Bei einem Anschlag des NSU in Köln wurde Sermin S. zwar nicht körperlich verletzt – sie erklärt jedoch, seitdem unter Angststörungen zu leiden. Die Verteidigung will sie nun vom Verfahren ausschließen. Einen großen Unterschied dürfte das nicht machen, über 50 Nebenklägervertreter sind am Prozess beteiligt. Das Rechtsinstitut bedarf bei Großverfahren einer Reform, meint Stefanie Bock.
Die Liste der Anklagepunkte im NSU-Verfahren ist lang. Es geht um eine Mordserie, bewaffnete Raubüberfälle, Brandstiftung und Sprengstoffexplosionen. Dementsprechend ist die Zahl der Opfer sehr hoch.
Doch wer ist eigentlich "Opfer" bzw. im strafprozessualen Sinne "Verletzter" des NSU und wie viele Opfervertreter verkraftet ein Strafverfahren? Derzeit nehmen gut 50 Anwälte von Geschädigten oder ihren Angehörigen regelmäßig an der Hauptverhandlung teil. Der NSU-Prozess wurde damit von Beginn an auch zu einer Belastungsprobe für die Institution der Nebenklage.
Eine Nebenklägerin, an der sich diese Diskussion besonders entzündet, ist Sermin S. Sie hielt sich zum Zeitpunkt des Nagelbombenanschlags auf der Kölner Keupstraße in ihrer Wohnung auf. Erst, nachdem sie den Knall der Explosion vernommen hatte, lief sie auf die Straße. Obwohl sie körperlich unversehrt blieb, leidet sie nach eigenen Angaben seit der Tat unter Angstzuständen und Panikattacken. Die Verteidigung fordert, Sermin S. als Nebenklägerin auszuschließen, Opfervertreter und Bundesanwaltschaft halten dagegen.
In der Strafprozessordnung (StPO) ist derzeit eine Beschränkung der Zahl der Nebenkläger nicht vorgesehen. Sie ist jedoch am Prototyp der klassischen Individualkriminalität orientiert, bei der sich ein Täter und ein Opfer gegenüberstehen. Den besonderen Herausforderungen von Großverfahren mit einer Vielzahl von Geschädigten sind die gesetzlichen Regelungen derzeit nicht gewachsen. Entlastung könnte die im Völkerstrafprozessrecht bekannte Vertretung mehrerer Opfer durch einen gemeinsamen Rechtsbeistand bringen.
Den Opfern eine Stimme geben
Die Nebenklage gibt den Opfern eine Stimme. Sie sind nicht nur ein Objekt des Strafverfahrens, ein Beweismittel, das dann zum Einsatz kommt, wenn die anderen Prozessbeteiligten es benötigen. Ihnen wird vielmehr die Möglichkeit gegeben, das Verfahren aktiv mitzugestalten und ihre Interessen eigenverantwortlich wahrzunehmen.
Zu diesem Zweck billigt die StPO dem Nebenkläger eine Vielzahl von Rechten zu: Er darf u.a. Richter und Sachverständige ablehnen, Zeugen befragen, Beweisanträge stellen und Erklärungen abgeben. Das Opfer kann hierdurch seine Perspektive und seine besonderen Kenntnisse vom Tatgeschehen in das Verfahren einbringen und das Gericht bei der Wahrheitsfindung unterstützen.
Zudem gibt es Hinweise darauf, dass die Wahrnehmung von prozessualen Rechten zu positiven psychologischen Effekten führen kann. Eine aktive Teilnahme am Strafverfahren steht im diametralen Gegensatz zur Straftat, in der das Opfer meist in einer passiven oder hilflosen Rolle gefangen war. Die Umkehrung der Rollen im Prozess kann dem Betroffenen möglicherweise helfen, die Tat zu verarbeiten. Der Zusammenhang zwischen Prozessausgestaltung und Opfergenesung bedarf allerdings noch weiterer empirischer Erforschung.
Ist Sermin S. "Verletzte"?
Der Begriff des Opfers ist der StPO jedoch fremd. Das Gesetz spricht vielmehr von demjenigen, der durch die Tat verletzt wurde. Nur der Verletzte sowie bei Tötungsdelikten die nahen Angehörigen des Getöteten dürfen sich dem Verfahren als Nebenkläger anschließen. Nach der Rechtsprechung ist Verletzter derjenige, der durch die schädigende Handlung unmittelbar in seinen Rechten, Rechtsgütern oder rechtlich anerkannten Interessen beeinträchtigt ist.
Der Begriff ist jedoch sehr unscharf, wie das aktuelle Beispiel erneut zeigt. Ungeklärt ist insbesondere, wie man unmittelbare von mittelbaren Verletzungen abgrenzen kann und welche Anforderungen an die Kausalität zwischen angeklagter Tat und Beeinträchtigung zu stellen sind.
