Umstrittener Amnesty-Bericht zu Truppen in Wohngebieten: Die Ukraine ver­tei­digt dort, wo sie ange­griffen wird

Gastbeitrag von Simon Gauseweg

11.08.2022

In einem Bericht erhebt Amnesty International Vorwürfe gegen die Ukraine. Demnach gefährden ukrainische Soldaten mit ihrer Kampftaktik Zivilpersonen. Simon Gauseweg ordnet die Vorwürfe vor dem Hintergrund des humanitären Völkerrechts ein.

Eine Pressemitteilung von Amnesty International hat in der vergangenen Woche Aufsehen erregt: Die insgesamt ca. zehn Millionen Mitglieder zählende Menschenrechtsorganisation wirft ukrainischen Truppen vor, durch ihre Kampftaktik die Zivilbevölkerung in Gefahr zu bringen.

Die Internationale Generalsekretärin von Amnesty, Agnés Callamard, sah "ein Muster, mit dem die ukrainischen Truppen bei ihren Einsätzen aus Wohngebieten heraus die Zivilbevölkerung in Gefahr bringen und das Kriegsrecht verletzen." Und weiter: "Dass sich die Ukraine in einer Verteidigungsposition befindet, entbindet das ukrainische Militär nicht von der Pflicht, sich an humanitäres Völkerrecht zu halten."

Zu den politischen Folgen des Berichts, einschließlich der traurigen Tatsache, dass er russischer Kriegspropaganda eine Steilvorlage bietet, ist viel geschrieben worden. Der rechtliche Gehalt indes ist in der Berichterstattung nur vereinzelt behandelt worden. Das könnte daran liegen, dass die Vorwürfe Amestys gegenüber der Ukraine einen Bereich berühren, der nicht nur einen der wichtigsten, sondern auch der schwierigsten Bereiche des humanitären Völkerrechts darstellt.

Regelwerk für den Ausnahmezustand

Die Charta der Vereinten Nationen statuiert ein umfassendes Gewaltverbot mit nur wenigen, engen Ausnahmen. Dennoch nehmen es sich Staaten immer wieder heraus, ihre Interessen mittels bewaffneter Gewalt durchzusetzen. Das humanitäre Völkerrecht knüpft an diese Tatsache die Verpflichtung, auch während der Kampfhandlungen ein Mindestmaß der Menschlichkeit einzuhalten. Damit ist es gewissermaßen der "Notnagel" des Völkerrechts: Wenn das Friedenssicherungsrecht und die Mittel der friedlichen Konfliktlösung versagt haben, setzt das humanitäre Völkerrecht Regeln für einen Fall, den es eigentlich gar nicht geben sollte.

Diese Konstruktion als "Regelwerk für den Ausnahmezustand" bringt Schwierigkeiten mit sich. Zunächst nimmt es mindestens eine Konfliktpartei schon von vornherein nicht allzu genau mit den Regeln des Völkerrechts. Sonst gäbe es keinen bewaffneten Konflikt. Weiterhin dient der Krieg selbst, ganz im Clausewitz‘schen Sinne, dazu, dem Gegner den eigenen Willen aufzuzwingen. Einschränkungen und Verbote sind da aus Sicht der Kriegsparteien nur hinderlich: Die entgrenzte Gewalt ist leider oft die wirksamere.

Das humanitäre Völkerrecht muss sich, will es befolgt werden, daher auf sehr grundlegende Garantien beschränken. Insbesondere muss es den Krieg als solchen anerkennen, also akzeptieren, dass Soldaten auf Geheiß ihrer Regierung andere Soldaten bekämpfen – und töten. Zynischerweise steht das Schutzniveau der Regeln des humanitären Völkerrechts in antiproportionalem Verhältnis zum Anreiz, diese Regeln auch zu befolgen. Mit anderen Worten: Je weitgehender der vorgeschriebene Schutz, desto geringer die Motivation der Kriegführenden, ihn zu gewähren. Denn für die Kriegführenden bedeutet der Schutz Dritter eine Einschränkung der eigenen Möglichkeiten Das humanitäre Völkerrecht kann die Leiden des Krieges daher nicht verhindern, sondern nur begrenzen.

Vorsichtsmaßnahmen bei Angriff und Verteidigung

Zum Schutz der Zivilbevölkerung und auch einzelner Zivilpersonen ist "[b]ei Kriegshandlungen […] stets darauf zu achten, dass [sie] verschont bleiben", Art. 57 Abs. 1 Satz 1 Erstes Zusatzprotokoll zum Genfer Abkommen (ZP I). Und auch gegen die Wirkung von Angriffen sind Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Die kriegführenden Staaten sind gemäß Art. 58 ZP I verpflichtet, die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, um die Zivilbevölkerung, einzelne Zivilpersonen und zivile Objekte, die ihrer Herrschaft unterstehen, vor Gefahren zu schützen. 

