstaaten die Bedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit über dieses Verbrechen so streng gefasst haben, dass der Ankläger dem Verdacht des Verbrechens der Aggression im Fall der russischen Aggression erst dann nachgehen kann, wenn der UN-Sicherheitsrat hierzu sein grünes Licht gibt. Das werden wir – solange Putin im Amt ist – nicht erleben.
"Ich hoffe, dass die internationale Gemeinschaft nach dem aktuellen Kriegsgeschehen mutiger sein wird"
Muss das Völkerrecht dann an dieser Stelle nicht verbessert werden?
In den vergangenen Jahren ist viel erreicht worden. 2010 haben sich die Vertragsstaaten des IStGH nach langem Ringen auf eine Definition des Verbrechens der Aggression geeinigt. Im Dezember 2017 wurde die Zuständigkeit des IStGH über dieses Verbrechen dann endlich aktiviert, und zwar mit Wirkung vom 17. Juli 2018 – nur eben mit einer enorm hohen Hürde für die Ausübung der Zuständigkeit. Man muss an dieser Stelle deutlich sagen, dass auch westliche Staaten, insbesondere Frankreich und Großbritannien, vehement dafür gestritten haben, die Zuständigkeit rigoros eng zu begrenzen. Das rächt sich nun. Ein Wort zu Russland: In Nürnberg, der Geburtsstunde des Völkerstrafrechts, stand das Verbrechen der Aggression im Zentrum, es hieß damals "Verbrechen gegen den Frieden". Dieser Begriff stammte von einem russischen Völkerrechtler. Die Sowjetunion hat damals sehr darauf gedrängt, die deutschen Verbrechen gegen den Frieden zu ahnden. Wir reden also auch beim Verbrechen der Aggression nicht von einer „westlichen Idee“, die gegen Russland in Stellung gebracht wird. Vielmehr geht es um den strafrechtlichen Schutz des völkerrechtlichen Gewaltverbots, einem „Eckstein der Völkerrechtsordnung“, so wie es der IGH formuliert hat. Für die Zukunft gilt: Die Zuständigkeit des IStGH über dieses Verbrechen darf in der internationalen Politik nicht länger beschwiegen werden. Die Vertragsstaaten, die die entsprechenden Vertragsänderungen bislang nicht ratifiziert haben, sind aufgerufen, dies nun zu tun. Die Schranken der Zuständigkeit im Hinblick auf Nichtvertragsstaaten gilt es durch eine weitere Vertragsänderung zu überwinden. Deutschland kann hier eine wichtige Rolle spielen.
Noch ist ein Ende des Krieges nicht abzusehen. Aber es wird zumindest verhandelt, wenn auch bisher weitgehend ergebnislos. Was lässt sich in solchen Verhandlungen kurzfristig erreichen?
Zunächst kann es um eine räumlich und zeitlich begrenzte Waffenruhe gehen, etwa um Zivilisten zu versorgen oder um ihre Evakuierung zu ermöglichen. Hierfür bedient sich die Krisendiplomatie unterschiedlicher Begriffe. Entscheidend ist, dass sich die Konfliktparteien an eine solche Vereinbarung halten. Andernfalls wird das im Konflikt besonders knappe Gut „Vertrauen“ weiter aufgezehrt, mit potenziell verheerenden Konsequenzen für Zivilisten. Ambitionierter ist ein Waffenstillstand, der auf ein dauerhaftes Schweigen der Waffen zielt und in unserer Zeit häufig sogar an die Stelle eines klassischen Friedensvertrags tritt. Eine Bereitschaft hierzu lässt Putin bislang nicht erkennen.
Langfristig könnte über einen neutralen Status für die Ukraine, Sicherheitsabkommen mit mehreren beteiligten Staaten und auch über einen Sonderstatus für bestimmte Gebiete gesprochen werden. Ist völkerrechtlich alles möglich, um den Konflikt zu befrieden?
Das Völkerrecht lässt Diplomaten mit sehr gutem Grund einen weiten Spielraum für kreative Verhandlungslösungen. Dabei sind Regelungen wie ein Sonderstatus für bestimmte Gebietsteile oder Bevölkerungsgruppen weder ausgeschlossen noch unüblich. Allerdings: Kein Staat darf einen neuen tatsächlichen Status, der aus einer Aggression erwachsen ist, als rechtmäßig anerkennen. Es dürfen insbesondere auch keine Verträge zu Lasten des Opfers einer Aggression ohne dessen Zustimmung geschlossen werden. Wer diesen Grundsatz missachtet, rührt an die Grundfesten der Völkerrechtsordnung.
Claus Kreß ist Professor für Straf- und Völkerrecht. Er hat den Lehrstuhl für deutsches und internationales Strafrecht an der Universität zu Köln inne und leitet dort das Institut für Friedenssicherungsrecht. Die Entstehung des Internationalen Strafgerichtshofs hat er, unter anderem als wissenschaftlicher Berater der Bundesregierung, begleitet. 2021 wurde er zum Special Adviser des Anklägers am IStGH für das Verbrechen der Aggression ernannt. In diesem Gespräch gibt er ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
Völkerrechtler Claus Kreß über den Ukraine-Krieg: . In: Legal Tribune Online, 11.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47810 (abgerufen am: 15.11.2024 )
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