Der Fall Norbert Bolz verdeutlicht einmal mehr: Wenn es um NS-Codes geht, gilt ein striktes Tabu. Bei der Volksverhetzung soll Gefährlichkeit der Strafgrund sein. Manchmal schießt das Strafrecht dabei übers Ziel hinaus, sagt Tatjana Hörnle.
LTO: 2021 trat das "Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität" in Kraft, auch die neue Bundesregierung will "Hass und Hetze noch intensiver bekämpfen". Warum sehen Sie das kritisch, Frau Professorin Hörnle?
Prof. Dr. Tatjana Hörnle: Hass zu bekämpfen, ist sozialethisch natürlich ein positives Ziel. Die Frage ist aber, ob das Strafrecht das richtige Mittel ist. Ich sehe heute zunehmend einen rechtspolitischen Automatismus: Es gibt ein Problem, wir müssen etwas tun, der Staat muss etwas tun – und dann kommt unmittelbar die Forderung: Wir brauchen eine neue Strafnorm. Dieser Automatismus ist problematisch.
Sind Gewaltaufrufe, ob im Internet oder im "echten" Leben, nicht strafwürdig?
Doch, natürlich. Aber Gewaltaufrufe und "Hass und Hetze" sind zwei unterschiedliche Phänomene; das eine ist relativ klar, das andere nicht.
In manchen Kontexten liegt die Einordnung als Gewaltaufruf nahe. Wer sagt, wir sollten der Gruppe XY die Fensterscheiben einschmeißen, schafft eine Gefahrenlage. Das Strafrecht sollte dann die gefährdeten Teile der Bevölkerung schützen.
Anderes gilt, wenn die Folgen der Tat im Bereich der Emotionen bleiben, wenn also eine Äußerung für Betroffene psychisch belastend ist, aber nicht die Gefahr erhöht, Opfer von Gewaltakten zu werden.
"Das ist eigentlich ein Scheinrechtsgut"
Diese Überlegung drückt der Gesetzgeber in dem Merkmal "Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens" aus. Der öffentliche Friede soll auch geschütztes Rechtsgut der Volksverhetzung, der Leugnung oder Verharmlosung des Holocausts oder der Billigung von Straftaten sein. Was ist dieser öffentliche Friede?
Das ist eigentlich ein Scheinrechtsgut – schon Thomas Fischer hat dies in seiner Doktorarbeit kritisiert. Bei der Rechtsanwendung – oder für eine rechtspolitische Kritik an einem dieser Tatbestände – hilft diese Überlegung nicht weiter, dafür bleibt sie zu vage.
Als Tatbestandsmerkmal hat die Eignung zur Friedensstörung dagegen eine Filterfunktion: Nicht strafwürdige Fälle sollen ausgeschlossen werden. Volksverhetzung ist als Gefährdungsdelikt zu verstehen, also wäre zu fragen: Könnten die Rechte von realen Personen durch die Äußerung gefährdet sein?
Aber, so verstehe ich Thomas Fischer, empirisch messbar soll diese Gefährlichkeit nicht sein.
Nein, das wäre praktisch auch nicht umsetzbar: Der Amtsrichter oder die Amtsrichterin kann nicht in jedem solchen Verfahren ein soziologisches Gutachten in Auftrag geben.
In der Praxis reicht Plausibilität. Wenn drei Rentner auf einer Wanderung über "die Ausländer" schimpfen, dann ist nicht plausibel, dass das für eine bestimmte Gruppe gefährlich wird. Anders ist es, wenn Sie auf einer Demo sind, das Feindbild klar ist und Sie dann gegenüber der bereits aufgebrachten Menge sagen: "Es gibt drei Restaurants in dieser Stadt, die von solchen Typen betrieben werden, lasst uns da mal hin marschieren." Unter solchen Umständen ist plausibel, dass das in Gewalt umschlagen kann. Für diese Beurteilung muss man kein Gutachten einholen.
"Das Strafrecht dient nicht dazu, Gefühle zu schützen"
Durch diesen Plausibilitätsfilter könnten aber auch Äußerungen rutschen, die Beiträge zur öffentlichen Meinungsbildung leisten, auch wenn man sie vielleicht ablehnt. Ein Beispiel wäre etwa "From the River to the Sea". Wegen seiner Ambivalenz ist das ein nicht unproblematischer Ausdruck einer Forderung oder Hoffnung – aber nicht per se ein klarer Gewaltaufruf.
