Türkische Anwälte im Silivri-Gefängnis: "Auch Druck und Folter spielen eine Rolle"

Interview von Paula Zengerle

13.10.2025

Das Gefängnis Silivri gilt als Symbol politischer Repression in der Türkei. Dort sitzen politisch Inhaftierte ein, etwa der Istanbuler Bürgermeister und viele Juristen. Der Berliner Anwalt Yaşar Ohle hat inhaftierte Anwälte besucht. 

LTO: Herr Ohle, Sie waren im Juli in der türkischen Provinz Silivri . Was haben Sie da gemacht?

Yaşar Ohle: Ich habe als Teil einer internationalen Delegation für den Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) inhaftierte türkische Rechtsanwält:innen besucht. Dazu hatte die progressive Jurist:innenvereinigung (Çağdaş Hukukçular Derneği) Anwält:innen aus verschiedenen Ländern eingeladen. Die Idee war, den Kolleg:innen im Gefängnis unsere Solidarität zu zeigen.   

Wie ist aktuell die politische Situation für Anwält:innen in der Türkei?

Anwält:innen werden in der Türkei seit vielen Jahren systematisch in ihrer Berufsausübung behindert. So wurden etwa nach einem Angriff auf den Istanbuler Justizpalast Çağlayan im Jahr 2023 Anwaltskanzleien durchsucht und mehrere Anwält:innen festgenommen, welche die Angreifer in anderen Angelegenheiten verteidigt hatten. Auch wird derzeit ein Strafverfahren sowie ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Vorstand der Istanbuler Rechtsanwaltskammer geführt, und Anwälte vom Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu und anderen CHP-Politikern aus Istanbul befinden sich ebenfalls in Haft. Insgesamt ist der von Seiten der türkischen Regierung ausgeübte Druck gegen Anwält:innen sehr hoch.

Die Anwält:innen sitzen in Silivri ein, einem Gefängniskomplex, der als größtes Hochsicherheitsgefängnis Europas gilt. Wie ist es dort?  

Funktional, staubtrocken und groß. Der Komplex liegt rund 70 Kilometer westlich von Istanbul, abgeschieden hinter kargen Hügeln. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln dauert die Anreise rund dreieinhalb Stunden, also weit weg vom Stadtzentrum – ganz anders also als etwa zur mitten in Berlin gelegenen Justizvollzugsanstalt (JVA) in Moabit, wo ich mit dem Fahrrad in 15 Minuten bin. Der Komplex nimmt eine Fläche von inzwischen 104 Hektar ein, das Gelände ist riesig. Von außen wirkt es trist, natürlich umgeben von hohen Gefängnismauern. Dahinter sind acht flache langgezogene Hallen mit insgesamt etwa 10.000 Haftplätzen, ein Gebäude ist etwas abgelegen, da sitzen die politischen Gefangenen. Dort gibt es Zellen für maximal drei Personen, in den meisten anderen Gebäuden teilen sich zumeist sieben Personen eine Zelle.  

Silivri ist minimalistisch funktional – es wurde aber ja auch erst 2008 eröffnet. Das Gelände ist so groß, dass ein Shuttlebus zu den Haftgebäuden fährt, das hat dann plötzlich was von einem Provinzflughafen. Der Bus kommt alle halbe Stunde und klappert alle Unterkomplexe ab – da fährt man schon eine Weile herum, bis man wieder am Ausgang ist.  

"Man hat nur noch Stift, Papier und sich selbst" 

Wie liefen die Eingangskontrollen ab?

In weiten Teilen ähnlich wie in Deutschland, wenn man in eine JVA möchte: Beim Zugang zum Gelände wird man wie am Flughafen durchleuchtet, der Ausweis kontrolliert und der Name notiert. Sein Telefon muss man hier schon abgeben. Wenn man zur Haftanstalt für politische Gefangene will, muss man zusätzlich seine Tasche abgeben und – das ist anders als in Deutschland: Es wird ein Iris-Scan gemacht. 

Beim Eingang in das Gebäude selbst wird man erneut durchleuchtet und es wird wieder ein Iris-Scan gemacht, erst dann darf man durch eine Eisentür hineingehen. Dann hat man nur noch Stift, Papier und sich selbst.  

Wie ist die Atmosphäre im Besucherraum?

Für mich war sie lebendig, auch wenn der Raum natürlich trist ist. Ansonsten habe ich den Haftbesuch aber als sozialen Rahmen erlebt – Leute haben sich zugewunken.   

Durch Fensterscheiben konnte man auch in die anderen Besucherräume schauen, ich habe so aus der Distanz den türkischen Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala und den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu gesehen, der wenige Tage vor seiner geplanten Ernennung zum Präsidentschaftskandidaten der größten türkischen Oppositionspartei CHP festgenommen worden war. In Silivri sitzen mehr oder weniger alle bekannten politisch Inhaftierten. 

Vorwurf der terroristischen Propaganda 

Wen haben Sie besucht? 

Ich habe drei Kolleg:innen nacheinander treffen und sprechen können: Selçuk Kozağaçlı, Barkın Timtik und Oya Aslan. Sie arbeiten in der politisch links ausgerichteten Kanzlei Halkın Hukuk Bürosu – übersetzt das "Anwaltsbüro des Volkes". Die Kanzlei führt viele politische Verfahren und verteidigt Personen, denen terroristische Propaganda vorgeworfen wird. Das ist seit Jahren der typische Vorwurf der Regierung gegen politische Gegner, mit denen diese dann mundtot gemacht werden sollen. 