Insbesondere sollen sie diese geschützten Personen und Objekte aus der Umgebung militärischer Ziele entfernen bzw. "es vermeiden, innerhalb oder in der Nähe dicht bevölkerter Gebiete militärische Ziele anzulegen". 

Wenn also, wie von Amnesty International kritisiert, Stützpunkte innerhalb von Wohngebieten eingerichtet wurden, die "mehrere Kilometer hinter der Front" lagen, so könnte darin in der Tat ein Verstoß gegen das Gebot des Schutzes der Zivilbevölkerung liegen. 

Ebenso verhält es sich bei Stützpunkten innerhalb von Schulen. Werden tatsächlich Krankenhäuser als Unterkunft (und nicht zur Verwundetenversorgung) genutzt, wie Amnesty International ebenfalls meldete, liegt ein Verstoß noch näher.

Notwendigkeit, Menschlichkeit und das "praktisch Mögliche"

Denn im Krieg ist erlaubt, was in den Grenzen, die die Menschlichkeit setzt, "militärisch notwendig" ist. Eine Schule, die nicht mehr als Bildungsstätte, sondern als militärische Unterkunft oder als ein Kommandoposten genutzt wird, darf bekämpft werden. Ähnlich zulässig ist es, wenn ein Krankenhaus in Mitleidenschaft gezogen wird, wenn z.B. ein in unmittelbarer Nähe eingerichtetes Munitionsdepot bekämpft wird. Gerade hieraus erklären sich die Schutzpflichten aus Art. 58 ZP I.

Diese Vorschriften stehen jedoch unter dem Vorbehalt des "praktisch Möglichen" (engl. to the maximum extent feasible). Stützpunkte innerhalb bewohnter Gebiete stehen also nicht automatisch im Widerspruch zum humanitären Völkerrecht. Entscheidend ist das damit verfolgte Ziel und ob dieses die Gefahr für die Umgebung rechtfertigt.

Zu Recht wurde der Bericht von Amnesty daher damit kritisiert, dass die Ukraine dort verteidigte, wo sie angegriffen wurde. Die Erfahrungen der vergangenen Monate legen nahe, dass eine Stadt unter russischer Besatzung für die ukrainische Zivilbevölkerung deutlich unsicherer ist als eine, die von ukrainischen Kräften gehalten wird – trotz russischen Beschusses.

Daran ändern auch einige Kilometer Entfernung zur Front nichts. Jedenfalls zu Beginn der Invasion hat Russland versucht, den Krieg gegen die Ukraine aus der Bewegung heraus zu führen. Alles im Umkreis von einer Tankfüllung um eine russische Bataillonskampfgruppe herum ist damit prinzipiell von einem plötzlichen Vorstoß bedroht. Auch Militärpräsenz in größerer Entfernung zur Front ließe sich also als "notwendig" rechtfertigen, wenn den ukrainischen Streitkräften z.B. die Möglichkeiten zu schnellerer Reaktion fehlen. Die Aufgabe einer Stellung, die nicht schnell genug wieder bezogen werden kann, um sie gegen einen Angriff wirksam zu verteidigen, ist nicht "praktisch möglich".

Zwar schreibt Amnesty, dass jeweils "tragfähige Alternativen verfügbar gewesen [seien], die keine Gefahr für die Zivilbevölkerung bedeutet hätten". Doch diese Beurteilung obliegt in einem großen Maß den Kommandeuren vor Ort, die mehr Faktoren in ihre Entscheidung einfließen lassen müssen als bloße Entfernungen: etwa Unterbringungs-, Lager- und Transportmöglichkeiten, An- und Abmarschwege oder die von der (baulichen) Umgebung gebotene Deckung.

Dünne Beleglage und zweifelhafte Wortwahl

Nach Amnestys Bericht ist nicht ausgeschlossen, dass die Ukraine gegen die Regeln des humanitären Völkerrecht verstoßen hat. Denn es trifft zu, dass Militärpräsenz die Gefahr für die Umgebung steigert. Deswegen soll sie nach Möglichkeit vermieden werden. Dass diese Möglichkeit jeweils bestand, hat Amnesty behauptet, aber noch nicht belegt.

Gleichzeitig wirft es ein zweifelhaftes Licht auf die mit dem Bericht eigentlich bezweckte Unparteilichkeit, wenn Amnesty Worte wählt, die der Ukraine eine Verantwortung für das russische Vorgehen zuschreibt. Die ukrainische Zivilbevölkerung ist unabhängig von der ukrainischen Kampftaktik in großer Gefahr. Und die russischen Streitkräfte scheinen nicht gesondert „provoziert“ werden zu müssen, um gegen sie vorzugehen.

 

Der Autor Simon Gauseweg ist akademischer Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht.

Zitiervorschlag

Umstrittener Amnesty-Bericht zu Truppen in Wohngebieten: Die Ukraine verteidigt dort, wo sie angegriffen wird . In: Legal Tribune Online, 11.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49287/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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