Das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht wurde in Deutschland in den letzten Jahren kontinuierlich ausgeweitet. Auch die neue Koalition aus Union und SPD will diesen Trend fortsetzen. Eine problematische Entwicklung, findet Frauke Rostalski.
Verschärfungen im Strafgesetzbuch (StGB) gab es zuletzt en masse. Ein Bereich verdient dabei besondere Aufmerksamkeit: Die Ahndung bestimmter Meinungsäußerungen.
Verschärft wurden in den letzten Jahren die Beleidigungstatbestände – beispielsweise durch die Einführung der verhetzenden Beleidigung (§ 192a StGB), die allgemeine Erhöhung von Strafrahmen und die Ausweitung des § 188 StGB (Gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung) auf die kommunale Ebene und die Veränderung in ein relatives Antragsdelikt. Daneben wurde der Vorschrift der Volksverhetzung (§ 130 StGB) ein neuer Absatz verliehen, der unter bestimmten Voraussetzungen das Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen völkerstrafrechtlicher Verbrechen erfasst.
Außerhalb des StGB ist im Zusammenhang mit neuen Sanktionsbewehrungen für Meinungsäußerungen an die Vorschrift des sogenannten "Dead Namings" zu denken, die im Selbstbestimmungsgesetz angesiedelt ist und es ahndet, eine Person mit dem Namen anzusprechen, den sie vor einer Personenstandsänderung getragen hat. Und auch Meinungsäußerungen, die sich gegen Schwangerschaftsabbrüche richten, können seit Kurzem unter bestimmten Voraussetzungen sanktioniert werden – zum Schutz Schwangerer, die sich in der Nähe einer Beratungsstelle oder einer Einrichtung aufhalten, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen.
Im Koalitionsvertrag vorgesehene Strafverschärfungen
Der frisch ausgehandelte Koalitionsvertrag von Union und SPD sieht nunmehr Verschärfungen vor, die mitunter noch über das Eingriffsniveau der bisherigen Gesetzeslage hinausgehen. So wollen die Koalitionäre "im Rahmen der Resilienzstärkung unserer Demokratie" den Entzug des passiven Wahlrechts bei mehrfacher Verurteilung nach § 130 StGB regeln. Die Vorschrift soll zum Schutz vor Hass und Hetze weiter verschärft werden. Auch soll eine mögliche Strafbarkeit des Teilens von antisemitischer und extremistischer "Hetze" in geschlossenen Chatgruppen durch Amtsträger und Soldaten im Zusammenhang mit der Dienstausübung geprüft werden. Und es ist ein Verbot des Einsatzes von Bots und Fake Accounts geplant, wenn diese zur Informationsmanipulation verwendet werden.
Ferner soll eine "staatsferne Medienaufsicht" gegen Fake News, Hass und Hetze vorgehen können, wobei noch unklar ist, ob damit auch Folgen für das Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht einhergehen werden, wie dies während der Koalitionsverhandlungen öffentlich verlautbart wurde.
Geringfügige Ehrangriffe auf Politiker hart geahndet
Doch nicht bloß regulatorische Zugriffe auf die Meinungsfreiheit erleben eine Konjunktur. In der jüngeren Zeit finden immer wieder einzelne Strafverfahren Eingang in die öffentliche Debatte, die sich um an ihrem Verhaltensunrecht bemessen geringfügige Ehrangriffe auf Politikerinnen und Politiker drehen. Dabei geht es um Äußerungen wie "Schwachkopf", "Vollidiot", "Vollpfosten", "dümmste Außenministerin der Welt", "aufgedunsene Dampfnudel", "bösartige Versager", "Kriegstreiberin", "dahergelaufene[r] Trottel", "korrupte[r] Speichellecker" und "Drecks Suffkopf". Zuletzt berichteten die Zeitungen über ein Meme, das die Bundesinnenministerin Nancy Faeser mit einem Schild vor der Brust zeigt, auf dem der Satz steht: "Ich hasse die Meinungsfreiheit!" – für den Post des manipulierten Bildes wurde eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten auf Bewährung ausgeurteilt.
Es wirkt, als würde der Staat heute weniger tolerant mit verbalen Angriffen umgehen als noch vor einigen Jahren – insbesondere, wenn es um Beleidigungen oder Ehrverletzungen gegenüber Politikern geht. Die Reaktion fällt mittlerweile deutlich entschlossener aus, und der Meinungsfreiheit im politischen Kontext wird weniger Raum eingeräumt.
