Der Faktor Zeit bei der Einlassung des Angeklagten: Auch spät kann früh genug sein

Gastbeitrag von Dr. Yves Georg

24.08.2022

"Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben". Anderes gilt im Strafprozess für den, der zu spät bestreitet, wieder anderes für den, der früh genug gesteht. Die Relevanz des Zeitpunkts der Einlassung des Angeklagten erläutert Yves Georg

"Ein frühzeitiges Geständnis wirkt sich erheblich strafmildernd aus." Das weiß jeder, der einmal in einem Strafprozess dem "Belehrung über das Schweigerecht" genannten Tanz zwischen Vorsitzendem und Angeklagtem beigewohnt hat. Dass dies und gar mehr – von "extrem (!) strafmildernd" soll die Rede gewesen sein – gleichermaßen für eine, zumal nicht eben frühzeitige, "geständnisgleiche Einlassung" gelten soll, konnte man zuletzt vom Landgericht Bonn im Strafverfahren gegen Dr. Hanno Berger hören.   

Stellt etwa ein Sportwagen-Enthusiast allerdings in Aussicht, für ein "porschegleiches Auto" dasselbe wie für den Porsche selbst zahlen zu wollen, sollte der Sportwagenhändler ebenso misstrauisch werden wie der Kunde, wenn ihm der Händler beides zum gleichen Preis verkaufen will. Dass der dem Wahl-Schweizer zur Verfügung gestellte Instrumentenkasten beim Landgericht Bonn größer zu sein scheint als anderswo, liegt dabei sicherlich nur daran, dass sich Arbeit dort nach den Worten des Vorsitzenden abkürzen lässt, wenn man sie nicht machen muss.

Gestehen: Je früher daran – desto schneller davon 

Normativ "früh" ist ein Geständnis vor allem dann, wenn die Beweislage noch recht dünn, jedenfalls aber nicht erdrückend ist. So hat der 5.  Strafsenat des BGH mit Urteil vom 20.7.2022 (5 StR 29/22)* in einem Encrochat-Verfahren klargestellt, dass der Tatrichter das frühzeitige Geständnis des Angeklagten mit Blick auf die seinerzeit noch bestehende Unklarheit der Verwertbarkeit von Encrochat-Daten "als nicht 'nur taktisch motiviert', sondern als 'besonders werthaltig' und von aufrichtiger Reue getragen" bewerten durfte. Dem Geständnis konnte damit "trotz gewichtiger belastender Beweismittel ein ungemindertes strafmilderndes Gewicht" beigemessen werden. 

Das entspricht zwar nicht schon immer, aber doch seit langem der ständigen Rechtsprechung und ist auch von einiger Rationalität: Wer reuig gesteht, obwohl womöglich auch eine Freispruchstrategie mit Blick auf die Beweislage nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre, soll nachvollziehbarerweise bei der Strafzumessung bessergestellt sein als der, der "taktisch" mit dem Rücken an der Wand gesteht, weil jede andere Form der "Verteidigung" ohnehin völlig aussichtslos wäre. 

Bestreiten: Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt 

Gewissermaßen umgekehrt liegen die Dinge beim bestreitenden Angeklagten, bei dem es auf den frühen oder späten Zeitpunkt einer Einlassung als solchen für die Bewertung ihrer Glaubhaftigkeit gerade nicht ankommen darf. Diese Rechtsprechung hat der 1. Strafsenat des BGH mit Beschluss vom 1.6.2022 (1 StR 139/22) noch einmal bekräftigt: 

Das Landgericht hatte die Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung im Wesentlichen auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt und die bestreitende Einlassung, die der Angeklagte nach deren Vernehmung abgegeben hatte, für unglaubhaft gehalten. Zur Begründung verwies es auf das "ausgesprochen taktische Aussageverhalten" des Angeklagten, der zu Beginn der Hauptverhandlung noch geschwiegen und, was "auffällig" sei, erst nach der Vernehmung der Nebenklägerin seine bestreitende Einlassung abgegeben habe. 