Auch gegen die Anwält:innen lautet der Kernvorwurf: "Beteiligung an der Propaganda für eine illegale Organisation". Sie haben etwa Beerdigungen für verstorbene Mandant: innen organisiert oder Presseerklärungen abgegeben, und wurden in diesem Kontext inhaftiert. Die Haftstrafen von Selçuk und Barkın sind bereits rechtskräftig, beide wurden zu mehr als zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Oya ist noch in Untersuchungshaft, aber im Falle der Rechtskraft drohen auch ihr über zehn Jahre Haft.  

Worüber haben Sie gesprochen?

Selçuk Kozağaçlı hat erzählt, dass er schon freigelassen worden war, nachdem er den wesentlichen Teil seiner Haftstrafe verbüßt hatte, doch auf Antrag der Staatsanwaltschaft am nächsten Morgen wieder eingesperrt wurde. Sogar den Wärtern sei dieses Vorgehen peinlich gewesen. Für ihn zeigt der Vorfall die Absurdität des türkischen Justizsystems und bestärkt ihn in seinem Widerstand gegen die Willkür. 

Oya Alsan hat uns von ihren Schmerzen im Arm und Rücken erzählt und von der schlechten medizinischen Versorgung. Medizinischen Rat holt sie sich auf indirektem Wege über ihren Besuch. Eine OP verweigert sie, das Misstrauen in die Gefängnisärzt:innen sei zu groß, die haben einfach keinen guten Ruf.

Yaşar Ohle

Die Kollegin Barkın Timtik erzählte, dass ihre ebenfalls Inhaftierte Schwester Ebru Timtik verstarb, nachdem sie in einem Krankenhaus zwangsernährt worden war. Ebru war in den Hungerstreikt getreten, ein in der Türkei sehr gängiges Widerstandsmittel unter politisch Inhaftierten, aber verhungert war sie zum Zeitpunkt der Zwangsbehandlung nach Aussage ihrer Schwester beim Besuch sicher nicht.   

Trotz allem hatte ich insgesamt das Gefühl, dass die Situation zwar alles andere als positiv ist, die drei aber ihren Weg gefunden haben, miteinander widerständig zu sein.   

"Es gibt ein System, das sich 'tätige Reue' nennt"

Was ist dran an den Berichten, dass politische Häftlinge gezielt gegeneinander ausgespielt würden?   

Es gibt ein System, das sich "tätige Reue" nennt: Wenn jemand gegen angebliche oder tatsächliche Mitglieder einer Organisation aussagt, bekommt die Person selbst eine Straferleichterung. So versuchen Justiz und Behörden, Belastungszeugen zu gewinnen. Per anonymisierter Videovernehmung aus der Gefängniszelle heraus sollen sie dann beispielsweise in späteren Verfahren bestätigen, ob Anwältin XY Teil dieser oder jener Organisation war. Wie viel Wahrheit in solchen Aussagen noch steckt, lässt sich erahnen.

Auch Druck und Folter spielen eine Rolle. Zwar droht nach offiziellen deutschen Berichten in türkischen Gefängnissen keine Folter, aber es können menschenrechtswidrige Haftbedingungen bestehen - oder Angehörige politischer Gruppen entsprechend zugerichtet werden. Auch wird in Deutschland in Einzelfällen immer wieder politisches Asyl unter anderem wegen drohender Folter oder ähnlicher menschenrechtswidriger Behandlung in der Türkei zuerkannt. Es hängt davon ab, wie wichtig man für den türkischen Staat ist. 

Haben Sie selbst Sorge um Repressalien durch die türkische Regierung?

Ich denke, das Risiko ist nicht hoch – aber ich kann so etwas nicht ausschließen. Kolleg:innen haben etwa berichtet, dass es in den Besucherkabinen Abhörvorrichtungen geben kann – Gespräche werden also mitunter mitgehört. Das ist natürlich ein beunruhigender Gedanke.

Mit welchem Eindruck haben Sie Silivri verlassen?   

Kolleg:innen wurden für genau die berufliche Tätigkeit, die auch ich ausübe, für viele Jahre inhaftiert. Trotzdem gehen sie mit hoher Moral und Bewusstseinsschärfe an die Situation heran. Die besuchten Anwält:innen bereiten etwa mit großer Ausdauer ihre eigene Verteidigung vor – das hat mich tief beeindruckt und in meiner eigenen Arbeit bestärkt. 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Ohle.

Yaşar Ohle studierte Rechtswissenschaften in Hamburg, Istanbul und London, seit dem Jahr 2022 arbeitet er als Rechtsanwalt bei der Kanzlei akm Rechtsanwält*innen in Berlin. Yaşar Ohle war auch am 20. Februar 2025 als Prozessbeobachter beim Verfahren gegen die Anwältin Seda Şaraldı in Istanbul anwesend und berichtete.

Zitiervorschlag

Türkische Anwälte im Silivri-Gefängnis: . In: Legal Tribune Online, 13.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58356 (abgerufen am: 07.11.2025 )

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