Suchtkranke Straftäter können in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden. Nachdem die Kliniken aus allen Nähten platzten, kam es 2023 zu einer Reform. Vollkommen geglückt ist diese nicht, meinen Alexander Baur und Jan Querengässer.
Mehr als 3.500-mal im Jahr verurteilten deutsche Strafgerichte 2021 einen Angeklagten mit Drogenproblemen zu einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB). Seit 2007 hat sich die Anordnungshäufigkeit dieser freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung verdoppelt.
Zu viel in den Augen des Gesetzgebers, der deswegen beschloss, das entsprechende gesetzliche Regelungsgefüge des StGB zu reformieren. Offen kommuniziertes Ziel der Reform: Anordnungszahlen deutlich und nachhaltig senken. Einmütig stimmten Fachverbände, Experten aus der psychiatrischen und juristischen Praxis sowie die Wissenschaft dieser Prämisse zu. Wohl auch, weil Maßregelvollzugskliniken aus allen Nähten platzten, vielerorts keine geordnete Behandlung mehr möglich war und verurteilte Straftäter mangels geeigneter Behandlungsplätze sogar bisweilen unmittelbar aus einer ohnehin rechtlich höchst kritischen Organisationshaft unbehandelt in die Freiheit entlassen werden mussten.
Allein bei der Frage, wie eine entsprechende Reform auszusehen habe, gingen die Meinungen auseinander. Während die Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) gleich die Abschaffung des gesamten Maßregelrechts mitsamt den Schuldfähigkeitsregelungen im StGB forderte, schlug die größte psychiatrische Fachgesellschaft (DGPPN) einen anderen Weg vor: Die Unterbringung in der Entziehungsanstalt solle zukünftig solchen Angeklagten vorbehalten sein, die einer forensischen Suchtbehandlung zustimmten und ihre Motivation durch aktive Teilnahme in vorgeschalteten Behandlungsangeboten der Justizvollzugsanstalten unter Beweis stellten.
Paradigmenwechsel blieb aus
Beide Lösungsansätze hätten nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der Konzeption des etablierten zweispurigen Sanktionenrechts bedeutet. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass sich der Gesetzgeber bei der im Oktober 2023 in Kraft getretenen Reform für einen moderateren Weg entschied und es bei der Nachschärfung einzelner, bereits etablierter Anordnungsvoraussetzungen des § 64 StGB beließ.
Er hielt sich dabei eins zu eins an einen Vorschlag, den eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zuvor erarbeitet hatte. Sie tagte unter Beteiligung von Behandlern und Trägern der forensischen Kliniken. Ende 2021 legte sie ihren Abschlussbericht vor. Am Gesetzestext des § 64 StGB ändert sich auf den ersten Blick nicht viel: Im ersten Satz wird ein Wort ein- und ein Nachsatz angefügt, im zweiten Satz wurden fünf Worte durch sechs andere ersetzt. Dennoch wirkt sich die Reform auf drei der fünf im Gesetzestext formulierten Eingangsvoraussetzungen des § 64 StGB deutlich aus.
Schwanken zwischen rechtlicher und psychiatrischer Terminologie
Die größte und wohl auch weitreichendste Änderung bezieht sich auf das Eingangskriterium des § 64 StGB: den Hang zum Substanzkonsum im Übermaß. Es muss also eine Abhängigkeitsproblematik gegeben sein, damit das gesteckte Ziel einer Unterbringung in der Entziehungsanstalt, nämlich einen Straftäter durch Suchtbehandlung ungefährlicher zu machen, überhaupt sinnvoll ist.
Heftig diskutiert wurde bereits in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, ob der "Hang" des § 64 StGB durch einen anderen Begriff ersetzt und einem psychiatrischen Sprachgebrauch angenähert werden sollte. Am Ende einigte man sich an dieser Stelle auf einen Kompromiss: Am "Hang" hielt man fest, ergänzte aber einen Nachsatz. So heißt es nun, der Hang erfordere "eine Substanzkonsumstörung, infolge derer eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit eingetreten ist und fortdauert". Diese Anordnungsvoraussetzung sorgfältig zu prüfen und ggf. zu bejahen, wird für Gerichte keine ganz leichte Aufgabe sein.
Unmögliche Behandlungserfolgsprognose
Eine ebenso große Herausforderung zeigte und zeigt sich nach wie vor in der Stellung der sogenannten Behandlungserfolgsprognose. Eine Unterbringung nach § 64 StGB darf nämlich nur dann angeordnet werden, "wenn aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten ist, die Person durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt (…) zu heilen oder über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen". Vor der Reform brauchte es noch keine "tatsächlichen Anhaltspunkte", es musste nur "eine hinreichend konkrete Aussicht" auf Behandlungserfolg bestehen.