Ein Vergleich: Während ihrer Amtszeit entschied sich Angela Merkel bewusst dagegen, strafrechtlich gegen Beleidigungen, Verleumdungen oder üble Nachrede vorzugehen. Lange Zeit galt: Politiker brauchen ein dickes Fell. Doch diese Haltung hat sich spürbar verändert. Heute zeigen Politiker wie Robert Habeck, Nancy Faeser, Agnes Strack-Zimmermann oder Friedrich Merz verbale Angriffe konsequent an – selbst dann, wenn diese allenfalls geringfügige strafrechtliche Relevanz haben. Die Strafverfolgungsbehörden reagieren entsprechend und ahnden Taten, die (wenn überhaupt) am unteren Rand des jeweilig denkbaren Verhaltensunrechts liegen.
Phänomen "Diskursvulnerabilität"
Die Ausweitung von Meinungsäußerungsdelikten, die verstärkte Ahndung von Ehrangriffen, die noch vor wenigen Jahren als Bagatelle eingestuft und auf den Privatklageweg verwiesen worden wären – sie fügen sich in das Bild einer Gesellschaft, die in ihren Debatten verletzlicher geworden ist. Ich bezeichne dieses Phänomen als "Diskursvulnerabilität".
Gemeint ist eine besondere Verletzlichkeit im Gespräch. Worte können verletzen, nicht erst dann, wenn sie die Grenze zur strafbaren Beleidigung überschreiten. Diskursvulnerabilität ist nach meiner Einschätzung ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, das gerade in den letzten Jahren erheblich um sich greift. Sie äußert sich insbesondere in aufgeladenen Debatten wie jenen über die Pandemie, den Ukraine-Krieg oder den Klimawandel.
Menschen zeigen zunehmend die Bereitschaft, die eigene Meinung moralisch so erheblich aufzuladen, dass sie mehr oder minder zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit wird. Dies erschwert den sachlichen Diskurs, da Sachargumente als Angriff auf die eigene Person fehlgedeutet werden. Die erwartbare Reaktion ist dann eine nicht sachbezogene, sondern emotionale: Das gesamte Gesprächsthema, der jeweilige Gesprächspartner oder zumindest ein spezifisches Argument werden rundheraus abgelehnt, und es kommt zu Lagerbildung.
Dieser Mechanismus zeigte sich in der Pandemie im Umgang der Vertreter des "Teams Sicherheit" mit jenen des "Teams Freiheit" und umgekehrt. Er setzte sich fort in der Debatte um die Frage, wie Deutschland auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine reagieren soll – Lieferung schwerer Waffen, ja oder nein? Friedensverhandlungen, ja oder nein? Und auch im Zusammenhang mit dem Klimawandel drängt sich der Eindruck eines eigentümlichen Bekenntniszwangs auf, frei nach dem Motto: "Bist du nicht für die nationale Reduktion von CO2, bist du gegen mich!", mit dem Ergebnis, dass jede sachliche Kritik an der Sinnhaftigkeit nationaler Klimaschutzmaßnahmen zum Ausdruck einer unökologischen und damit verdammungswürdigen Haltung verkommt.
Offenes gesellschaftliches Gespräch in Gefahr
Diskursvulnerabilität führt auf diese Weise zu Schließungen des offenen gesellschaftlichen Gesprächs. Menschen halten sich mit ihrer politischen Meinungsäußerung zurück, weil sie befürchten, in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden und dadurch als gleichberechtigter Gesprächspartner für andere auszuscheiden.
Einen Beleg dafür, dass Strafverschärfungen im Bereich der freien Rede und die verstärkte Ahndung selbst geringfügiger Ehrangriffe Ausdruck der beschrieben Diskursvulnerabilität sind, liefert das Motiv "Resilienzstärkung unserer Demokratie" im aktuellen Koalitionsvertrag: Wer Resilienz fördern will, geht davon aus, dass Verletzlichkeiten im Spiel sind, die es auszugleichen gilt. Dem entspricht es, dass Ausweitungen der Beleidigungstatbestände bereits in der jüngeren Vergangenheit mit dem zusätzlichen Schutz derer begründet wurden, die davon in besonderer Weise betroffen sind – vor allem Angehörige sozial marginalisierter Gruppen.
