Ob Clinton oder Trump neuer Präsident der USA wird, richtet sich nach einem Sammelsurium komplexer Regeln, die nicht immer demokratisch wirken. Und sie ermöglichen es, dass kritische Republikaner einen Sieg von Trump verhindern.
Am 8. November ist es endlich so weit: Die Amerikaner wählen ihren nächsten Präsidenten – oder ihre erste Präsidentin. Der Satz klingt als Einstieg ins US-Wahlrecht erst einmal unverfänglich, enthält aber leider schon den ersten Fehler. Denn genau genommen wählen die Amerikaner am 8. November niemanden, sondern geben lediglich ihre Stimme für ihr Wunschduo aus Präsident und Vizepräsident ab. Die eigentliche Wahl findet erst am 19. Dezember statt, und zwar durch die 538 Mitglieder des Wahlmännergremiums.
Wer diese Mitglieder sein werden, hängt allerdings vom Ausgang der Wahl am 8. November ab. Denn jeder der amerikanischen Bundesstaaten sowie die Hauptstadt Washington D.C. (die kein Bundesstaat ist und keinem angehört) entsendet die ihm zustehenden Wahlmänner auf Grundlage des Abstimmungsergebnisses, das die Präsidentschaftskandidaten bei der allgemeinen Wahl innerhalb des Bundesstaates erzielt haben.
Mit Ausnahme von Maine und Nebraska gilt dabei überall das Mehrheitswahlrecht. Wenn Trump also z.B. 60 Prozent der Stimmen im Bundesstaat Missouri erhält und Clinton 40 Prozent, dann entsendet Missouri nicht sechs Wahlmänner, die sich zu Trump bekennen, und vier, die für Clinton stimmen wollen, sondern zehn für Trump.
The winner takes it all
Diese Konstruktion ist einer der zentralen Gründe, warum kleine Parteien neben den beiden amerikanischen Platzhirschen chancenlos sind: Achtungserfolge von einigen Prozentpunkten finden in der Zusammensetzung des Wahlmännergremiums keinen Ausdruck, sondern verschieben allenfalls das Stimmverhältnis zwischen Demokraten und Republikanern.
Umgekehrt macht das "winner takes it all"-Prinzip die Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen zunichte: Wer in dem Beispiel für Trump gestimmt hat, dessen Votum fließt in die Zusammensetzung des Wahlmännergremiums ein – Stimmen für Clinton verpuffen hingegen wirkungslos.
Das wiederum steigert die psychologische Bedeutung von Wahlprognosen, die zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden können: Wenn angeblich ohnehin klar ist, wer gewinnen wird, und die Stimmen für den Verlierer keinerlei Wirkung haben, können dessen Unterstützer schließlich gleich zu Hause bleiben.
Eine Stimme aus Wyoming zählt so viel wie vier aus Kalifornien
Der Erfolgswert der Stimmen wird auch noch durch einen zweiten Faktor verzerrt – diesmal aber nicht innerhalb einzelner Bundesstaaten, sondern im Vergleich der Staaten miteinander. Die Anzahl von Wahlmännern, die sie entsenden dürfen, hängt zwar grob von ihrer Einwohnerzahl ab – da jeder Staat aber mindestens drei Wahlmänner erhält, fällt Staaten mit besonders geringer Bevölkerungszahl ein weit überproportionales Stimmgewicht zu.
Der bevölkerungsärmste Staat Wyoming hat z.B. gut 580.000 Einwohner, also etwa 193.000 für jeden seiner drei Wahlmänner. Kalifornien hingegen ist mit 39 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Staat, und darf 53 Wahlmänner entsenden – was 738.000 Einwohnern pro Wahlmann entspricht. Mit anderen Worten: Die Stimme eines Amerikaners aus Wyoming wiegt beinahe viermal so schwer wie die seines Landsmannes aus Kalifornien.
Einen obskuren Sonderfall bilden außerdem die nichtinkorporierten bewohnten Außengebiete der USA (Puerto Rico, Guam, die amerikanischen Jungferninseln, die Nördlichen Marianen und Amerikanisch-Samoa). Deren insgesamt gut 4,3 Millionen Einwohner sind zwar amerikanische Staatsbürger, können an der Präsidentschaftswahl aber überhaupt nicht teilnehmen, weil ihre Gebiete keine Wahlmänner entsenden dürfen. Damit stehen sie paradoxerweise schlechter da als amerikanische Staatsbürger, die im Ausland leben – denn die können per Briefwahl an der Abstimmung des Bundesstaats teilnehmen, in dem sie zuletzt gelebt haben.
Präsident werden mit elf zu 138 Millionen Stimmen
Naturgemäß lässt die an vielen Stellen holprige Umrechnung von Wähler- auf Wahlmannstimmen Gedankenspiele zu, die den Demokratiegedanken ad absurdum führen. Im mathematischen Extremfall könnte ein Kandidat z.B. mit nur elf Stimmen bei 138 Millionen Gegenstimmen (abzüglich Minderjährige und andere nicht Wahlberechtigte) amerikanischer Präsident werden.
Dann nämlich, wenn in den elf Staaten mit den meisten Wahlmännern jeweils nur ein einziger Bürger abstimmen würde (und immer für denselben Kandidaten), die Wahlbeteiligung in den übrigen 39 Staaten plus D.C. hingegen bei 100 Prozent läge, und zwar ausnahmslos zugunsten des Gegenkandidaten. Denn die elf größten Staaten stellen gemeinsam 270 Wahlmänner, die übrigen kommen zusammen nur auf 268.
Gewiss: Das Beispiel ist maßlos überzogen. Dass ein Kandidat gewinnt, obwohl sein Gegenspieler mehr Stimmen erhalten hat, ist mit geringerem zahlenmäßigen Abstand allerdings schon vier Mal in der US-Geschichte vorgekommen – zuletzt im Jahr 2000 beim Wahlsieg von George W. Bush, der um mehr als eine halbe Million Stimmen hinter dem Demokraten Al Gore zurücklag.
Wenn der Wahlmann fremd wählt
Wenn die Vorhersagen stimmen, wird es dieses Mal so knapp nicht werden. Allerdings hält das amerikanische System noch einen weiteren Unsicherheitsfaktor bereit. Denn auch wenn Clinton sich am 8. November die Mehrheit der Wahlmänner sichert, könnte Trump theoretisch noch gewinnen – nämlich dann, wenn einige von Clintons Wahlmännern einfach ihre Meinung ändern und am 19. Dezember für den Republikaner abstimmen würden.
Das wäre zwar ein ungeheuerlicher Verrat an der eigenen Partei (die die Wahlmänner aufstellt) und an den Wählern (die der Wahlmann repräsentieren soll). Aber es ist in 21 Staaten legal und wurde auch in den übrigen noch nie strafrechtlich verfolgt.
Eine Gefahr dürften die sogenannten "treulosen Wahlmänner" allerdings wohl eher für Trump bedeuten, der nach den Erkenntnissen der vergangenen Wochen auch innerhalb der Republikanischen Partei stärker umstritten ist denn je. Schon in den vergangenen Monaten haben zwei republikanische Wahlmänner offen damit gedroht, im Fall der Fälle gegen den eigenen Mann zu stimmen. Insgesamt ist es zu einem solchen Verrat in der US-Geschichte schon 157 mal gekommen. Für das Ergebnis entscheidend war er bislang zwar noch nie – aber das wäre bei dieser Wahl ja nicht die einzige Premiere.
Constantin Baron van Lijnden, US-Präsidentschaftswahl erklärt: Wer die Wahl hat… . In: Legal Tribune Online, 10.10.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/20814/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
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