Diese Äußerung würden Sie meist schon vorher herausfiltern. Durch "From the River to the Sea" wird nicht per se "zum Hass aufgestachelt" oder "zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen aufgefordert, wie es in § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB heißt. Politisch kontroverse Meinungsäußerungen sind auch kein "Angriff auf die Menschenwürde" im Sinne der Nr. 2. Da es schon an der Tathandlung fehlt, stellt sich die Frage einer Eignung zur Friedensstörung dann nicht.
Man muss diese Merkmale eng auslegen, um nicht in Gefahr zu geraten, dass die Verurteilung im Einzelfall nur dazu dient, Gefühle zu schützen. Dafür ist das Strafrecht nicht da.
"From the River to the Sea” wird seit Ende 2023 vor allem nach § 86a StGB verfolgt, wegen Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger, terroristischer oder verbotener Organisationen. Da die Hamas die Fluss-Meer-Metapher durchaus verwendet, fliegt man nicht so leicht aus der Strafbarkeitsprüfung, manche Gerichte bejahen das auch. §§ 86, 86a erklären bestimmte Codes eben recht pauschal für tabu. Geht das zu weit?
Die Grundlogik von §§ 86, 86a ist schwieriger zu erfassen als bei der Volksverhetzung. Da müssen wir unterscheiden: Bei NS-Organisationen geht es um die Vergangenheit; Zweck der Strafvorschrift ist, eine Wiederbelebung dieser Organisationen zu verhindern.
Bei terroristischen Vereinigungen, die heute aktiv sind – wie Hamas –, ist das anders. Da geht es einigen Personen mit dem Slogan schon darum, Sympathie für diese Gruppe auszudrücken, und ggf. auch darum, sie aktiv zu unterstützen. In diesen Fällen steht eher der Gedanke der Gefährlichkeit hinter der Norm.
"Offensichtlich nicht das Anliegen, die NSDAP wiederzubeleben"
Das Kammergericht hat 2024 einen Kritiker von Corona-Maßnahmen schuldig gesprochen, weil er eine Abbildung eines Hakenkreuzes auf einer Mund-Nase-Bedeckung verbreitet hat. Nun soll sich der Publizist Norbert Bolz wegen einer mit einem NSDAP-Slogan codierten Kritik einer taz-Überschrift strafbar gemacht haben. Ist das vom Schutzzweck der Norm erfasst?
Nein. In diesen Fällen war offensichtlich nicht das Anliegen, die NSDAP wiederzubeleben. Mit Blick auf die grundrechtlich geschützte Meinungsfreiheit sollte § 86a StGB nicht angewandt werden, wenn es erkennbar um Kritik an gegenwärtiger Politik oder um Kritik an gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen geht.
NS-Vergleiche verharmlosen den Holocaust, verhöhnen die Opfer, deshalb stehen sie gesondert unter Strafe. Unter in § 130 Abs. 3 StGB fällt nach Auffassung des Bundesgerichtshofs etwa auch der Spruch "Impfen macht frei". Eine Frau wurde im Frühjahr wegen der Frage "Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt?" im Gaza-Kontext verurteilt. Auch wenn das Urteil in zweiter Instanz gekippt wurde: Besteht hier die Gefahr einer extensiven Auslegung?
Ja, die sehe ich. Man kann selbst in den Fällen, für die diese Strafnormen eigentlich gedacht sind, die Frage stellen: Warum stellen wir Bezüge zu Ereignissen unter Strafe, die weit in der Vergangenheit liegen? Besonders kritisch wird es auf jeden Fall dann, wenn wir die Normen auf schräge Vergleiche im zeitgenössischen Kontext anwenden. Das geht zu weit.
"Ich verstehe, warum es diese Tabus gibt, aber... "
Ist die Gefahr extensiver und uneinheitlicher Anwendung schon in den Tatbeständen selbst angelegt? Sollte man die §§ 130 Abs. 3 bis 5 und §§ 86, 86a StGB lieber streichen?
Ich bin auch ein Kind dieses Landes. Ich verstehe, warum es diese Tabus gibt. Ich kann auch die Emotionen nachvollziehen – aber das reicht zur rationalen Rechtfertigung einer Strafnorm nicht aus.
Manchmal gerät das "politische Strafrecht" in Konflikt mit Satire. Wenn auf einem Karnevals-Mottowagen Alice Weidel mit Hakenkreuz abgebildet wird, ist wohl klar von der Kunstfreiheit gedeckt. Wenn das "Zentrum für Politische Schönheit" die Hitlergruß-Geste von Elon Musk an die Außenwand seiner Tesla-Fabrik projiziert, ist das weniger klar.
