Wegen der Coronakrise werden in der Türkei rund 90.000 Kriminelle vorzeitig aus dem Gefängnis freikommen. Journalisten und viele Oppositionelle sind davon aber ausgenommen. Juristen halten das Gesetz für verfassungswidrig und unnötig.
Erst hieß es, die türkischen Gefängnisse seien sauber und sicher. Corona sei kein Problem für die knapp 300.000 Insassen, die zum Teil auf engstem Raum ihre Strafen absitzen. Als Justizminister Abdülhamit Gül das vor wenigen Wochen verkündete, führte das Regierungsbündnis von Erdogans islamisch-konservativer AKP und der ultranationalistischen MHP aber schon längst Gespräche mit fast allen Oppositionsparteien über einen Gesetzentwurf, der die vorzeitige Freilassung von knapp ein Drittel der Inhaftierten vorsah. Offizieller Grund: eine erhöhte Corona-Gefahr in den Haftanstalten.
Nachdem die Pandemie die Türkei zumindest nach offiziellen Angaben wochenlang verschont und es sogar geheißen hatte, dass Türken ob ihrer Genetik nicht anfällig seien für das neuartige Virus, befürchtet die Regierung nun, dass sich Covid-19 in den zu fast einem Drittel überfüllten Vollzugsanstalten rasend schnell ausbreiten könnte. "Der Staat will zeigen, dass er die Lage im Griff hat. Eine Masseninfizierung in den Gefängnissen würde nicht nur das Gesundheitssystem überfordern, sondern auch zu ernsthafter Kritik im In- und Ausland führen", sagte ein hochrangiges Mitglied der Sicherheitsdienste unter der Bedingung, anonym zu bleiben. Mit der Gesetzesänderung sei die Regierung zudem einer jahrelangen Forderung der Ultranationalisten nach einer Amnestie nachgekommen, um sich die Unterstützung des Bündnispartners für andere Vorhaben zu sichern.
"Das Strafvollzug-Reformpaket wurde schon lange vor Ausbruch der Covid-Pandemie geplant", sagt der Istanbuler Anwalt Veysel Ok, der unter anderem Deniz Yücel vertritt. Corona habe den Prozess nun beschleunigt, denn das Virus mache auch vor Haftanstalten nicht Halt. Das musste sogar Justizminister Gül am Wochenende zugeben: Drei Inhaftierte seien an den Folgen von Covid-19 gestorben, mindestens 17 weitere seien infiziert. Diese Nachricht kam im Grunde genau passend, um das umstrittene Reformgesetz zu rechtfertigen. Was nicht dazu passt: Seit etwa zwei Wochen findet in der Türkei eine neue Verhaftungswelle statt: Mehrere hundert Menschen, die sich kritisch über das Corona-Management der Regierung äußerten, wurden bereits festgenommen.
Freiheit für Drogenhändler, Mafiabosse und Sexualverbrecher?
Zwei Wochen lang diskutierten Politiker vom extrem linken bis ins extrem rechte Spektrum den Entwurf, bis er ins Parlament eingebracht wurde. Aus Sicherheitskreisen heißt es, dass es bei den Verhandlungen vor allem um Drogenhändler, Mafiabosse und zum Teil auch um Sexualverbrecher gegangen sei, die auf AKP-Wunsch unbedingt mit Hafterleichterungen berücksichtigt werden sollten. Dass schon das Konzept für einen Entwurf tagelang mit Teilen der Opposition abgestimmt wurde, ist untypisch. Es zeigt, dass die AKP die politische Verantwortung für die Freilassung mancher Tätergruppen unter den Parteien verteilen möchte. Auf diese Art kann sie im Zweifelsfall nicht allein für ihr Vorhaben vom Volk haftbar gemacht werden.
Wirklich erfolgreich waren die Verhandlungen von AKP und MHP zumindest auf den ersten Blick nicht: Die Regierung setzte sich zum Beispiel vergeblich dafür ein, dass die Vergewaltigung von Minderjährigen entkriminalisiert werde, wenn der Täter das Opfer nach der Tat heirate. "Bis zur letzten Minute haben sie versucht, es unterzubringen. Und sie werden es in einem anderen Gesetz, das sie gerade vorbereiten, wieder versuchen", schätzt Anwalt Ok.
