Seit fast zwei Jahren ist die Europäische Grundrechte-Charta in Kraft. Eine Tagung des Bundeswirtschaftsministeriums bot Gelegenheit für eine erste Bilanz. Die hochrangige Diskussion war allerdings geprägt von Sorgen und Befürchtungen deutscher Verfassungsrichter gegenüber der europäischen Justiz, berichtet Christian Rath.
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU) trat am 1. Dezember 2009 gemeinsam mit dem Lissaboner Vertrag in Kraft. Sie gibt der EU erstmals einen geschriebenen und verbindlichen Grundrechtekatalog aus 54 Artikeln. "Europa ist mehr als eine Währungsunion, es ist auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft“, sagte Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) zu Beginn einer von ihm ausgerichteten Tagung über "die freiheitliche Grundordnung der EU".
Aus der Praxis am Europäischen Gerichtshof (EuGH) berichtete der deutsche EU-Richter Thomas von Danwitz. Demnach wurde die Grundrechte-Charta schon in 53 EuGH-Urteilen zitiert. Am meisten Bedeutung erlangte dabei Artikel 47, das "Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf".
Warnung vor Ausweitung der EU-Kompetenzen durch EU-Grundrechte
Formal ist die Charta nur eine von vier Quellen des EU-Grundrechtsschutzes. Nach Art. 6 EU-Vertrag müssen auch die Grundrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die "gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten" beachtet werden. Von Danwitz erklärte allerdings, dass der EuGH die Grundrechtecharta "vorrangig" anwende, um nicht für unnötige Verwirrung zu sorgen.
Die EU-Grundrechte der Charta sollen vor allem die EU-Institutionen binden. Sie gelten auch, wenn nationale Gesetzgeber EU-Recht ohne Spielraum umsetzen. Wenn jedoch nationaler Gestaltungsspielraum verbleibt, sind insofern nationale Grundrechtskataloge der Maßstab.
Nach wie vor gibt es Befürchtungen, dass der EuGH die Anwendung der EU-Grundrechte-Charta zu einer Ausweitung von EU-Kompetenzen nutzen könnte. Der Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), Hans-Jürgen Papier, erinnerte an vergleichbare Entwicklungen in Deutschland: "Die Karlsruher Grundrechte-Rechtsprechung führte zu erheblichen Zentralisierungstendenzen." Weil das BVerfG auch bei Länderdomänen wie dem Rundfunk, der Polizei und dem Glückspielrecht grundrechtliche Vorgaben machte, sei der Handlungsspielraum der Länder letztlich stark geschrumpft. Auf EU-Ebene könne sich durch die Grundrechtecharta ein ähnlicher "Unitarisierungsschub" ergeben, warnte Papier. Schließlich weise die Charta im Gegensatz zum Grundgesetz auch soziale Grundrechte auf, wie das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
EuGH-Präsident: Gerichtshof bei unmittelbarer Anwendung von Richtlinien zurückhaltend
Auf einen anderen Konfliktherd machte EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott aufmerksam. "Auch die Unionsbürgerschaft hat das Potenzial zu einer Ausweitung des Anwendungsbereichs der EU-Grundrechte." Im Urteil Ruiz-Zambrano hatte der EuGH im März entschieden, dass die Eltern eines Kindes, das qua Geburt die Staatsbürgerschaft eines EU-Staates erlangt hat, auch dann in der EU bleiben können, wenn sie vorher illegal hier lebten. Die Luxemburger Richter hatten argumentiert, dass der Kerngehalt der Unionsbürgerschaft entleert sei, wenn das Kind nicht mehr in der EU leben kann. Kokott hält das für richtig, appellierte aber an den EuGH, den Kerngehalts-Schutz bei der Unionsbürgerschaft eng auszulegen.
Verfassungsrichter Peter Michael Huber erinnerte an das in Deutschland übliche Konzept, dass sich Grundrechte grundsätzlich gegen den Staat richten und allenfalls mittelbar gegen Private. Dies werde in Staaten wie Frankreich anders gesehen, wo man Grundrechte nur als Rechtsprinzipien gegeneinander abwäge. Huber plädierte dafür, das Austarieren unterschiedlicher Grundrechtspositionen dem (nationalen) Gesetzgeber zu überlassen. Das Gesetzgebungsverfahren sei dazu besser geeignet als ad hoc-Entscheidungen von Gerichten. "Die Gesetzgebung ist auch eine formelle Sicherung individueller Freiheit", sagte Huber.
EuGH-Präsident Vassilios Skouris entgegnete den Vorhaltungen Hubers, dass EU-Recht manchmal eben ausdrücklich auf die Regelung privatrechtlicher Verhältnisse abziele. Das gelte etwa für den Satz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" oder die Antidiskriminierungs-Richtlinien. Der EuGH sei bei solchen Fragen sogar besonders zurückhaltend. Immer noch schrecke er davor zurück, nicht fristgerecht umgesetzte EU-Richtlinien, die Eingriffe in private Rechte vorsehen, für unmittelbar anwendbar zu erklären. "Dafür sollten Sie uns doch loben", so Skouris zu Huber.
Unterstützung bekam Skouris hier von Hans-Jürgen Papier: "Die Drittwirkung von Grundrechten ist kein Problem des EuGH, sondern des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)". So gehe es meist um zivilrechtliche Fragen, wenn der EGMR deutsche Rechtslagen beanstandet, etwa im Familienrecht oder beim Persönlichkeitsschutz. Wer die Grundrechtsposition von Prominenten stärke, schwäche zugleich die Rechte von Presse-Fotografen, argumentierte Papier. Er sieht in solchen Abwägungen nicht die Aufgabe des Straßburger Gerichtshofs.
Widerspruchsfreie Grundrechte-Ordnung als künftige Herausforderung
Mahnungen erhielt der EGMR auch von Verfassungsrichter Andreas Paulus. Das Straßburger Gericht könne seine Autorität nur bewahren, wenn er sich auf die Sicherung von Mindeststandards beschränke und auf eine Vollkontrolle verzichte. "Er sollte prüfen, ob bei der nationalen Abwägung alle relevanten Grundrechtspositionen berücksichtigt wurden, aber die Abwägung selbst sollte er den Vertragsstaaten überlassen", sagte Paulus. Leider konnte an der Berliner Tagung kein Vertreter des EGMR teilnehmen. Allerdings gingen einige jüngere Straßburger Entscheidungen, etwa zum Verbot der Eizellspende in Österreich, bereits in die geforderte Richtung.
Künftig wird der Grundrechtsschutz in Europa noch komplexer, weil die EU der Menschenrechtskonvention beitreten will. Derzeit wird noch über die konkreten Bedingungen verhandelt. "Die Wahrung der Kohärenz wird die eigentliche Herausforderung der kommenden Zeit sein", sagte EuGH-Richter Thomas von Danwitz. EuGH, EGMR und nationale Verfassungsgerichte müssten die verschiedenen Grundrechtssysteme zu einer "widerspruchsfreien Gesamtrechtsordnung" fortentwickeln. Verfassungsrichter Andreas Paulus stimmte zu: Im europäischen Verfassungsgerichte-Verbund gehe es weniger darum, sich gegenseitig zu kontrollieren, als aufeinander Rücksicht zu nehmen.
Der österreichische Verfassungsrichter Christoph Grabenwarter gab allerdings zu bedenken: "Die Harmonie hat auch ihren Preis". Mit der Verschleifung aller normativen Unterschiede in den Grundrechtsordnungen sinke auch die demokratische Legitimation der Gerichte und ihrer Urteile.
Zum Schluss der Diskussion wurde ein Verfassungsrichter noch ganz grundsätzlich. Ferdinand Kirchhof, der BVerfG-Vizepräsident, befürchtete, dass in der europäischen Zukunft die "ausgefeilte deutsche Grundrechtsdogmatik" und ganz allgemein der "deutsche Grundrechtsstandard" leiden wird. EuGH-Richter Thomas von Danwitz erwiderte trocken: "Deutschland hat nicht immer den höchsten Grundrechtsstandard." Auch andere Staaten seien sehr stolz auf ihre Rechtsordnungen. Der Österreicher Grabenwarter prognostizierte ein "fundamental rights shopping". Clevere Anwälte würden dort klagen, wo sie die besten Standards identifizieren und so europaweit ein hohes Niveau im Grundrechtsschutz durchsetzen.
Dr. Christian Rath ist rechtspolitischer Korrespondent verschiedener Tageszeitungen, unter anderem der taz.
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Christian Rath, Tagung zu europäischen Grundrechten: . In: Legal Tribune Online, 15.11.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4799 (abgerufen am: 14.12.2024 )
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