Das wohl brisanteste und kontroverseste Thema im Arbeitsrecht ist die Einführung eines Gesetzes zur Tarifeinheit. Ob sich die Sorgen von Arbeitnehmern und Gewerkschaften bestätigen werden, ist zwar noch ungewiss, meint Gregor Thüsing. Ganz sicher würden hingegen die Hoffnungen der Bürger enttäuscht, die ein rasches Ende lästiger Streiks erwarten. Dringenderen Handlungsbedarf gebe es anderswo.
Das Gesetzgebungsverfahren zum Tarifeinheitsgesetz geht in die nächste Runde. Am Montag findet eine Sachverständigenanhörung im Ausschuss Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags statt, bei der auch dieser Autor sprechen wird.
Der Entwurf dient primär der Stärkung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie. Die gilt vielen als gefährdet, seit das Bundesarbeitsgericht in seinem grundlegenden Urteil vom 7. Juli 2010 (Az. 4 AZR 549/08) den Grundsatz der Tarifeinheit aufgegeben hat. Seitdem können konkurrierende Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften für ein und dieselbe Personengruppe im Betrieb gelten; eine Entsolidarisierung der Belegschaft ist die Folge. Ob sich diese Gefahr tatsächlich breitflächig realisieren wird, ist schwer zu prognostizieren. Der Gesetzgeber muss mit einer Regelung jedoch nicht warten, bis es möglicherweise zu spät ist. Er kann und sollte sein Handeln auch auf vernünftige Vermutungen stützen.
Um die Gefährdung der Tarifautonomie zu beseitigen, will Arbeitsministerin Nahles jedoch nicht zu dem Zustand zurückkehren, der vor dem BAG-Urteil galt. Stattdessen sollen Tarifkonkurrenzen mit einem neuen Mittel aufgelöst werden: dem betriebsbezogenen Mehrheitssystem.
Die aktuelle Gefahr: Wildwuchs der Kleinstgewerkschaften
Zuvor wurden Tarifpluralitäten regelmäßig nach dem Spezialitätsprinzip aufgelöst, das heißt es galt der Tarifvertrag, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und persönlich am nächsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten gerecht wird. Nun soll sich die Gewerkschaft durchsetzen, die mehr Mitglieder im Betrieb hat. Der Wert des Gesetzes liegt dabei in der Verhinderung der Herausbildung von Kleinstgewerkschaften und der Zersplitterung der Tariflandschaft.
Sollte sich zukünftig die Betriebsfeuerwehr eines chemischen Unternehmens entscheiden, eine eigene Gewerkschaft zu gründen (ggf. mit anderen Betriebsfeuerwehren), und wäre diese Gruppe dann tatsächlich eine Gewerkschaft, dann könnte sie eigennützig streikend nur für ihre wenigen Mitglieder das ganze Unternehmen lahmlegen, das ohne funktionierende Feuerwehr nicht produzieren darf. Diese Gefahr, so real sie wohl sein mag, soll verhindert werden. Das Wirken der Gewerkschaft der Flugsicherung (GDF) deutet in der Tat in diese Richtung (s. den Streik der Vorfeldlotsen in Frankfurt im Februar 2012).
Schwächen des Entwurfs: Wenn Stewardessen Piloten vertreten
Das geplante neue System kann freilich im Einzelfall zu sinnwidrigen Ergebnissen führen. So könnte eine Berufsgruppe damit von einer Gewerkschaft vertreten werden, in der sie kein einziges Mitglied hat, obwohl die konkurrierende Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wird, einen sehr hohen Organisationsgrad hat. Eine plastisches Beispiel: Sollte sich die Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO) auf Grundlage des vorliegenden Gesetzesentwurfs entscheiden, künftig auch die Piloten zu behandeln, so würde deren Cockpit-Tarifvertrag verdrängt werden, obwohl kein einziger Pilot bei UFO ist und sie ggf. alle zu 100 % bei Cockpit organisiert sind – einzig und allein deswegen, weil UFO unter Flugbegleitern einen sehr hohen Organisationsgrad hat und es sehr viel mehr Flugbegleiter als Piloten gibt.
