Bei den Taten im Budapest-Komplex werden 3D-Modelle zum Beweis der Täterschaft herangezogen.Die Berechnung erfolgt mit KI. Der Beweiswert im Strafverfahren ist daher höchst fraglich, meinen Dominik Brodowski und Anne Zettelmeier.
"Schnellen Schrittes entfernte sich eine schlanke Jugendliche vom Tatort", "in gebückter Haltung hinkte ein alter Mann schleppend um die Ecke". Wenn Zeug:innen die Gangart einer Person beschreiben, um möglicherweise Aufschluss darüber zu geben, ob die jeweilige Person in ein Tatgeschehen involviert gewesen ist, bleibt viel im Ungefähren. Findige Forensiker:innen erhoffen sich genauere Antworten mithilfe der Digitalisierung: Ein individuelles 3D-Modell des Bewegungs- und Skelettapparats könne mit Tatortvideos abgeglichen werden, um eine Täter oder eine Täterin zu identifizieren.
Im anstehenden Gerichtsprozess am Oberlandesgericht (OLG) in Dresden um Johann G., den Lebensgefährten der rechtskräftig verurteilten Linksextremistin Lina E., stützt die Anklage die Beteiligung von G. an einem versuchten Mord auf ein solches 3D-Modell. Laut einem Abgleich mit Zeug:innenvideos von der angeklagten Tat soll es sich bei einer Person auf dem Fluchtvideo "äußerst wahrscheinlich" um Johann G. handeln.
Bereits zuvor, in dem ersten abgeurteilten Fall aus dem "Budapest-Komplex", wurde ein lasergestütztes 3D-Modell von der später Verurteilten Hanna S. angefertigt (LTO berichtete, Urt. v. 26.09.2025, Az. 8 St 3/24). Doch all das wirft mehrere Fragen auf: Welche Rolle kann ein 3D-Modell der Gangart im Strafverfahren überhaupt spielen? Auf welcher Rechtsgrundlage darf ein solches Modell erhoben werden? Und wie sicher muss die Übereinstimmung sein, damit sich Richter:innen darauf stützen dürfen?
Vergleich von Videoaufnahmen mit digitalem Skelett
Es gehört zur klassischen Tatortarbeit, diesen mit Fotos, Videos und zunehmend auch detaillierten Laser-Scans zu dokumentieren. Gleichermaßen ist es durch die Ermittlungsgeneralklausel des §§ 161 Abs. 1, 163 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) gedeckt, Videos von der Tat, die etwa Überwachungskameras oder Zeug:innen angefertigt haben, für ein Strafverfahren zu nutzen.
Findige Forensiker:innen versuchen neuerdings, aus solchen Videoaufnahmen ein digitales Skelett ("Rig") von Tatpersonen zu rekonstruieren. Anschließend erstellen sie aus detaillierten Aufnahmen der Beschuldigten ein 3D-Modell des Körpers und ebenfalls ein digitales Skelett. Beide digitalen Skelette lassen sich nun vergleichen: Stimmen beide weitgehend überein, so die Theorie, lasse sich anhand dessen die Tatperson der Tat überführen. Zusätzlich lässt sich ein solches digitales Skelett aber auch dazu nutzen, um die Tat virtuell nachzuspielen. Können die Bewegungsabläufe des digitalen "Rigs" der Tatperson nicht zu den Abläufen am Tatort passen, so soll dies die beschuldigte Person entlasten (zu alledem instruktiv Labudde, SIAK-Journal 4/2023, 28 ff.). Das alles ist innovativ und verspricht, nach den Proponenten dieser Technik, die Erforschung der materiellen Wahrheit im Strafverfahren zu verbessern. Wo aber sind die Haken?
Digitaler Zwilling auf Grundlage einer Norm für Fotos und Fingerabdrücke
Erster Dreh- und Angelpunkt ist es, dass ein digitales Skelett der Beschuldigten zu modellieren ist und hierfür detaillierte 3D-Aufnahmen ihrer Körper anzufertigen sind. Es wird also ein detaillierter digitaler Zwilling der Beschuldigten angefertigt – und dies auf eine "erweiterte erkennungsdienstliche Behandlung", also auf § 81b Abs. 1 StPO, gestützt. Aber kann diese Rechtsgrundlage – ursprünglich geschaffen für einfache Fotografien und die Analyse von Fingerabdrücken – tatsächlich als erkennungsdienstliche Allzweckwaffe eingesetzt werden?
Es stößt angesichts der Eingriffsintensität zurecht auf Kritik, dass diese Vorschrift zweckentfremdet wird, um das zwangsweise Entsperren von Mobiltelefonen mittels eines Fingerabdrucks zu rechtfertigen (LTO berichtete, Bundesgerichtshof (BGH), Beschl. v. 13.03.2025, Az. 2 StR 232/24). Gleichermaßen geht die Erstellung eines detaillierten digitalen Zwillings, den man sodann beliebig an einem virtuellen Tatort "in Szene" setzen kann oder missbräuchlich auch in beliebige andere Videos integrieren könnte, in der Eingriffsintensität weit über die klassischen erkennungsdienstlichen Maßnahmen hinaus.