Auf den zweiten Blick hat Erdogans Regierung nach der Parlamentsdebatte aber einiges aus dem eher harmlosen Gesetzentwurf rausgeholt. Zumindest ist er so kompliziert gestaltet, dass viele Anwälte es, wenn überhaupt, nur mit Mühe anwenden können, findet der Anwalt Murat Boduroglu, der zum Beispiel den deutschen Menschenrechtler Peter Steudtner vertritt. "Es ist zum Teil unbestimmt und hat so viele Ausnahmen und Bedingungen, dass selbst Akademiker ratlos sind." Unklare Gesetze sind stets von Vorteil für die, die die Justiz in der Hand haben. In der Türkei ist das noch zu einem Großteil der Staat.
Offener Vollzug für Mütter, Alte und Jugendliche
Insgesamt werden mit der Reform zehn Gesetze verändert, vor allem das Strafvollzugsgesetz. Bis Hafterleichterungen wie Hausarrest oder Freilassungen möglich sind, mussten die meisten Täter bisher zwei Drittel ihrer Strafe verbüßen, künftig ist es nur noch die Hälfte.
Bei vorsätzlicher Tötung bleibt es grundsätzlich bei zwei Drittel und bei Terrordelikten bei drei Viertel der Haftdauer. Bei Sexualverbrechen und Drogenhandel galt bisher, dass 75 Prozent der Strafe vollzogen werden mussten, bis eine Erleichterung möglich war. Nach der aktuellen Gesetzesänderung sind es nur noch 67 Prozent.
Viele Inhaftierte im offenen Vollzug dürfen in den kommenden Monaten ihre Strafe zu Hause absitzen. Frauen mit Kleinkindern, Schwerkranke und Menschen, die älter als 65 Jahre sind, profitieren von der Reform ebenso und können einen Teil ihrer Strafe früher als bisher unter Hausarrest verbringen. Bei Jugendlichen bis 18 Jahren gilt: Jeder Tag, den sie schon einsitzen, wird als drei Tage berechnet. Auch Schmuggler können profitieren: Wenn sie den doppelten Warenwert an den Staat zahlen, soll ihre Strafe ermäßigt werden.
Einer Vollstreckungskommission bestehend aus Staatsanwälten und Vertretern verschiedener Ministerien kann künftig darüber entscheiden, ob Menschen, die wegen Terror, vorsätzlicher Tötung, Sexualstraftaten oder Drogenhandels zu zehn oder mehr Jahren Haft verurteilt sind, einen Teil ihrer Strafe im offenen Vollzug verbüßen dürfen. Den Vorsitz hat der Oberstaatsanwalt. Die türkische Staatsanwaltschaft hat in der Türkei aber schon lange nicht mehr den Ruf, nach Recht und Gesetz zu handeln, sondern eher auf führende Gruppen in der Regierung zu hören. Das könnte ein Schlupfloch sein, um bestimmte Straftäter doch noch aus den Gefängnissen zu bekommen.
"Ein Rachegesetz nach dem Vorbild des Feindesrechts"
Bei allen Häftlingen soll außerdem in einem Abstand von sechs Monaten ein Zeugnis darüber erstellt werden, wie sie sich führen. "Diese Gutachten werden von einer Gefängniskommission erstellt, in der Anwälte oder objektive Ärzte und Psychologen aber nichts zu sagen haben", beschwert sich Anwalt Boduroglu. Er ist wie viele Anwälte unzufrieden mit dem Reformpaket. "Es ist wie ein Rachegesetz nach dem Vorbild des Feindstrafrechts!" Damit bezieht sich der Anwalt auf einen alten Begriff des deutschen Rechtsphilosophen Günther Jakobs, wonach bestimmte Gruppen von Menschen fudamentale Rechte vorenthalten werden, weil diese als Staatsfeinde gelten.
Diese Kritik teilen nicht nur zahlreiche internationale Menschenrechtsorganisationen, sondern auch Häftlinge. In einem Gefängnis in der Provinz Batman zündeten einige vor Tagen aus Protest ihre Betten an. Während nämlich sogar Totschläger auf freien Fuß kommen können, bleiben vor allem oppositionelle Politiker, Menschenrechtsaktivisten und Journalisten unberücksichtigt. Sie sitzen meistens wegen Terror-Vorwürfen ein, und die sind vom Reformgesetz ausgeklammert. In buchstäblich letzter Minute, irgendwann nach Mitternacht, wurde sogar ein Passus eingefügt, der sich auf Straftaten gegen den türkischen Sicherheitsdienst MIT bezieht.
