Die Auflagen für die Einsichtnahme der Bundestagsabgeordneten in die TTIP-Unterlagen werden scharf kritisiert. Sebastian Roßner erklärt, wie sich juristische Versäumnisse rächen und warum sie sich im Nachhinein nur schwer beheben lassen.
Seit Anfang des Jahres dürfen die Abgeordneten des Bundestages Einblick in bestimmte Dokumente der seit 2013 laufenden Verhandlungen über das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP nehmen. Welche Positionen EU und USA zu wichtigen Fragen einnehmen, dürfen die deutschen Volksvertreter in einem gesicherten Raum im Wirtschaftsministerium begrenzt auf maximal zwei Stunden am Stück nachlesen. Ohne die Möglichkeit, Kopien anzufertigen. Selbst Text-passagen händisch abzuschreiben, ist untersagt. Angesichts der Textmenge und der Komplexität der Materie machen es diese Einschränkungen weitgehend unmöglich, die Unterlagen sinnvoll zu bewerten.
Ebenso gravierend ist, dass die Abgeordneten mit niemandem, auch nicht den eigenen Mitarbeitern, über das reden dürfen, was sie gelesen haben. Das schränkt nicht nur die Chance, politisch Einfluss zu nehmen, erheblich ein, sondern nimmt in vielen Bereichen bereits die Möglichkeit, sich eine fundierte Meinung zu bilden. Man kann von einem Abgeordneten nicht erwarten, zum Beispiel die gesundheits- oder wirtschaftspolitischen Auswirkungen bestimmter Vertragsklauseln zu beurteilen, die bestimmte Zusatzstoffe oder gentechnische Verfahren bei der Herstellung von Lebensmitteln erlauben. Dazu braucht es fachliche Beratung, ob durch die eigenen Mitarbeiter, durch Fachpolitiker der eigenen Fraktion oder durch externen Sachverstand. Die Kommunikationssperre entwertet daher weitgehend das Recht, Einblick in den Stand der TTIP-Verhandlungen zu nehmen.
Dabei ist nicht klar, aus welchen inhaltlichen Gründen die Dokumente derartig geheimhaltungsbe-dürftig sind, denn bei den Unterlagen im Wirtschaftsministerium handelt es sich um sogenannte konsolidierte Fassungen, die Textentwürfe zu einzelnen Verhandlungsgegenständen enthalten, welche beiden Verhandlungspartnern bekannt sind. Zu verhindern, dass die Parteien einander in die Karten schauen, kann also nicht Zweck der Geheimniskrämerei sein.
Problem: TTIP als "gemischtes Abkommen"
Die entscheidende rechtliche Frage ist allerdings, ob die deutschen Volksvertreter überhaupt einen Anspruch auf Einsicht in die Dokumente haben. Bei den TTIP-Verhandlungen wird die Europäische Kommission aufgrund eines Mandats tätig, das ihr der Rat im Juni 2013 nach Art. 218, 207 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) erteilt hat. Ein unmittelbarer Anspruch des Bundestags gegenüber der Kommission auf Information besteht wohl nicht. Zwar haben die Organe der EU gegenüber den Parlamenten der Mitgliedstaaten eine Informationspflicht nach Art. 12 Vertrag über die Europäische Union (EUV). Diese bezieht sich jedoch auf "Gesetzgebungsakte" und - nach der Ausführungsbestimmung, die in Art. 1 Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU (PP) enthalten ist - auf bestimmte "Konsultationsdokumente", für die Grün- und Weiß-bücher beispielhaft genannt werden. Die TTIP-Verhandlungen zielen zwar auf die Schaffung neuen Rechts, gelten aber nicht als Gesetzgebungsakte, wie Art. 2 PP klarstellt. Zudem gibt es kein gerichtliches Verfahren, mit dessen Hilfe Informationsansprüche aus Art. 12 EUV gerichtlich durchgesetzt werden könnten.
Ein Informationsanspruch des Bundestages kann sich somit nur gegen die Bundesregierung richten. Art. 23 Abs. 2 Grundgesetz (GG) verpflichtet die deutsche Regierung, das Parlament in "Angelegenheiten der Europäischen Union" zu unterrichten. Die rechtliche Einordnung von TTIP und die Kompetenzen wie die Verfahren zum Abschluss dieses Vertrages sind jedoch unklar, was auch Auswirkungen auf die Informationsansprüche des Bundestages hat. Zwar steht der Inhalt von TTIP noch nicht fest. Unterstellt man jedoch, dass TTIP ähnlich ausfallen wird, wie das bereits unterzeichnete, aber noch nicht in Kraft getretene Parallelabkommen CETA zwischen Kanada und der EU, ergibt sich folgendes Bild:
Soweit die TTIP-Verhandlungen Gegenstände betreffen, für welche die EU zuständig ist, handelt es sich um Angelegenheiten der EU im Sinne von Art. 23 Abs. 2 GG. TTIP soll darüber hinaus jedoch auch Gegenstände erfassen, die nicht in die ausdrückliche Kompetenz der EU zum Abschluss von Handelsverträgen aus Art. 207 EUV fallen, wie etwa bestimmte Bereiche des Investitionsschutzes oder der Verkehrsdienstleistungen, und die auch nicht von der impliziten Zuständigkeit nach Art. 3 Abs. 2, 216 Abs. 1 AEUV erfasst sein dürften. Bei TTIP wird es sich daher um ein sogenanntes gemischtes Abkommen handeln, das außer von den USA und der EU auch von den Mitgliedstaaten der Union geschlossen werden muss. Deutschland müsste TTIP dann nach Art. 59 Abs. 2 GG in Form eines Bundesgesetzes ratifizieren.
