Zu Unrecht verurteilt? Eine Gruppe von Strafrechtslehrern will gemeinsam mit Anwälten und Jurastudenten Fehlurteile systematisch untersuchen und - wenn nötig - Wiederaufnahmeverfahren erwirken. Kirstin Drenkhahn ist Mitinitiatorin.
LTO: Frau Professorin Drenkhahn, mit Ihren Hochschullehrer-Kollegen Kai Ambos, Stefan König und Carsten Momsen haben Sie das Projekt "Fehlurteil und Wiederaufnahme" ins Leben gerufen. In den Law Clinics der FU Berlin und Uni Göttingen sollen Studierende künftig strafrechtliche Urteile genauer unter die Lupe nehmen und mit Hilfe von erfahrenen Strafverteidiger:innen prüfen, ob sich im konkreten Fall ein Wiederaufnahmeverfahren lohnt. Können sich die Gerichte auf eine Verfahrenswelle gefasst machen?
Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn: Nein, mit einer Welle ist sicher nicht zu rechnen. Aber tatsächlich wissen wir in Deutschland viel zu wenig über das Phänomen des Fehlurteils, über seine Häufigkeit und seine Ursachen.
Wiederaufnahmeverfahren und ihre Ergebnisse werden bei uns bislang weder statistisch erfasst noch systematisch ausgewertet. Zurzeit liegt das Thema aber in der Luft, und es gibt z. B. beim Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen ein großes Projekt. Auch waren Fehlurteile bisher kaum einmal Gegenstand der juristischen Ausbildung. Ein Bewusstsein dafür, dass die bestehenden Rechtsbehelfe und Vorkehrungen gegen Fehlurteile in den Regeln des Strafprozesses nicht ausreichen, um sie zu verhindern, ist ebenso wenig ausgeprägt wie die Einsicht, dass es notwendig wirksame Mittel braucht, auch rechtskräftige Fehlurteile aufzuheben. Eine Fehlerkultur ist in der deutschen Strafjustiz schlichtweg unterentwickelt.
Mit unserem Projekt, das ich übrigens ausdrücklich als "Studierendenprojekt" bezeichnen möchte, wollen wir den längst überfälligen Versuch unternehmen, Fehlurteile in Deutschland systematisch aufzudecken und zu korrigieren. Strafverteidiger:innen wissen nur allzu gut, dass sich Justizunrecht nicht auf spektakuläre Einzelfälle beschränkt, die durch die Medien gegangen sind.
Strafverteidiger prüfen Wiederaufnahmeverfahren
Auf der Website Ihres Projektes rufen Sie dazu auf, dass sich rechtskräftig Verurteilte, die der Meinung sind, dass ihrer Verurteilung Fehler zugrunde liegen, an Sie wenden sollen. Wie ist die Resonanz bislang?
Nachdem wir im vergangenen Jahr unter schwierigen Corona-Bedingungen die Pilotphase des Projektes mit nur wenigen Studierenden abgeschlossen haben, können wir jetzt endlich richtig loslegen.
Derzeit werden rund 20 an uns herangetragene Fälle von Verurteilten, die allesamt zu längeren Haftstrafen verurteilt worden sind, darauf überprüft, ob sich in den Verfahren Anhaltspunkte für ein erfolgreiches Wiederaufnahmeverfahren finden. Das können z.B. neue Beweismittel im Sinne von § 359 Ziff. 5 Strafprozessordnung sein. Nach den Vorarbeiten der Studierenden werden dann am Ende Strafverteidiger:innen entscheiden, ob ein Wiederaufnahmeverfahren erfolgsversprechend ist.
In der Beschreibung Ihres Projektes verweisen Sie auf ähnliche Initiativen in den USA. Dort befassen sich etwa das Innocence Project oder das National Registry of Exonerations seit Jahrzehnten mit Fehlurteilen und ihren Ursachen. Sind andere Länder bei diesem Thema weiter?
In den USA herrscht eine andere Fehlerkultur als bei uns. Dort gibt es bei einigen Staatsanwaltschaften sogar eigene Überprüfungsdezernate, die Urteile auf Fehler abklopfen. Unsere Justiz ist hiervon noch weit entfernt. Kolleginnen und Kollegen zu überprüfen, bedeutet hierzulande eben auch immer, einem Profi zu signalisieren, dass er seinen Job möglicherweise nicht vernünftig ausgeübt hat. Das tut keiner gerne. Vielleicht ist das auch der Grund, warum wir aus den Reihen der Justiz bislang jedenfalls kaum Resonanz auf unser Vorhaben erfahren haben.
Audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung erforderlich
Die GroKo hat das Thema "materielle Gerechtigkeit" in der vergangenen Wahlperiode im Vergleich zu Ihrem Projekt rechtspolitisch eher spiegelverkehrt angefasst: Zulasten von Freigesprochenen, denen schwerste Straftaten wie z.B. Mord vorgeworfen wurde, ist jetzt eine Wiederaufnahme des Verfahrens möglich, wenn sich nach Rechtskraft des Freispruchs neue Beweise für ihre Schuld ergeben. Sehen Sie nun gesetzgeberischen Handlungsbedarf, um eine Wiederaufnahme zugunsten von rechtskräftig Verurteilten zu erleichtern?
Wir stehen noch am Anfang unserer Untersuchung, an deren Ende möglicherweise auch rechtspolitische Anregungen stehen können. Dem möchte ich nicht vorgreifen.
Schon jetzt lässt sich aber sagen, dass die Ausgestaltung eines Wiederaufnahmeverfahrens zugunsten eines Verurteilten nach gegenwärtiger Rechtslage sehr, vielleicht sogar zu aufwendig ist.
Außerdem hoffen wir, dass die neue Bundesregierung endlich die audiovisuelle Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung, die in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten bereits gängige Praxis ist, gesetzlich regelt. Die Strafrechtler:innen im Deutschen Anwaltverein haben an die künftige Regierung appelliert, umgehend mit der Organisation für die technische Ausstattung und der Planung der rechtlichen Rahmenbedingungen zu beginnen, damit endlich ein transparent protokolliertes Verfahren gewährleistet ist. Auch der "Arbeitskreis Alternativentwurf", eine Gruppe von ca. 20 Professor:innen, befasst sich mit dem Thema und wird einen Reformvorschlag vorlegen. Diesem Appell schließen wir uns an. Eine solche Dokumentation würde helfen, Fehlurteile zu vermeiden. Derzeit stellen die Erinnerungen der Richterinnen und Richter, gestützt auf eigene Mitschriften, das Fundament der Urteilsberatung dar.
Finanzierung mit Bordmitteln
Ihr Spezialgebiet ist die Strafvollzugsforschung. Wie wirken sich Fehlurteile bzw. vermeintliche Fehlurteile auf den Vollzugsalltag derjenigen aus, die mit einem Wiederaufnahmeverfahren liebäugeln?
Für diese Personengruppe ist der Vollzugsalltag teilweise mit erheblichen Schwierigkeiten und manchmal auch echten Nachteilen verbunden. Wenn ein zu einer längeren Haftstrafe Verurteilter der Auffassung ist, er sei zu Unrecht verurteilt, redet er nicht über die Tat und verhält sich im Gefängnis dann auch nicht so kooperativ, wie das eigentlich von ihm erwartet wird. Derartige "Tatleugner" können sich dann z.B Vollzugslockerungen manchmal abschminken – allerdings heißt das nicht automatisch, dass das Urteil wirklich falsch ist.
Ihre Kollegen und Sie haben bislang noch keine große Werbung für das Wiederaufnahme-Projekt betrieben. Warum?
Nun, in der Pilotphase des vergangenen Jahres fehlte uns schichtweg die personelle Ausstattung, um eingereichte Fälle angemessen zu bearbeiten. Jetzt aber können wir allein in der Law Clinic "Post-Conviction" der FU-Berlin auf 32 Studierende zurückgreifen.
Gibt es eigentlich seitens des Bundesjustizministeriums irgendeine Form der Unterstützung?
Bislang nicht. Wir erhalten keinerlei staatliche Förderung, sondern finanzieren das Projekt ausschließlich mit Bordmitteln. Vielleicht ändert sich das ja eines Tages.
Prof. Dr. Kirstin Drenkhahn lehrt an der Freien Universität Berlin Strafrecht und Kriminologie. Ihr Spezialgebiet ist die Strafvollzugforschung.
Projekt zur Wiederaufnahme im Strafverfahren: . In: Legal Tribune Online, 05.11.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46569 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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