Der BGH hat das tatrichterliche Urteil auf die Sachrüge aufgehoben und die Sache zurückverwiesen, weil das Landgericht "in unzulässiger Weise aus dem anfänglichen Schweigen des Angeklagten für diesen nachteilige Schlüsse gezogen" habe: Danach gewährleistet der Nemo-tenetur-Grundsatz (Selbstbelastungsfreiheit) auch, dass der Angeklagte keine Prüfung seiner Motive für das Gebrauchmachen von seinem Schweigerecht befürchten muss.  

Zeitpunktsrelevanz durch die Hintertür  

Offenbar um Missverständnissen vorzubeugen, stellt der 1. Strafsenat des BGH aber auch klar, dass der bestreitenden Einlassung des Angeklagten nach der Rechtsprechung dann ein geringerer Beweiswert beigemessen werden kann, wenn sie in Kenntnis der Aussage der Nebenklägerin und mit der Möglichkeit der Abstimmung auf diese Aussage und auf "die bisherigen Ermittlungserkenntnisse" abgegeben worden sei. 

Unproblematisch ist dieser der freien tatrichterlichen Beweiswürdigung überantwortete "Beweiswertabschlag" freilich nicht: Je weiter die Ermittlungen und damit die Zeit vorangeschritten sind, desto mehr hat der Beschuldigte – gleichsam ohne sich dessen überhaupt erwehren zu können – die Möglichkeit, seine Einlassung den "bisherigen Ermittlungserkenntnissen" anzupassen. Es soll, so hört man, schon Verfahren gegeben haben, bei denen Verteidiger und Angeklagter vor Beginn der Hauptverhandlung die zuvor tagelang vorbereitete Einlassung minutiös auf deren Vereinbarkeit mit der Indizienlage der Akte abgeklopft haben. Es soll gar Verteidiger geben, die alles andere für einen glasklaren Kunstfehler halten.  

Der Kelch muss stimmen, nicht sein Inhalt! 

Darf dem Angeklagten aber (schon) die Möglichkeit (!) zum Nachteil gereichen, seine Aussage an die Ermittlungsergebnisse anzupassen, und erweitert sich diese Möglichkeit mit voranschreitender Zeit, so wird der kluge Tatrichter schon die passende Formulierung finden, dem Angeklagten sein spätes Einlassungsverhalten unter dem Stichwort "geminderter Beweiswert wegen Anpassungsmöglichkeit" zu vergelten – Der Kelch muss stimmen, nicht sein Inhalt!  

Das steht umso mehr zu befürchten, wenn das Revisionsgericht hierzu bisweilen – entgegen der selbst proklamierten Dogmatik – ausdrücklich einlädt: "Im Hinblick auf die Möglichkeit einer Anpassung der Einlassung an die Ergebnisse der Beweisaufnahme kann auch der Zeitpunkt, zu dem sich ein Angeklagter zur Sache einlässt, ein Umstand sein, der im Rahmen der Gesamtwürdigung gegen die Glaubhaftigkeit der Einlassung spricht." (2 StR 78/16; 2 StR 110/17) Weil den Tatrichtern an der Erhaltung gerade dieses Refugiums ihrer freien Beweiswürdigung besonders gelegen sein wird, hat die klarstellende Einordnung des BGH zu befürchtenden Schnappatmungen gerade nochmal vorgebeugt – Erwartungen sind eben Erwartungen. 

Ist, gekonntes Verklausulieren vorausgesetzt, das eine vom anderen im Wesentlichen nur von Alchemisten zu trennen, verliert vor allem der Angeklagte: 

"Soll er halt die Wahrheit sagen" – Von wegen! 

Lässt er sich möglichst früh bestreitend ein, riskiert er, dass seine Einlassung mit späteren objektiven Ermittlungserkenntnissen nicht vereinbar und deshalb unglaubhaft ist. "Soll er halt die Wahrheit sagen, dann kann ja wohl nichts passieren", meint da die Lebenserfahrung, die sich allenfalls wegen Steuerhinterziehung, Marihuana-Besitzes und Verkehrsstraftaten schuldig gemacht hat, also potenziell jeder. Von wegen: Auch wer nach bestem Wissen und Gewissen Objektives und Subjektives über einen Jahre zurückliegenden, komplexen Geschehensablauf – im Streit, im Wirtschaftsleben, in einer Beziehung – berichtet, wird ungeleitet in aller Regel keine Version präsentieren, die nicht jedenfalls windschief zur einen oder andere "Ermittlungserkenntnis" liegt. Ungleich schwieriger wird es, wenn die Ermittlungserkenntnisse nicht objektiver Natur sind, namentlich, wenn es sich dabei um Zeugenaussagen von Nebenklägern und weiteren Interessierten handelt. Manchmal, bei Leibe aber nicht immer, kann das durch sachgerechtes Entgegnen auf Vorhalte gerade gebogen werden. In allen anderen Fällen entscheidet unbewusste Voreingenommenheit mit. 