Das würde ich auch kritisch sehen. Eines der Phänomene unserer Gesellschaft ist, bei kritikwürdigen Äußerungen immer direkt an die Strafbarkeit zu denken. Damit müssen wir aufhören. Das Strafrecht ist nicht die moralische Superinstanz, für die viele es halten.
Auch im Fall von El Hotzo, der auf seinem X-Account das Scheitern des Attentats auf Donald Trump mit dem Verpassen eines Busses verglichen hat, geht es um Satire. Das Amtsgericht hat ihn deshalb freigesprochen. Es könnte aber, so sieht es die Staatsanwaltschaft, durchaus unter § 140 StGB fallen, die Billigung von Straftaten. Worin soll hier das Bedürfnis nach Strafe liegen?
Auch bei § 140 StGB sollte es um die Gefährlichkeit gehen. Man sollte auch hier zurückhaltend vorgehen und prüfen, ob es wirklich plausibel ist, dass eine bestimmte Personengruppe sich davon aufstacheln lässt. Mit der abstrakten Gefahr, dass irgendwer irgendwo eine Äußerung als Aufforderung zu Gewalt verstehen könnte, könnte man alles Mögliche verbieten.
Hausdurchsuchungen "erwecken den Verdacht der Abschreckung"
Die Gefährlichkeit von Äußerungen begründet nur einen Teil der Äußerungsdelikte. Den anderen Teil bilden die Beleidigungsdelikte. Die sehen Sie auch kritisch – warum?
Der Gesetzgeber sollte sich das Beleidigungsstrafrecht noch einmal genauer anschauen und auch ändern. Zum Beispiel reicht der § 185 StGB aktuell zu weit. Dessen einziges objektives Tatbestandsmerkmal ist der Begriff "beleidigen", das wird als Kundgabe von Missachtung ausgelegt. Das fasst die Strafbarkeit zu weit. Nicht jede abschätzige Äußerung, die eine Person über eine andere macht, ist strafwürdig.
Wie könnte man es stattdessen regeln?
Bei massiven Schmähungen wird man eine Strafbarkeit als vertretbar ansehen können. Dafür bräuchten wir aber eine andere Formulierung. Zum Beispiel: nicht "wer einen anderen beleidigt", sondern "wer einen anderen erheblich erniedrigt".
Soweit eine Äußerung als Straftat zählt, müssen Polizei und Staatsanwaltschaft bei einem Anfangsverdacht ermitteln. Zu den Standardmaßnahmen gehört die Hausdurchsuchung. Ist das im Fall einer solchen Bagatelle nicht übertrieben? Bei Bolz hat die Durchsuchungsanordnung ebenso für Empörung gesorgt wie beim "Schwachkopf"-Meme gegen Robert Habeck.
Solche Vorfälle wecken den Verdacht, dass Abschreckung durch drastische Ermittlungsmaßnahmen betrieben wird. Das ist nicht der Zweck strafprozessualer Regeln. Richter, die das zulassen, schwächen das Vertrauen in den Rechtsstaat. Sie bringen mangelnde Wertschätzung für das Grundrecht auf Meinungsfreiheit zum Ausdruck (und untermauern damit ironischerweise die Kritik des amerikanischen Vizepräsidenten auf der Münchner Sicherheitskonferenz).
Der Fall des Schwachkopf-Memes war auch deshalb so kontrovers, weil nicht nur wegen einfacher Beleidigung ermittelt wurde, sondern wegen Politikerbeleidigung. Die wurde mit dem Hate-Speech-Gesetz 2021 in § 188 StGB aufgenommen und sieht eine höhere Strafe vor. Verdient die Ehre von Politikern mehr Schutz als die einfacher Bürger?
Die einzige nachvollziehbare Erklärung für diesen Tatbestand ist, dass wir hier zwei geschützte Rechtsgüter haben: die persönliche Ehre und das öffentliche Interesse an der politischen Aktionsfähigkeit. Das kam im Gesetzgebungsverfahren auch zum Ausdruck. Wenn es nur um die Ehre ginge, ließe sich die höhere Strafe nicht begründen. Politiker müssen eher mehr aushalten.
Frau Hörnle, vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Tatjana Hörnle, M.A. (Rutgers) ist Direktorin am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg.
Zwischen Tabu und Meinungsfreiheit: . In: Legal Tribune Online, 27.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58466 (abgerufen am: 07.11.2025 )
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