Überlastete Justiz: Schwarz­fahrer behin­dern Schutz vor Jugend­ge­walt

von Prof. Dr. Karsten Gaede

14.06.2011

Berliner Jugendrichter wollen nicht länger einen Großteil ihrer Arbeitszeit an Schwarzfahrer verschenken. Wie sie denken viele in der Justiz. Sollte der BGH das Fahren ohne Ticket auch künftig als Straftat werten, muss der Gesetzgeber einschreiten, damit den Jugendrichtern Luft bleibt für ihre Hauptaufgabe: Gewaltkarrieren bei Jugendlichen vorzubeugen. Von Karsten Gaede.

Wer im ICE einen Schaffner mit einem gefälschten Ticket täuscht und so die gewünschte Fahrt erlangt, begeht einen Betrug. Zu Recht sind dafür die Strafgerichte zuständig. Wer Zugangskontrollen zur S-Bahn manipuliert und dadurch frei fährt, erschleicht unbefugt eine Leistung, § 265a Strafgesetzbuch (StGB).

Das ist zwar kein Betrug. Das Verhalten geht aber über das Nichtbegleichen einer Schuld hinaus, um das sich – so ärgerlich es ist – jeder geprellte Bürger selbst kümmern muss. Zur unberechtigten Fahrt tritt ein täuschungsähnliches Verhalten hinzu. Deshalb ist wieder der Strafrichter zuständig. Soll nun aber auch strafbar sein, wer keinen Fahrschein hat und sich dennoch wie jeder andere in die S-Bahn setzt?

Diese Frage nach der Strafbarkeit der einfachen Schwarzfahrt beschäftigt Strafjuristen seit Jahrzehnten. Ein Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat jüngst bekräftigt, dass auch dieser Fall ein Erschleichen darstellt. Schließlich umgebe sich auch derjenige, der seine mangelnde Berechtigung zur Fahrt nicht offen legt, mit dem "Anschein der Ordnungsgemäßheit". Alles andere sei Rechtspolitik, die auch dem BGH als höchstem Strafgericht nicht zusteht (Beschl. v. 08.01.2009, Az. 4 StR 117/08).

"Anschein der Ordnungsgemäßheit" – ein Scheinargument

Berliner Jugendrichter begehren dagegen nun auf. Sie können wichtigere Fälle nur noch eingeschränkt bearbeiten, weil sie im Jugendstrafrecht auch zahllose Anklagen wegen § 265a StGB verhandeln müssen. Von eben diesen Jugendrichtern erwartet unsere Gesellschaft, dass sie mit ausreichender Zeit früh und genau hinsehen. Sie sollen verhindern, dass Jugendliche eine Karriere als gewaltbereite Intensivtäter antreten. Wir erhoffen uns engagierte Jugendrichter wie die verstorbene Kirsten Heisig, die nicht nur von Aktenmassen gehetzt sind. Sie sollen möglichst als Erziehungsrichter etwas von dem kompensieren, was in Familie und Gesellschaft aus dem Ruder gelaufen ist.

Wenn Jugendrichter wegen des Schwarzfahrens in einer Großstadt wie Berlin ihre Hauptaufgaben kaum noch erfüllen können, besteht Handlungsbedarf. Auch die (anderen) Strafrichter flüchten wegen der immensen Verfahrenszahlen in Deals, die dann zu einer erstaunlichen Milde bei Delikten wie Menschenhandel oder Betrug führen.

Auf mehr Richter und Staatsanwälte zu setzen wäre richtig. Es verspricht in Zeiten klammer Kassen aber keine Linderung. Helfen könnte aber schon der BGH, indem er die Grenzen des § 265a StGB beachtet. Natürlich kann Arbeitsüberlastung allein kein Grund sein, Gesetze neu auszulegen. Seit langem erkennen aber auch Richter des BGH wie Thomas Fischer an, dass der "Anschein der Ordnungsgemäßheit" ein Scheinargument ist. Er fügt der unberechtigten Fahrt tatsächlich nichts hinzu, da nur der mangelnde Fahrschein das Verhalten des zahlenden vom "schwarzen" Fahrgast unterscheidet.

Der behauptete Anschein ist eine kriminalpolitisch motivierte Fiktion der Gerichte. Eine Ausweitung des § 265a StGB behält das Grundgesetz aber dem Gesetzgeber vor. Schon jetzt verweigern Gerichte dem BGH verdeckt die Gefolgschaft. So hat zum Beispiel das OLG Frankfurt/Main die Anforderungen an den Beweis des Schwarzfahrens nun stark angehoben (Beschl. v. 20.07.2010, Az. 1 Ss 336/08). Damit will es den § 265a StGB wieder beschränken. Der BGH sollte folglich seine Auffassung überdenken.

Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche

Soweit der BGH dem nicht näher tritt, muss der Gesetzgeber handeln. Er sollte über das Jugendstrafrecht hinaus klarstellen, dass nicht schon jede nicht offen gelegte, unbefugte Fahrt ein Erschleichen ist. Schwarzfahren ist falsch! Deshalb muss es aber noch nicht strafbar sein. In ihm liegt noch nicht einmal ein halber Betrug, sondern allenfalls eine Ordnungswidrigkeit.

Nicht nur eine vermeintlich linke Ideologie rät uns dazu, das ernste Strafrecht auf die ernsten Fälle zu konzentrieren. Wir sollten gerade die Kriminalität sozial schwächerer Bevölkerungsgruppen durch unsere Kriminalpolitik keinesfalls eher schüren. Im Moment entwurzeln wir aber die Täter zum Beispiel durch Ersatzfreiheitsstrafen. Sie werden vollstreckt, weil die Täter die Geldstrafe nicht zahlen können. Erst recht packen wir damit kein Problem an der Wurzel an.

Aber wird dabei nicht übersehen, dass man die Strafbarkeit sozialschädlicher Massendelikte für das Rechtsbewusstsein unserer Gesellschaft hoch halten muss? Hält sonst nicht die Gesetzlosigkeit Einzug? Die Verkehrsbetriebe werden dies zu verhindern wissen und Kosten durch das abschreckende, erhöhte Beförderungsentgelt deckeln. Und für das Rechtsbewusstsein wäre es wesentlich wichtiger, zu wissen, dass Richter und Staatsanwälte schweren (Gewalt-)Straftaten akribisch nachgehen und mit Umsicht entgegentreten können.

Prof. Dr. Karsten Gaede ist Juniorprofessor an der Bucerius Law School in Hamburg und Autor zahlreicher Fachpublikationen zum deutschen und europäischen Straf- und Strafprozessrecht. Das Betrugsstrafrecht gehört zu seinen Schwerpunkten.

 

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Zitiervorschlag

Überlastete Justiz: . In: Legal Tribune Online, 14.06.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3496 (abgerufen am: 03.10.2024 )

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