Hier ist gesetzlich mehr Differenzierung geboten. Jedenfalls aber ist bei der Gewinnung des Vergleichsmaterials die Selbstbelastungsfreiheit zu beachten: Ein:e Beschuldigte:r muss Aufnahmen allenfalls dulden. Die beschuldigte Person darf aber nicht gezwungen werden, sich in einer bestimmten Weise aktiv zu bewegen – z.B. schnell zu laufen –, selbst wenn dies zur Gewinnung von aussagekräftigem Vergleichsmaterial erforderlich wäre.
Bewegungsabläufe können sich täglich ändern
Zweiter Kritikpunkt ist die Aussagekraft dieser neuen Technologie. In der Forensik ist eine technische Innovation nämlich gleichermaßen Segen wie Fluch: Ist die eingesetzte Methode – wie hier – noch neuartig und wenig erforscht, so wissen wir nur wenig über deren Ertrag. Anders als bei grundsätzlich unveränderlichen DNA-Spuren und individuellen Fingerabdrücken kann sich aber der Bewegungsablauf von Tag zu Tag verändern: Sei es, dass einem eine harte Bergtour in den Knochen steckt, dass man wegen eines verstauchten Knöchels hinkt oder dass ein Hexenschuss eine Menschen zu mumienhaften Bewegungen zwingt.
Noch wissen wir viel zu wenig darüber, wie einzigartig digitale Zwillinge sind und wie verlässlich sich ein digitales Skelett aus verrauschtem Bildmaterial vom Tatort rekonstruieren lässt. Werbesprüche basieren zu oft auf Studien unter Idealbedingungen – im Strafverfahren muss sich eine forensische Methode aber mit der harten Realität auseinandersetzen. Bis eine forensische Methode in mehreren Vergleichsstudien unter Realbedingungen reproduzierbar eine hohe Verlässlichkeit gezeigt hat, kann sie nicht mehr ein Indiz mit begrenzter Aussagekraft sein – denn auch die subjektive Überzeugung des Tatgerichts ist nicht gänzlich frei, sondern muss auf einer tragfähigen, objektiven Tatsachengrundlage beruhen.
KI-Berechnung wird Beweiswert zugesprochen
Vor allem aber wirft diese neue forensische Methode Grundsatzfragen auf, weil sie zur Generierung des digitalen Skeletts künstliche Intelligenz einsetzt (Labudde, SIAK-Journal 4/2023, 28 [32, 35]). Hier geht es auch nicht lediglich um eine Ausfilterung relevanter Bildinhalte, die sodann, möglichst unbeeinflusst durch eine KI-Klassifizierung, unabhängig durch einen Menschen bewertet werden (hierzu Brodowski/Hartmann/Sorge, NJW 2023, 583). Es ist hier das Ergebnis einer KI-"Berechnung" (die digitalen Skelette bzw. deren Ähnlichkeit), dem unmittelbar ein Beweiswert zugeschrieben wird.
Zwar verbietet die EU-Verordnung über künstliche Intelligenz einen solchen Einsatz von KI nicht. Auch führt sie, in ihrem Anhang III, ein solches KI-System auch nicht explizit als Hochrisikosystem auf, sodass die erhöhten Anforderungen der Artikel 8 ff. KI-Verordnung nicht unmittelbar greifen. Doch es besteht zumindest eine solche Nähe zu den dort genannten KI-Systemen in den Bereichen der Biometrie (Nr. 1) und Strafverfolgung (Nr. 6), dass dies zur Wachsamkeit veranlasst: Kann die KI nur mit qualitativ hochwertigen Daten aus wissenschaftlichen Experimenten umgehen, oder auch mit verrauschtem Videomaterial aus dem echten Leben? Wie divers waren die zum Training der KI verwendeten Daten – spiegeln diese hinreichend viele Kombinationen von Alter, Geschlecht, Körperbau und körperlicher Fitness wider? Welche Verzerrungen (Vorurteile bzw. "Bias") liegen den Trainingsdaten zugrunde und werden daher in den Ergebnissen reproduziert?
Solange diese KI-bezogenen Fragen nicht hinreichend geklärt sind, verdient diese Methode vor Strafgerichten keine – oder zumindest keine hohe – Akzeptanz; mehr als ein Puzzlestück kann ein Vergleich digitaler Skelette aktuell nicht liefern. Die Methode kann daher zwar ausreichen, um hinreichende Zweifel an der Täterschaft von Beschuldigten zu begründen. Für unseren Rechtsstaat ist sie aber noch nicht weit genug erforscht, um als zentrales Beweismittel die Verurteilung tragen zu können.

Anne Zettelmeier ist Mitarbeiterin, Prof. Dr. Dominik Brodowski Inhaber des Lehrstuhls für Europäisierung, Internationalisierung und Digitalisierung des Strafrechts und des Strafverfahrensrecht an der Universität des Saarlandes. Beide forschen im Ladenburger Kolleg "Technologische Intelligenz zur Transformation, Automatisierung und Nutzerorientierung des Justizsystems (TITAN)", gefördert von der Daimler und Benz Stiftung gefördert.
3D-Modell zur Analyse von Bewegungen von Tatverdächtigen: . In: Legal Tribune Online, 03.11.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58519 (abgerufen am: 13.11.2025 )
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