Zudem: Statt Tarifpluralitäten im Betrieb gibt es nun solche im Unternehmen. Wenn künftig etwa die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) in einem Betrieb die Mehrheit der Arbeitnehmer organisiert, in einem anderen Betrieb aber die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), so gilt im einen Betrieb für die Lokführer der GDL-Tarifvertrag, im anderen der EVG-Tarifvertrag. Der Arbeitgeber könnte dieses Ergebnis zudem durch Versetzungen von Arbeitnehmern beeinflussen, leichter noch als durch den Zuschnitt der Betriebe, der ebenfalls in seiner Hand liegt.
Durch die Tarifeinheit wird es keinen Streik weniger geben
Auch löst der Entwurf das Problem der Häufung von Arbeitskämpfen bei konkurrierenden Gewerkschaften nicht. Um es deutlich zu sagen: Hierdurch wird es keinen Streik weniger geben. Denn der Gesetzesentwurf sagt es in seiner Begründung deutlich: "Die Regelungen zur Tarifeinheit ändern nicht das Arbeitskampfrecht". Bislang aber durfte jeder Arbeitnehmer eines Unternehmens für einen Tarifvertrag streiken, auch wenn er nicht von ihm erfasst wurde. Dies ist unbestritten, und deshalb ist gleichfalls unbestritten, dass auch Nichtorganisierte streiken dürften.
Daher könnte jeder Arbeitnehmer eines Unternehmens streiken für einen Tarifvertrag, von dem nicht ausgeschlossen ist, dass er sich später in zumindest einem Betrieb durchsetzen würde. Dies aber kann ex ante nie sicher ausgeschlossen werden. Sollte daher das Gesetz hier Streiks eindämmen wollen, müsste das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung ändern. Das ist aber nicht zu erwarten, auch weil dann viele Folgefragen auf einmal nicht mehr stimmig beantwortet werden könnten. Wer also tatsächlich eine Begrenzung des Streikrechts will, der müsste dies ausdrücklich normieren – oder sich auf vage und wohl unerfüllbare Erwartungen an die Rechtsprechung stützen.
2/2: Mehrheitlich negative Stimmen zum Entwurf
Nicht alles, was – wie dargelegt – zu sinnwidrigen Ergebnissen führt oder wichtige Probleme ungelöst lässt, ist verfassungswidrig. In dem Entwurf liegt jedoch eine strukturelle Benachteiligung von Spartengewerkschaften, die rechtfertigungsbedürftig ist, unabhängig davon, ob es sich um eine Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit handelt oder um einen Eingriff in diese. Beides dürfte kaum abgrenzbar sein: Jede Ausgestaltung ist auch eine Begrenzung, da andere Varianten der Ausgestaltung nicht gewählt wurden ("to define is to limit"). Auch bei der Ausgestaltung sind demnach die grundrechtlich geschützten Interessen der Betroffenen in einen verhältnismäßigen verfassungsrechtlichen Ausgleich zu setzen. Eine Ausgestaltung, die den Spartengewerkschaften die Luft zum Atmen nimmt, wäre ohne hinreichende Rechtfertigung auch als Ausgestaltung verfassungswidrig.
Viele sehen diese Rechtfertigung als nicht gegeben an. Zählt man die Stimmen, ohne sie zu wiegen, so sind diese klar in der Überzahl. Die Mittel, mit denen der Entwurf seine Verfassungskonformität zu sichern sucht, sind jedenfalls absurd: Ein einklagbares Recht der Minderheitsgewerkschaft, ihre Forderungen mündlich vortragen zu dürfen (§ 4 Abs. 5 des Entwurfs des Tarifvertragsgesetzes), ist genauso funktionslos, wie das Recht einer Gewerkschaft, den von ihr nicht mit beeinflussten Tarifvertrag, zu dem sie ja in Konkurrenz agiert hat, eins zu eins nachzuzeichnen (§ 4 Abs. 4 des Entwurfes). Welche Gewerkschaft, die etwas auf sich hält, würde sich auf solche Rechte berufen?
Eine Alternative: Anderer Bezugspunkt für das Mehrheitssystem
Die verfassungsrechtlichen Probleme lassen sich deutlich entschärfen, wenn man einen Weg findet, die Konkurrenzen anders aufzulösen, ohne die Spartengewerkschaften strukturell zu benachteiligen. Eine Möglichkeit wäre es, das Mehrheitssystem nicht am Betrieb ansetzen zu lassen, sondern am sich überschneidenden Bereich: Es würde sich im Bereich der Überschneidung der Tarifvertrag der Gewerkschaft durchsetzen, die in der Personengruppe, für die beide Gewerkschaften tätig geworden sind, die meisten Mitglieder hat. Weil hierin aber eine strukturelle Bevorzugung von Spartengewerkschaften liegen würde (die in Sparten tendenziell besser organisieren können), sollte im Gegenzug diese Konkurrenzregelung davon abhängig gemacht werden, dass dieser Überschneidungsbereich eine Mindestgröße der Belegschaft ausmacht, z.B. 15 %.
