Der Fraktionsgeschäftsführer der Grünen in Baden-Württemberg, Hans-Ulrich Sckerl, fordert eine Amnestie für alle Straftaten am "Schwarzen Donnerstag" in Stuttgart. Der Justizminister sieht "hohe Hürden". Dabei ist das rechtlich weder schwierig noch würde es die Ausschreitungen bei den Demonstrationen bagatellisieren, meint Strafrechtlerin und Kriminologin Monika Frommel im LTO-Interview.
LTO: Von den baden-württembergischen Grünen kam der Vorschlag, eine Amnestie für den "Schwarzen Donnerstag" auszusprechen. Bei dem Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlosspark am 30. September 2010 waren mehr als 100 Personen, darunter etliche Stuttgart 21-Gegner, aber auch einige Polizeibeamte, verletzt worden. Die Staatsanwaltschaft ermittelte in rund 500 Verfahren. Ein Beamter wurde im vergangenen Herbst wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten auf Bewährung verurteilt. Allen anderen wollen die Grünen nun Straffreiheit gewähren. Der Landesjustizminister Rainer Stickelberger (SPD) sieht "hohe Hürden" für eine solche Regelung. Teilen Sie seine Meinung, Frau Professor Frommel?
Frommel: Die Regelung wäre völlig unproblematisch. Es geht immerhin nicht um Mord oder Totschlag. Soweit ersichtlich wird bei den noch laufenden Verfahren mit Delikten wie Körperverletzung an Polizeibeamten, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Sachbeschädigung oder auch Verstößen gegen das Versammlungsgesetz nur wegen Vergehen ermittelt oder verhandelt.
Der Generalstaatsanwalt könnte die Verfahren einstellen lassen beziehungsweise bei Gericht einen solchen Antrag stellen. Warum sollte dann ein entsprechendes Gesetz nicht möglich sein? Selbstverständlich müsste das Gesetz die Straffreiheit auch für bereits verurteilte Betroffene regeln. Dass es sich um ein einzelnes Ereignis handelt, steht dieser Bewertung nicht entgegen.
"Gut für den Rechtsfrieden, ohne zu bagatellisieren"
LTO: Halten Sie den Vorschlag denn für sinnvoll?
Frommel: Ich halte ihn sogar für ausgesprochen vernünftig. Schließlich muss ein Ereignis bewältigt werden, das in dieser Form nur aufgrund der aufgeheizten Stimmung möglich war. Eine Amnestie wäre kein Schuldeingeständnis, die Regierung würde jedoch immerhin guten Willen beweisen. Als Symbol taugt es jedenfalls.
LTO: Der Fraktionsgeschäftsführer begründet den Vorschlag damit, der Straferlass diene dem Rechtsfrieden. Stimmen Sie ihm zu?
Frommel: Gerade Körperverletzungsdelikte klagt die Staatsanwaltschaft oft an, es kommt aber verhältnismäßig selten zu Verurteilungen. Nicht dass Sie das missverstehen: Dieses Vorgehen halte ich grundsätzlich für notwendig, um einer Bagatellisierung solcher Delikte vorzubeugen. Aber in den Verfahren zum "Schwarzen Donnerstag" scheinen eben hauptsächlich Einstellungen oder Freisprüche möglich.
Ein Amnestiegesetz hätte demgegenüber den Vorteil, dass es sich um einen einzelnen transparenten Akt handeln würde. Die Gerichte müssten nicht in jedem Verfahren im Einzelnen die Schuld beweisen. Dem Rechtsfrieden wäre damit besser gedient.
"Aufarbeitung besser mit zivilrechtlichen Verfahren"
LTO: Aber wir sprechen ja nicht nur von möglichen Straftaten der Demonstrationsteilnehmer. Besonders der Einsatz eines Wasserwerfers durch die Einsatzkräfte steht in der Kritik, das Bild des Demonstranten, der bei den Ausschreitungen schwere Augenverletzungen erlitt, hat sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Wäre die strafrechtliche Aufarbeitung des Geschehens nicht zumindest unter dem Aspekt geboten, dass auch Beamte sich möglicherweise strafbar gemacht haben?
Frommel: Hier sollte eher die zivilrechtliche Regulierung im Vordergrund stehen. So schrecklich die Verletzungen des Mannes sein mögen, ein Schadensersatzprozess eignet sich besser zur Aufarbeitung. Es ginge darin tatsächlich um die Erblindung und nicht um die Handlungen der Polizeibeamten im Rahmen der insgesamt aufgeladenen Situation. Insbesondere kommt ein Amtshaftungsanspruch gegen das Land in Betracht. Die öffentliche Hand könnte sich dabei ihrer Aufgabe entsinnen, Frieden zu stiften.
LTO: Der Justizminister beruft sich bei seiner Ablehnung darauf, ein einzelfallbezogenes Amnestiegesetz habe es bislang in der Bundesrepublik nicht gegeben. Wie ist denn überhaupt der rechtsgeschichtliche Hintergrund?
Frommel: In der Bundesrepublik gab es 1949 und 1954 sowie 1968 und 1970 Straffreiheitsgesetze. Die beiden letzteren flankierten Änderungen des Strafrechts, die vorher strafbare Handlungen entpönalisierten. Grundsätzlich halte ich auch nur in vergleichbaren Fällen eine Amnestie im Rahmen eines modernen Sanktionenrechts für sinnvoll.
Amnestie als "Zuckerbrot"
LTO: Weshalb würden Sie eine solche dann im Fall des Schwarzen Donnerstags befürworten?
Frommel: Weil das etwas völlig anderes ist. Totalitäre Regime bedienten sich der Amnestie als Teil einer Praxis von "Zuckerbrot und Peitsche". Sie fungierte kriminalpolitisch als Gegenstück zu Terror und politisiertem Strafrecht.
Gerade in der Weimarer Republik dienten Amnestien zudem vorrangig als Instrument dazu, einseitig die Strafverfolgung zu verhindern. So profitierten etwa die Teilnehmer am Kapp-Lüttwitz Putsch von einer weit reichenden Amnestieregelung aus dem Jahr 1920. In Stuttgart beträfe die Regelung aber alle Beteiligten an den Vorkommnissen. "Weimarer Verhältnisse" drohen somit keinesfalls.
LTO: Sie ziehen die generelle Amnestie in diesem Einzelfall einer rechtlichen Aufarbeitung vor?
Frommel: Ja. Eine rigide Anwendung des Gesetzes war noch nie eine friedenssichernde Maßnahme.
LTO: Frau Professor Frommel, wir danken Ihnen für das Interview.
Prof. Dr. Monika Frommel (em.) war bis 2011 Direktorin des Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie der Christian-Albrechts-Universität in Kiel und ist Verfasserin zahlreicher Veröffentlichungen unter anderem zu kriminalpolitischen Fragen.
Das Interview führte Benjamin Lück.
Kriminologin zu Straftaten bei Stuttgart 21-Demos: . In: Legal Tribune Online, 02.02.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8084 (abgerufen am: 06.12.2024 )
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