Ursprünglich sollten auch diese Delikte von der Reform eingeschlossen sein. Dann wurden aber die Kategorien geändert und die Straftaten von der Amnestie ausgenommen. Diese kurzfristige Änderung trifft sechs Journalisten, die wegen investigativer Recherche zum MIT im Gefängnis sitzen.
Auch Untersuchungshäftlinge sind vom Reformpaket ausgenommen. Das betrifft etwa den ehemaligen Vorsitzenden der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas, oder den Kulturmäzen Osman Kavala. "Die Regierung muss endlich das Richtige tun und auch die umgehend freilassen, die dafür einsitzen, dass sie ihre friedliebenden Meinungen geäußert haben", forderte etwa Milena Buyum von Amnesty International in einem offiziellen Schreiben.
Menschenrechtler: offensichtlich verfassungswidrig und unnötig
Das Reformgesetz verstößt nach Meinung vieler Juristen gegen die türkische Verfassung. Dafür gebe es gleich mehrere Gründe, sagt Anwalt Boduroglu. "Zum einen gebietet Artikel 10, dass alle Menschen gleichbehandelt werden müssen, das gilt auch für Häftlinge. Und nach Artikel 11 sind auch alle Staatsorgane an die Verfassung gebunden. Sie dürfen die Insassen nicht nach ihren Straftaten unterschieden frei- oder sitzenlassen."
Außerdem seien diejenigen, die nicht vom Reformgesetz begünstigt werden, nach einem aus seiner Sicht unrechtmäßigen Gesetz verurteilt worden. "Was heißt denn Terror? Das ist in den entsprechenden Gesetzen so vage und ungenau beschrieben, dass alles und nichts darunterfallen kann."
Neben der massiven Ungleichbehandlung von Insassen sei das Schlimmste an der Reform aber, dass sie für viele eine massive Gesundheitsgefahr wegen Corona darstelle. Zwar werden die Gefängnisse nun leerer. Sie waren aber bis jetzt so überfüllt, dass sie selbst mit der Gesetzesänderung noch ausgelastet sein werden.
Zwar dürfen Verurteilte dem neuen Recht nach im Falle einer Epidemie auch von den Telefon- und Faxgeräten der Anstalt profitieren. Aber: "Ich kann einige Mandaten nicht mehr besuchen, das Hochsicherheitsgefängnis in Silivri bei Istanbul ist wegen der Pandemie gesperrt. Zum Teil dürfen nicht einmal Ärzte rein", beschwert sich Anwalt Boduroglu. Außerdem habe der türkische Staatspräsident Anfang April ein Dekret erlassen, wonach Gespräche mit Mandanten, die wegen Terror-Vorwürfen einsitzen, vom Staat kontrolliert werden dürften. "Es ist noch schlimmer, als es zu Zeiten des Ausnahmezustandes nach dem Putschversuch von 2016 war", resümiert der Jurist.
Rechtzeitige Abhilfe durch Verfassungsgericht fraglich
Abhilfe kann wahrscheinlich nicht einmal das Verfassungsgericht mehr schaffen: Falls das Reformpaket dort überhaupt landet, kann es Monate dauern, bis es eine Entscheidung trifft. Bis dahin sind viele längst auf freiem Fuß.
Eine große Reform wäre dabei nicht einmal nötig gewesen, findet Anwalt Boduroglu: Grobe Vorkehrungen für Haftentlassungen wegen Krankheiten werden nämlich bereits in Artikel 16 des Gesetzes mit der Nr. 5275 getroffen; aus Sicht von Anwalt Boduroglu und vieler anderer Juristen erfasst die Vorschrift auch Epidemien. "Man hätte das mit einfachen Verordnungen konkretisieren können, ohne gleich zehn Gesetze zu ändern."
Die aktuelle Gesetzesänderung betrifft seine Mandanten kaum. Er vertritt vor allem Künstler, Journalisten oder Akademiker. Dass sie nicht freikommen, ist für manche Türken gerade Grund genug, hinter vorgehaltener Hand zu spotten: Die Regierung lasse sie wohl absichtlich drin, weil sie hoffen, dass das Coronavirus sich schon um sie kümmern werde.
Anmerkung der Redaktion: Die Angaben zur türkischen Strafvollzugsreform sind nicht allgemeingültig. Sie gelten nicht pauschal für jeden Fall, da das Reformpaket sehr detailliert ist und Ausnahmen für viele Einzelfälle vorsieht.
Türkei entlässt Zehntausende Häftlinge: . In: Legal Tribune Online, 15.04.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41304 (abgerufen am: 13.10.2024 )
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