Und nicht bloß Meinungskundgaben bergen Risiken für andere bzw. das demokratische Miteinander, vielmehr gilt dies auch für Falschinformationen, die sich vor allem über digitale Medien schnell verbreiten können. Sie gefährden die gemeinsame epistemische Basis, auf der eine Gesellschaft aushandelt, wie sie ihr Miteinander gestalten will. Gehen die Bürger von ganz unterschiedlichen Wirklichkeitsvorstellungen aus, liegt es nahe, dass sich eine Einigung darüber, wie mit der jeweiligen gesellschaftlichen Herausforderung angemessen umzugehen ist, kaum mehr erzielen lässt.
Verkürzung der Meinungsfreiheit
Ganz unabhängig davon aber, wie die Gesetzesänderungen bzw. die Ahndungspraxis von Strafverfolgungsbehörden im Ergebnis individuell bewertet werden, sind sie zunächst einmal eines: eine Verkürzung der Meinungsfreiheit.
Diese liegt zum einen darin, dass die Räume zulässiger Meinungskundgaben rechtlich verkürzt werden. Zum anderen ist bekannt, dass Menschen zu Übersteuerungen neigen, um regelkonformes Verhalten zu erreichen. Im Zusammenhang mit Meinungsäußerungen heißt das konkret, dass die Sorge darüber, sich der Strafverfolgung auszusetzen, Mechanismen der Selbstzensur nach sich zieht – und zwar im Hinblick auf die eigentlich rechtlich zulässige Ausübung des Grundrechts der Meinungsfreiheit.
Auch sogenannte "Fake News" lassen sich nicht ohne Weiteres mit dem lapidaren Hinweis auf die rechtlich richtige Aussage, dass bewusste unrichtige Tatsachenbehauptungen nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, abwinken und einer rechtlichen Regulierung unterziehen. Denn das Problem liegt häufig gerade in der Frage, was "wahr" ist. Dass sich vermeintlich stabile "Wahrheiten" durchaus erschüttern lassen, hat die Geschichte immer wieder gezeigt. Ein jüngstes Beispiel liefert die sogenannte "Laborthese": War die Äußerung, dass das Coronavirus einem Labor entstammte, vor ungefähr fünf Jahren noch sicherer Garant dafür, ganz tief ins Lager der "Querdenker" verschoben zu werden, spricht heute vieles für die Richtigkeit der Annahme. Das kleine Beispiel zeigt: Mit der "Wahrheit" sollte demütig verfahren werden, staatliche Zurückhaltung ist auch deshalb geboten, um relevante gesellschaftliche Entwicklungen, die über Diskurse stattfinden, nicht zu blockieren.
Diskursvulnerabilität erschwert demokratisches Miteinander
Es bestehen vor diesem Hintergrund ernstliche Zweifel, dass derjenige richtig ansetzt, der Demokratie und gesellschaftlichen Diskurs durch immer weitere strafrechtliche Eingriffe in die Meinungsfreiheit resilienter machen will. Die freiheitliche Demokratie ist auf den offenen Diskurs als ihr Herzstück angewiesen. Dieser ermöglicht erst die gesellschaftliche Aushandlung derjenigen Fragen und Herausforderungen, die sich an die Gemeinschaft stellen.
Staatliche Eingriffe ebenso wie allzu weitgehende individuelle Empfindlichkeiten hemmen das Gespräch und führen schlimmstenfalls dazu, dass relevante Argumente kein Gehör finden, ganze Themen ausgespart oder Sprecher aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Diskursvulnerabilität als ein Phänomen, das gesamtgesellschaftlich um sich greift, erweist sich als Hemmschuh für eben jene freien Deliberationsprozesse, die so essenziell für das demokratische Miteinander sind. Noch schwerer wiegt es, wenn der Staat – zumal mit den Mitteln des Strafrechts – in diesen Reigen einstimmt und Resilienz dadurch zu fördern glaubt, dass er Gespräche ganz unterbindet.
Es entsteht schnell der Eindruck, dass kritische Stimmen mit strafrechtlichen Mitteln zum Schweigen gebracht werden sollen – und zwar durch genau jene, die sich durch diese Kritik hinterfragt sehen.
Frau Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der juristischen Fakultät der Universität zu Köln. 2024 veröffentlichte sie im C.H.Beck-Verlag das Werk "Die vulnerable Gesellschaft", das für den Deutschen Sachbuchpreis 2024 nominiert war und inzwischen in 4. Auflage erschienen ist.
Die verletzliche Gesellschaft und das Strafrecht: . In: Legal Tribune Online, 23.04.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/57051 (abgerufen am: 14.05.2025 )
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