2/2: Auskunft über "gemischte Inhalte" nach Art. 23 Abs. 3 GG
Parallel dazu müsste auch die EU den Vertrag abschließen, wofür nach Art. 218 Abs. 5 AEUV ein Beschluss des Rates erforderlich ist. Es spricht manches dafür, dass es sich dabei um einen "Recht-setzungsakt" der Union im Sinne von Art. 23 Abs. 3 GG handelt, denn der Abschluss eines völker-rechtlichen Vertrages durch die EU ist ein Rechtsakt der Union, für den der Vorrang des EU-Rechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten gilt. Folgt man dieser Ansicht, hat die Bundesregierung eine Stellungnahme des Bundestages einzuholen, die sie bei ihrer Mitwirkung im Rat berücksichtigen muss.
Während also die die Mitwirkungsbefugnisse des Bundestages auf zweierlei Weise, nämlich nach Art. 59 Abs. 2 und Art. 23 Abs. 3 GG ausgeübt werden, richten sich seine Informationsrechte im Zeitraum während der Vertragsverhandlungen zu TTIP sowohl in dem Bereich, für den die EU sowie in demjenigen, für den Deutschland zuständig ist, wohl gleichermaßen nach Art. 23 Abs. 2 GG. Rechtlich könnte man dies daraus herleiten, dass völkerrechtliche Vertragsverhandlungen, die Or-gane der EU für die Union und die Mitgliedstaaten führen, jedenfalls dann Angelegenheit der EU im Sinne von Art. 23 Abs. 2 GG seien, wenn auch der Vertragsbereich, der für die Mitgliedstaaten verhandelt wird, in engem sachlichen Zusammenhang zu dem Bereich steht, in dem die Organe der EU für die Union selbst verhandeln.
Aber auch dann, wenn man für die Verhandlungen im Bereich der deutschen Souveränitätsrechte Art. 23 Abs. 2 GG nicht für einschlägig halten sollte, ergibt sich praktisch nichts anderes, denn es dürfte es kaum möglich sein, die Informationen zu den Verhandlungen über die eng miteinander verwobenen Vertragsgegenstände im Zuständigkeitsbereich der EU und in dem der Mitgliedstaaten voneinander zu trennen, so dass schon deshalb eine einheitliche Unterrichtung des Bundestages nach den Standards von Art. 23 Abs. 2 GG erfolgen muss.
Schwerwiegender Fehler bei TTIP-Mandatsausgestaltung
Allerdings kann der Bundestag von der Bundesregierung nur Informationen verlangen, die jener auch zur Verfügung stehen. Dies war bei den Unterlagen über die TTIP-Verhandlungen ursprünglich nicht der Fall. Mittlerweile werden sie der Bundesregierung von der EU-Kommission und den Vereinigten Staaten überlassen, und zwar anscheinend unter der Bedingung der geschilderten, restriktiven Regelung des Zugangs für die Abgeordneten des Bundestages. Diese Regelung wird zwar Art. 23 Abs. 2 GG nicht gerecht, der gerade darauf abzielt, die Volksvertretung so wirksam zu informieren, dass parlamentarische Mitwirkungsmöglichkeiten eröffnet werden. Der Bundestag wird von der Regierung aber nicht verlangen können, die Abmachungen mit EU und USA zu brechen, um eine solche effektive Information zu bieten, und zwar schon deshalb nicht, weil dann ein völliges Versiegen des Informationsstroms zu befürchten wäre.
Hingegen kann das Parlament aus dem Grundsatz der Organtreue, der die Organe des Bundes verpflichtet, zusammenzuarbeiten und aufeinander Rücksicht zu nehmen, von der Bundesregierung verlangen, auf die EU Einfluss zu nehmen, damit die Unterrichtung des Bundestages wirksamer vorgenommen werden kann. Allerdings hat die Bundesregierung vermutlich genau dies bereits getan und dabei nicht mehr erreicht, als die oben beschriebene unzureichende Regelung der Einsichtnahme in die TTIP-Unterlagen.
Der entscheidende Fehler wurde daher bereits im Juni 2013 begangen, als der Rat es unterlassen hat, in das TTIP-Verhandlungsmandat für die Europäische Kommission auch den Auftrag aufzunehmen, dafür zu sorgen, dass die nationalen Parlamente (wie übrigens auch das Europaparlament) in angemessener Weise unterrichtet würden. Dieses schwerwiegende Versäumnis lässt sich mit juristischen Mitteln nicht mehr ausgleichen, sondern nur noch im Wege politischer Gespräche mit der EU und den USA. Die politischen Pfunde, mit denen der Bundestag und die Parlamente der übrigen Mitgliedstaaten dabei wuchern könnten, sind ihre Veto-Position bei der Ratifizierung von TTIP und das Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber einem Vertragswerk von weitreichender Wirkung, das im Dunkeln verhandelt wird.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Sebastian Roßner, Bundestag tappt bei TTIP weiter im Dunkeln: In der juristischen Sackgasse . In: Legal Tribune Online, 22.02.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/18550/ (abgerufen am: 20.04.2024 )
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