Damit würden die bisherigen Spartengewerkschaften in ihrem Wirken regelmäßig nicht beeinträchtigt, neue Kleinstgewerkschaften könnten sich jedoch nicht etablieren, weil sie es nicht schaffen, in einem solchen Teil der Belegschaft die Mehrheit zu organisieren. Die Werksfeuerwehr und die Vorfeldlotsten wären ein zu kleiner Teil der Belegschaft, um sich hier gegen eine Gewerkschaft durchzusetzen, die die gesamte Belegschaft repräsentiert. Dieser Ansatz wäre verfassungsrechtlich weitaus unproblematischer als der vorliegende Entwurf und würde das bisherige Gleichgewicht der Gewerkschaften deutlich weniger beeinträchtigen.
Das eigentliche Problem: Die Streiks in der Daseinsvorsorge
Auch dieser Ansatz lässt aber die Probleme des Arbeitskampfes in der Daseinsvorsorge ungelöst. Diese aber bedürfen dringend einer Lösung. Nicht die Geltung mehrerer Tarifverträge im Betrieb ist das zurzeit wohl drängendste Problem, sondern die Vielzahl und die Heftigkeit der Arbeitsniederlegungen in Unternehmen, auf deren Leistungen die Öffentlichkeit in besonderem Maße angewiesen ist. Eben hier müsste eine Regelung ansetzen. Es braucht angemessene Regeln für die Arbeitsniederlegung, die die Drittinteressen in Betrieben der Daseinsvorsorge schützen.
Hierzu gibt es an erprobten Modellen des Auslands orientierte Vorschläge. Andere Länder haben sehr wohl die Notwendigkeit des Handelns erkannt: Wer sich umschaut, der findet Rechtsordnungen mit Ankündigungspflichten, mit Wartezeiten, mit obligatorischen Schlichtungsverfahren, mit detaillierten Regelungen des Notdienstes – all das kann Modell sein. Das wesentliche Problem, dass die Streiks vor allem unbeteiligte Dritte – z.B. die Reisenden –treffen, die nichts zur Lösung des Tarifkonfliktes beitragen können, wird so gelöst oder zumindest erheblich reduziert, ohne dass kleinen Gewerkschaften ihre Verhandlungsfreiheit genommen wird. Ein solcher Ansatz ist verfassungskonform und er adressiert das eigentliche Problem.
Der Ansatz des Gesetzes ist daher zu ergänzen um Regelungen, wie sie der CSU-Vorstand in seinem Beschluss vom Januar 2015 fordert. Darin sind u.a. eine Ankündigungspflicht und ein obligatorischer Schlichtungsversuch vorgesehen. Verfassungsrechtliche Hürden bestehen hier nicht, denn der Schutz der Gemeininteressen ist legitimer Grund staatlichen Handelns. Wie so oft, so gilt auch hier: Manchmal muss man einen Schritt zurückgehen, um danach zwei Schritte voranzukommen. Der Gesetzgeber sollte nicht den Ehrgeiz haben, ein Gesetz durchzudrücken, das die Probleme nicht wirklich löst und das sich am Ende als verfassungswidrig erweisen könnte. Stattdessen heißt es: Maß halten und das Arbeitskampfrecht in der Daseinsvorsorge behutsam fortentwickeln und dort Leitplanken einziehen, die die Interessen der Allgemeinheit angemessen schützen.
Der Autor Prof. Dr. Gregor Thüsing LL.M. (Harvard) ist Leiter des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der Sozialen Sicherheit an der Universität Bonn und stellvertretender Vorsitzender der Abteilung Arbeitsrecht beim 70. Deutschen Juristentag in Hannover. Er spricht am 4. Mai 2015 in einer Anhörung des Bundestages als Sachverständiger zum geplanten Tarifeinheitsgesetz.
Prof. Dr. Gregor Thüsing, LL.M., Gesetz zur Tarifeinheit: Nicht die Lösung, die wir brauchen . In: Legal Tribune Online, 01.05.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15424/ (abgerufen am: 23.04.2024 )
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