Streiks bei der Bahn: Einige Züge fahren ja

Deutschlands älteste Koalition macht mal wieder Ernst. Nach drei Warnstreiks und durchgeführter Urabstimmung bestreikte die Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer den Güter- und Personenverkehr und produzierte nach eigenen Angaben 80 Prozent Zugausfälle oder zumindest massive Verspätungen. Die Fahrt ins tarifpolitische Tollhaus hat begonnen. Ein Kommentar von Jan Tibor Lelley.

Dem russischen Berufsrevolutionär W.I. Lenin wird die Bemerkung zugeschrieben, in Deutschland gebe es keine Revolution. Denn bevor die Deutschen einen Bahnhof stürmten, kauften sie sich noch eine Bahnsteigkarte.

Mit ihrem Gründungsjahr 1867 ist die Gewerkschaft deutscher Lokomotivführer (GDL) sogar drei Jahre älter als Lenin. Trotzdem steht Claus Weselsky als Vorsitzender der GDL und CDU-Mitglied sicherlich nicht für Revolution. Auf jeden Fall aber für markige Worte: Bevor die "Piloten der Schiene" (Selbsteinschätzung der Lokführer) ihren Streik begannen, hatte er Verhandlungsangebote der Deutschen Bahn AG noch als Stück aus dem tarifpolitischen Tollhaus bezeichnet, auf das die Gewerkschaft "klare Antworten" geben werde. Am 9. März 2011 ab 20 Uhr wurde dann der Güterverkehr und ab dem 10. März 2011 von 4 bis 10 Uhr der Personenverkehr bestreikt.

Die Stimmung bei den betroffenen Bahnkunden scheint derzeit noch gemischt zu sein. Es gibt durchaus Zustimmung für das Vorgehen der Lokführer, aber auch Unverständnis und klare Ablehnung. Eine arbeitsrechtliche Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem Streik ist bisher ausgeblieben. Und doch fühlen sich viele an das Jahr 2007/2008 erinnert, als sich die GDL zum ersten Mal einen Platz in der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit erstreikte.

Der Streik als Instrument des Wettbewerbs

Ein Blick zurück: Nachdem im Jahr 2007 die Arbeitgeberseite Tarifvorschläge der GDL abgelehnt hatte, kam es zum ersten flächendeckenden Lokführerstreik in der Geschichte der Deutschen Bahn AG. Die Streikaktionen dauerten von Oktober 2007 bis zur letztendlichen Einigung im April 2008.

Zwischendurch hatte es aufsehenerregende arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen zwischen den Tarifparteien gegeben. Die Arbeitsgerichte in Nürnberg und Chemnitz erließen einstweilige Verfügungen zum Streikverbot, die dann aber im November 2007 wieder aufgehoben wurden.

Kaum bekannt wurde in der Öffentlichkeit, dass die GDL ihre Streikaktionen nicht nur als tarifpolitisches Druckmittel gegen die Arbeitgeberseite einsetzte. Die Streiks waren auch ein Verdrängungsinstrument im Wettbewerb der Bahn-Gewerkschaften untereinander. Nach Medienberichten kam es bis Mitte 2007 im Rahmen der von der GDL durchgeführten Streiks zu fast 1.000 Übertritten von Mitgliedern der Verkehrsgewerkschaft Transnet zur GDL. Auch bei den Berliner Verkehrsbetrieben traten rund 700 Mitglieder der Gewerkschaft ver.di über. Die Gewerkschaft Transnet hat zwischenzeitlich unter dem Wettbewerbsdruck der GDL ihr Heil in einer Fusion gesucht und firmiert seit dem 30. November 2010 als Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG).

Tarifpluralität und Kollateralschäden

Zwischen dem großen Flächenstreik der GDL und den jetzigen Streikmaßnahmen fällte das Bundesarbeitsgericht sein vielbeachtetes Urteil zur Tarifpluralität. Die Erfurter Richter stellten fest, dass es keinen übergeordneten Grundsatz gibt, nach dem auf verschiedene Arbeitsverhältnisse in einem Betrieb nur ein einheitlicher Tarifvertrag anwendbar wäre. Im Gegenteil soll für die einzelnen Arbeitnehmer immer nur der Tarifvertrag gelten, der von der Gewerkschaft abgeschlossen wurde, in der sie Mitglied sind (Beschl. v. 23. Juni 2010, Az. 10 AS 2/10 und 10 AS 3/10).

In der Folge sehen manche das BAG schon wieder als Wegbereiter streikfreudiger Spartengewerkschaften. Ganz nach dem Motto: Deutschland holt im internationalen Vergleich auf, vom arbeitskampfarmen Land zum Kampfplatz der Koalitionen.

Das aber ist gar keine Frage der Tarifpluralität, sondern des Arbeitskampfrechts. Die deutsche Dogmatik des Arbeitskampfes ist nämlich in der globalisierten Welt in eine Sinnkrise geraten. Die Frage ist nicht, wie viele Tarifverträge man in einem Unternehmen zulassen möchte. Die richtige Frage ist, wie lange es sich die Bundesrepublik Deutschland noch leisten möchte, "von Partikularinteressen gesteuerte Kleingewerkschaften" (Bernd Rüthers) zu erlauben, mit ihren Streikmaßnahmen nicht primär beim Tarifgegner, sondern bei unbeteiligten Dritten Schäden anzurichten. Oder auf den Punkt gebracht: Wie viel Kollateralschaden akzeptiert der mündige Bürger bei Arbeitskämpfen, in denen der Streik nicht als chirurgischer Eingriff, sondern als Streubombe eingesetzt wird?

Für die Kunden der Deutschen Bahn AG jedenfalls steht jetzt schon fest, dass sie eine Fahrpreisentschädigung nicht erwarten können. Diese ist bei "unvermeidbaren betriebsfremden Umständen" ebenso wie bei "unvermeidbarem Verhalten eines Dritten" ausgeschlossen. Das regeln die Beförderungsbedingungen der Deutschen Bahn AG, gültig seit dem 12.Dezember 2010. Aus Sicht der Bahn gab es wohl gute Gründe, diese Änderung aufzunehmen.

Der Autor Dr. Jan Tibor Lelley, LL.M. ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei Buse Heberer Fromm.

 

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Zitiervorschlag

Jan Tibor Lelley, Streiks bei der Bahn: . In: Legal Tribune Online, 11.03.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2748 (abgerufen am: 03.10.2024 )

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