Die psychischen Beeinträchtigungen, die Sermin S. geltend macht, spielen in der juristischen Auseinandersetzung nur eine untergeordnete Rolle. Sie können nur unter besonderen Voraussetzungen als Körperverletzung anerkannt werden. Zudem ist es schwierig, zu beweisen, dass die Angstattacken auf den Bombenanschlag zurückzuführen sind.
Die Vertreter der Nebenklagen und die Bundesanwaltschaft sind dennoch der Ansicht, dass Sermin S. als Verletzte anzusehen ist. Entscheidend sei, dass die Täter billigend in Kauf genommen hätten, dass alle Personen im Streubereich der Nagelbombe – und damit auch Sermin S. – verletzt würden. Sie sei als unmittelbares Opfer einer versuchten gefährlichen Körperverletzung nebenklageberechtigt.
Ob sich der Verletzungsvorsatz der Täter tatsächlich auch auf Personen erstreckt, die sich zum Zeitpunkt der Explosion in ihren Wohnungen befanden und dort vor den Auswirkungen der Bombe geschützt waren, lässt sich allerdings bezweifeln. Die Entscheidung des LG München steht noch aus.
2/2: Interessenkonflikt zwischen Opfern und Angeklagten
Diskussionen über ihre Nebenklageberechtigung können für die Betroffenen sehr belastend sein. Sie müssen um die Anerkennung ihrer Leiden, gegebenenfalls sogar ihrer Glaubwürdigkeit kämpfen. Das Gerichtsverfahren kann für sie dann zu einer weiteren traumatischen Erfahrung werden.
Auf der anderen Seite hat der Angeklagte ein legitimes Interesse daran, dass die Zahl der Prozessbeteiligten nicht ausufert. Jeder weitere zugelassene Nebenkläger bedeutet für ihn einen weiteren Prozessgegner. Die Beteiligung von 50 Opferanwälten verschiebt das Prozessgleichgewicht zulasten des Angeklagten. Hierdurch wird die Fairness des Verfahrens, ein fundamentales rechtsstaatliches Prinzip, gefährdet.
Darüber hinaus räumt die StPO dem Nebenkläger aus guten Gründen eine starke prozessuale Stellung ein. Können diese umfangreichen Rechte aber von sehr vielen Personen wahrgenommen werden, so drohen erhebliche Verzögerungen. Das beeinträchtigt nicht nur das Recht des Angeklagten auf ein zügiges Verfahren, sondern auch das Interesse der Geschädigten, den Sachverhalt zeitnah und effektiv aufzuklären.
Der gemeinsame Rechtsbeistand im Völkerstrafprozessrecht
Großverfahren mit zahlreichen Geschädigten bringen die Institution der Nebenklage an ihre Grenze. Der Gesetzgeber ist berufen, sie diesen neuen Herausforderungen zu stellen und dabei einen angemessen Ausgleich zwischen den Rechten des Angeklagten und den Interessen der Geschädigten zu finden.
In völkerstrafrechtlichen Prozessen ist dieser Konflikt wohlbekannt. In einigen Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof beteiligen sich mehr als 5.000 Opfer. Um auch solche Verfahren fair und effektiv durchführen zu können, werden die Opfer in Gruppen zusammengefasst, die dann von einem gemeinsamen Rechtsbeistand vertreten werden.
Auch im deutschen Recht könnte dies für Großverfahren wie den NSU-Prozess oder bei der Verfolgung völkerrechtlicher Verbrechen eine Lösung sein. Die Opferanwälte würden nicht mehr die Interessen eines Mandanten, sondern die einer bestimmte Gruppe von Geschädigten vertreten. Auf diese Weise könnte man die Zahl der Prozessbeteiligten prozessökonomisch sinnvoll begrenzen, ohne die Einbeziehung der Opfer ins Verfahren in Frage zu stellen.
Im Gegenzug könnte die Nebenklageberechtigung weiter gefasst, die Zulassung mittelbar oder psychisch Geschädigter weniger streng gehandhabt werden. Belastende und zeitraubende Diskussionen um die Verletzteneigenschaft wie bei Sermin S. ließen sich so vermeiden.
Dr. Stefanie Bock ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Habilitandin am Institut für Kriminalwissenschaften in der Abteilung für ausländisches und internationales Strafrecht an der Universität Göttingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind internationales und europäisches Strafrecht sowie die Stellung des Verletzten im Strafverfahren.
Dr. Stefanie Bock , Opferrechte in Großverfahren: Nebenklage stößt im NSU-Prozess an ihre Grenzen . In: Legal Tribune Online, 17.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14709/ (abgerufen am: 17.04.2024 )
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