2/2: Überwachungsvideo: Kein Anspruch, das Leiden zu sehen
Die größte deutsche Boulevardzeitung aber ging noch weiter. Bild veröffentlichte zunächst ein Protokoll, dann einen Zusammenschnitt eines Überwachungsvideos, das die Gewalttat wiedergibt. Mit dem Video verstößt der Verlag gegen das Persönlichkeitsrecht der Lehramtsstudentin, deren Angehörige daher Unterlassung verlangen könnten.
Zwar mag der gesellschaftliche Umgang mit dem Drama ein zeitgeschichtliches Ereignis sein. Im Zeitpunkt der Aufnahme aber war die Abgebildete, die später den Verletzungen erlag, vollkommen unbekannt. Das Sterben eines Menschen ist zudem ein denkbar privater Moment, geschützt von der in Artikel 1 des Grundgesetzes garantierten Menschenwürdegarantie. Anders als auf die Porträtfotos von einer couragierten jungen Frau zu ihren Lebzeiten hat die Öffentlichkeit grundsätzlich keinen Anspruch darauf, sich das Leiden eines Todesopfers anzusehen.
Ob das Video einen für die Öffentlichkeit relevanten Informationswert haben könnte, welcher seine Publikation rechtfertigen könnte, kann der Autor dieser Zeilen nicht final beurteilen. Aus Respekt vor Tuğçe ist er nicht bereit, sich das Band anzusehen.
Es ist aber kaum vorstellbar, dass die Öffentlichkeit dieses Video kennen müsste. Nach dem aktuell öffentlich bekannten Sachstand gibt es kaum Zweifel an der Täterschaft des in Untersuchungshaft sitzenden Verdächtigen. Diese Prüfung obliegt zudem primär den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten, nicht der Öffentlichkeit.
Strafrechtliche Folgen und finanzielle Ansprüche
Die Staatsanwaltschaft Offenbach ermittelt nach Medieninformationen gegen Unbekannt, Das Band ist als Beweismaterial Bestandteil von strafrechtlichen Ermittlungsakten, so dass eine Veröffentlichung vor dem Prozess nach § 353d StGB strafbar ist. Das Presseprivileg aus § 193 StGB greift nicht, da insoweit keine "berechtigten Interessen" wahrgenommen werden.
Soweit Ermittlungsbeamte oder sonstige Amtsträger das Video an BILD verkauft haben, dürften sie sich der Verletzung von Dienstgeheimnissen und wegen Bestechlichkeit strafbar gemacht haben.
Eine im Presserecht übliche Geldentschädigung ("Schmerzensgeld") zur Kompensation schwerwiegender Verletzungen des Persönlichkeitsrechts würde Tuğçes Verwandten nicht zustehen. Ein solcher Anspruch ist höchstpersönlicher Natur und daher mit dem Tod der Studentin erloschen.
Sogenannte vermögenswerte Bestandteile des Persönlichkeitsrechts hingegen können auf die Erben übergehen. So besteht ein Anspruch auf Bereicherungsausgleich dann, wenn ein Persönlichkeitsrecht etwa zu Werbezwecken ausgebeutet wird. Mit dem Video hat die BILD-Zeitung immerhin ganz konkret Geld verdient, indem sie zunächst das Protokoll des Videobandes auf ihrer Webseite nur ankündigte, aber hinter eine Paywall legte. Nur diejenigen Leser, die bereit waren, dafür zu bezahlen, sollten den Beginn von Tuğçes Todeskampf sehen dürfen. Mittlerweile ist das Video frei verfügbar.
Allerdings ist ein persönlichkeitsrechtlicher Bereicherungsausgleich für eine im Grundsatz pressemäßige Nutzung zweifelhaft. Ob sich ein Verlag allgemein finanziert, oder ob er sich zynisch am Tod der Frau eigens mit einer Paywall bereichert, macht insoweit keinen Unterschied.
Ein klarer Verstoß gegen den Pressekodex
"Einen klaren Verstoß gegen den Pressekodex" sieht der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes Michael Konken in der Veröffentlichung des Films, die der Verband als respektlos verurteilte.
Schließt sich der Deutsche Presserat dieser zutreffenden Bewertung an, hat der Verlag mit einer Missbilligung oder einer Rüge zu rechnen, die er möglicherweise in der Bild- Zeitung veröffentlichen muss.
Die Identität von Opfern von Straftaten und Unglücksfällen ist nach dem Pressekodex grundsätzlich unerheblich, das Veröffentlichen ihrer Namen und Fotos erfordert die Zustimmung der Angehörigen. Gerade über sterbende Menschen soll nicht in einer Art und Weise berichtet werden, die über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgeht. Ziffer 11.3 des Pressekodex lautet am Ende: "Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden."
Der Autor Markus Kompa ist auf Urheber- und Medienrecht spezialisierter Rechtsanwalt.
Markus Kompa, Abbildung von Verbrechensopfern: . In: Legal Tribune Online, 09.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14053 (abgerufen am: 12.10.2024 )
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