Macht der Angeklagte hingegen angesichts dieser Risiken zunächst von seinem Schweigerecht Gebrauch und äußert er sich erst später, womöglich gar, nachdem die Beweisaufnahme weit fortgeschritten ist, so muss er mitunter befürchten, einem "geminderter Beweiswert wegen Anpassungsmöglichkeit" genannten faktischen Rien-ne-vas-plus zu begegnen. 

Mal so, mal so: kompliziert und nicht zu empfehlen 

Keine allzu geeignete Lösung des Dilemmas für den Angeklagten ist daher der vermeintliche Zwischenweg, sich zunächst einmal frühzeitig, bevor alle Ermittlungserkenntnisse auf dem Tisch liegen, mit der Überlegung einzulassen, diese Aussage später noch an hinzukommende Ermittlungserkenntnisse "anpassen" zu können. Sagt der Angeklagte nämlich mal so und mal so aus, gilt seit jeher, dass auch ein Wechsel der Einlassung ein Indiz für deren Unglaubhaftigkeit sein und deren Beweiswert so ebenfalls verringern oder gar ganz entfallen lassen kann (2 StR 78/16). Diskutiert wurde diese Problematik, allerdings mit der weiteren Umdrehung der Wirkung für Dritte, aktuell wieder in der Revisionshauptverhandlung des Lübcke-Verfahrens vor dem BGH.  

Resumee 

Die Zulässigkeit (und Gebotenheit) der Berücksichtigung einer möglichst frühzeitigen geständigen Einlassung zugunsten des Angeklagten einerseits und die Unzulässigkeit der Berücksichtigung einer späten bestreitenden Einlassung zuungunsten des Angeklagten andererseits sind wertungsmäßig überzeugend: 

Schweigt ein Angeklagter – wie im Fall des 1. Strafsenats – zunächst und lässt er sich spät(er) bestreitend ein, kann die bestreitende Einlassung nicht allein deshalb als unrichtig gewertet werden, weil sie so spät kommt. Denn anderenfalls würde dem Angeklagten unzulässigerweise das vormalige Gebrauchmachen von seinem Schweigerecht angelastet. Dass allerdings die Möglichkeit, die Einlassung auf die bisherigen Ermittlungserkenntnisse abzustimmen, einen "Beweiswertabschlag" rechtfertigen soll, erlaubt es dem Tatrichter, diese stimmige Rechtsprechung zu unterlaufen. 

Lässt sich ein Angeklagter hingegen – wie im Fall des 5. Strafsenats – früh geständig ein, darf (und muss) das zu seinen Gunsten gewertet werden, insbesondere dann, wenn das Geständnis nicht nur eine ohnehin schon völlig klare und unzweifelhafte, verwertbare Beweislage bestätigt und damit keinen echten „Mehrwert“ für den Tatnachweis hat. 

Vergröbernd gesagt gilt also: Dass eine bestreitende Einlassung spät kommt, darf nicht strafbegründend gewertet werden, dass eine geständige Einlassung früh kommt, muss strafmildernd berücksichtigt werden. 

Dr. Yves Georg ist Strafverteidiger und Partner der insbesondere auf Revisionen spezialisierten Kanzlei Schwenn & Kruse Rechtsanwälte in Hamburg. 

* In einer früheren Version hieß es fälschlicherweise "Urteil vom 22.07.2022...". Das Urteil mit dem Az. 5 StR 29/22 datiert aber auf den 20.07.2022.

Zitiervorschlag

Der Faktor Zeit bei der Einlassung des Angeklagten: Auch spät kann früh genug sein . In: Legal Tribune Online, 24.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49417/ (abgerufen am: 16.04.2024 )

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