Auch wenn sich die Formulierung änderte – die Aufgabe für forensische Sachverständige bleibt am Ende dieselbe. Aus empirischer Perspektive kann man sich nur wundern. Denn 30 Jahre Forschung zu Prognosefaktoren haben eindrücklich gezeigt, dass es kaum möglich ist, einen Behandlungserfolg im Einzelfall auch nur halbwegs zuverlässig vorherzusagen.
Zusammenhang zwischen Tat und Sucht präzisiert
Eine Schärfung erfuhr schließlich der geforderte Zusammenhang zwischen Abhängigkeitsproblematik und dem Anlassdelikt. Schon vor der Neuregelung musste das begangene Delikt einen "Symptomwert" für den Hang aufweisen. In der Praxis war der Zusammenhang zwischen Tat und Drogenabhängigkeit aber auch schon dann bejaht worden, wenn die begangene Straftat und der Substanzkonsum in irgendeinem inneren Verhältnis zueinanderstanden. Es kam damit vermehrt zu Einweisungen von Straftätern, die zwar auch konsumierten, deren Taten aber nur entfernt auf den Substanzkonsum zurückzuführen waren.
Dieser fragwürdigen Entwicklung versuchte der Gesetzgeber nun einen Riegel vorzuschieben, indem er das Wort "überwiegend" in die entsprechende Passage einfügte. Erforderlich ist nun also eine "rechtswidrigen Tat, die überwiegend auf ihren Hang zurückgeht".
Vertane Chancen
Das Gesetz ist kein (ganz) großer Wurf. Der von manchen erhoffte und von anderen befürchtete Paradigmenwechsel blieb aus. Ob man darin Umsichtigkeit oder Mutlosigkeit erkennt, mag kontrovers diskutiert werden.
Bedauerlich scheint es jedenfalls, dass der Gesetzgeber nicht die Gelegenheit genutzt hat, überkommene Begrifflichkeiten zu modernisieren. Weder der Begriff "Entziehungsanstalt" noch der des "berauschenden Mittels" entsprechen heute auch nur noch entfernt dem Sprachgebrauch jenseits der Gerichtssäle. Mit der "forensischen Klinik für Abhängigkeitserkrankung" und "psychoaktiven Stoffe" hätten zeitgemäß-passende Begriffe zur Verfügung gestanden. Eine begriffliche Modernisierung – wie zuletzt bei den Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB – wäre wünschenswert gewesen.
Befremdlich wirkt das Festhalten des Gesetzgebers an der Notwendigkeit einer individuellen Behandlungserfolgsprognose als fünftes Eingangskriterium für die Anwendung des § 64 StGB. Es geht zwar auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1994 (Beschl. v. 16.3.1994, Az. 2 BvL 3/90 u.a.) zurück. Eine sachkundige Lektüre dieser Entscheidung hätte aufzeigen können, dass es hier verfassungsrechtlich durchaus Regelungsspielräume gibt. Es wäre klug gewesen, diese zu nutzen. So bleibt es dabei, dass Gutachter und Gerichte eine Frage gestellt bekommen, die unmöglich seriös zu beantworten ist. Normative Forderungen können empirische Grenzen nicht verschieben. Und daran können auch Umformulierungen nichts ändern.
Was lässt sich aus all dem ableiten? Die Revolution "im 64er" blieb aus, bestehende Herausforderungen bleiben erhalten, neue kommen hinzu. Die Diskussion um die Zukunft dieser ebenso beliebten wie umstrittenen Maßregel wird also nach der Novelle nicht abflauen. Im Gegenteil, vermutlich wird sie weiter an Fahrt aufnehmen. Mit anderen Worten: Nach der Reform ist vor der Reform!
Prof. Dr. Alexander Baur ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Kriminologie der Universität Göttingen.
Dr. Jan Querengässer ist Privatdozent an der FernUniversität in Hagen und tätig am LVR-Institut für Versorgungsforschung (Köln) sowie am Institut für Qualitätsmanagement des Maßregelvollzugs in Bayern (IfQM, Regensburg).
Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen, der in der Zeitschrift "StV – Strafverteidiger", Heft-3, 2024, erscheinen wird. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.
Suchtbehandlung von Straftätern: . In: Legal Tribune Online, 18.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54136 (abgerufen am: 04.12.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag