Auf den letzten Metern der Legislatur sorgt noch ein Antrag für Wirbel: SPD und Grüne wollen die §§ 218 ff. StGB reformieren. Auf die FDP könnte es ankommen. Die Union hat verfassungsrechtliche Bedenken.
"Das Gesetz legt die Bedingungen fest, unter denen die der Frau garantierte Freiheit, einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, ausgeübt wird" - so lautet seit dem 8. März Artikel 34 der französischen Verfassung. Frankreichs Präsident Macron hatte mit dem Vorschlag für eine Verfassungsänderung auf massive Verschärfungen des Abtreibungsrechts in einigen US-Bundesstaaten reagiert. Dort hatte der Oberste Gerichtshof in einem umstrittenen Grundsatzurteil die ihrerseits umstrittenen Urteile Roe v. Wade (1973) und Planned Parenthood v. Casey (1992) revidiert, in denen das Gericht ein Recht auf Abtreibung aus der US-Verfassung hergeleitet hatte. In Deutschland war die Diskussion in den letzten Jahrzehnten im Vergleich dazu weniger kontrovers - doch auch hierzulande kommt jetzt Bewegung in die Debatte. Nach der schon 2022 erfolgten Streichung des § 219a StGB bringen Abgeordnete von SPD und Grünen das Thema kurz vor der Wahl erneut auf die Tagesordnung. Ihr Entwurf sieht vor, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche künftig nicht mehr bloß straffrei, sondern rechtmäßig sein sollen. Zudem soll der ganze Themenkomplex nicht mehr im Strafgesetzbuch (StGB) geregelt werden. 327 Abgeordnete haben den Antrag bislang unterzeichnet.
Rechtswidrigkeit trotz Tatbestandsausschluss
In Deutschland werden jährlich ca. 100.000 Abtreibungen durchgeführt. Den rechtlichen Rahmen hierfür bilden die §§ 218 ff. StGB und das Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (SchKG). § 218 StGB stellt den Schwangerschaftsabbruch sowohl für den Arzt (Abs. 1 und 2) als auch für die Schwangere (Abs. 3) unter Strafe. Gem. § 218a Abs. 1 StGB ist der Tatbestand aber nicht verwirklicht, wenn drei Tage vor dem Abbruch eine Beratung nach dem SchKG stattgefunden hat und seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.
§ 219 StGB stellt Leitlinien für die Beratung nach dem SchKG auf: Sie dient nach dem Gesetzeswortlaut "dem Schutz des ungeborenen Lebens" (Abs. 1 S. 1) und soll die Schwangere zur Fortsetzung der Schwangerschaft ermutigen und Perspektiven für ein Leben mit dem Kind eröffnen (Abs. 1 S. 2).
Der Tatbestandsausschluss gem. § 218a Abs. 1 StGB führt aber nicht etwa dazu, dass der Schwangerschaftsabbruch rechtmäßig wäre. Die herrschende Meinung in der Strafrechtslehre geht davon aus, dass der Schwangerschaftsabbruch auch bei Eingreifen des Tatbestandsausschlusses rechtswidrig ist.
BVerfG: Grundsätzlicher Vorrang des Lebensschutzes
Diese Interpretation von § 218a Abs. 1 StGB geht auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zurück, das sich in zwei Senatsentscheidungen zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen für eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs geäußert hat. Die Entscheidungen dürften allen, die Jura studiert haben, auch deshalb bekannt sein, weil das Gericht hier die Figur der grundrechtlichen Schutzpflicht mit dem dazugehörigen Maßstab des Untermaßverbots entwickelte.
Die erste Entscheidung erging 1975 (Urt. v. 25.02.1975, Az: 1 BvF 2/74). Die sozialliberale Koalition hatte im Rahmen ihrer gesellschaftspolitischen Liberalisierung eine sog. Fristenlösung eingeführt. Hiernach sollten Schwangerschaftsabbrüche in den ersten drei Monaten straffrei sein. Das BVerfG beanstandete die Regelung. Es stellte fest: "Das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung (Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 1 Abs. 1 GG)." Diesem Schutzauftrag werde die Fristenlösung nicht gerecht, denn: "Der Lebensschutz der Leibesfrucht genießt grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und darf nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden." Wegen dieses Vorrangs sei der Gesetzgeber äußerstenfalls "verpflichtet, zur Sicherung des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen".
Eine Umkehr dieses Vorrangverhältnisses sei nur in bestimmten Ausnahmefällen indiziert, in denen der Abbruch dann straffrei sein sollte, etwa bei einer Gesundheitsgefährdung für die Schwangere oder einer drohenden sozialen Notlage. Diese Rechtsprechung der Senatsmehrheit gegen ein Sondervotum der Richterin Rupp-von Brünneck und des Richters Simon wurde 1976 als sog. Indikationslösung kodifiziert.
Die zweite Entscheidung erging 1993 (Urt. v. 28.05.1993, Az. 2 BvF 4/92). Der Gesetzgeber hatte unter der schwarz-gelben Koalition Helmut Kohls eine Reform des Abtreibungsrechts beschlossen. Es sollte erneut eine Fristenlösung eingeführt werden. Hintergrund war, dass in der DDR eine Fristenregelung von zwölf Wochen gegolten hatte: Dort war der Schwangerschaftsabbruch zu Beginn der Schwangerschaft rechtmäßig. Bei der Neuregelung sollte die Fristenlösung allerdings durch eine Beratungspflicht flankiert werden.
BVerfG II: "Schutz auch gegenüber der Mutter"
Das BVerfG hielt jedoch an seiner Rechtsprechung fest und beanstandete auch diese Fassung. Wieder schrieben zwei Richter ein Sondervotum. Die Senatsmehrheit betonte erneut den staatlichen Schutzauftrag für das ungeborene Leben: "Rechtlicher Schutz gebührt dem Ungeborenen auch gegenüber seiner Mutter. Ein solcher Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber ihr einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet und ihr damit die grundsätzliche Rechtspflicht auferlegt, das Kind auszutragen." Deshalb müsse "[d]er Schwangerschaftsabbruch für die ganze Dauer der Schwangerschaft grundsätzlich als Unrecht angesehen und demgemäß rechtlich verboten sein". Es legte insbesondere Wert darauf, dass hierfür regelmäßig das Strafrecht zum Einsatz kommen müsse: "Handelt es sich bei der Aufgabe, das menschliche Leben vor seiner Tötung zu schützen, um eine elementare staatliche Schutzaufgabe, so läßt es das Untermaßverbot nicht zu, auf den Einsatz auch des Strafrechts und die davon ausgehende Schutzwirkung frei zu verzichten. [...] Danach ist das Strafrecht regelmäßig der Ort, das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die darin enthaltene grundsätzliche Rechtspflicht der Frau zum Austragen des Kindes gesetzlich zu verankern."
Auf diese zweite Leitentscheidung geht die aktuelle Regelung in §§ 218 ff. StGB zurück. Es handelt sich gewissermaßen nur de facto um eine Fristenlösung: Der Schwangerschaftsabbruch bleibt rechtswidrig, wenn nicht eine der Indikationen vorliegt, die ihn ausnahmsweise rechtmäßig machen (Abs. 2 und 3).
Versuch einer echten Fristenlösung
Die Ampelkoalition sah hier Reformbedarf. Wie im Koalitionsvertrag unter der Überschrift "Reproduktive Selbstbestimmung" angekündigt, strich sie 2022 den alten § 219a StGB, das sog. Werbeverbot für Abtreibungen. Zudem setzte sie im Jahr 2023 eine Kommission ein, die "Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches sowie Möglichkeiten zur Legalisierung der Eizellspende und der altruistischen Leihmutterschaft prüfen" sollte. Diese empfahl, den Schwangerschaftsabbruch in den ersten Wochen der Schwangerschaft zu erlauben, also für rechtmäßig zu erklären. Im Übrigen habe der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative, insbesondere auch, was die Regelung im Strafrecht angeht.
Der Entwurf von SPD und Grünen ist nun also der dritte Versuch in der Geschichte der Bundesrepublik, eine (echte) Fristenlösung einzuführen: Schwangerschaftsabbrüche innerhalb der ersten zwölf Wochen sollen rechtmäßig werden, auch ohne die dreitägige Beratungsfrist (§ 12 Abs. 2 SchKG-E). Zudem sollen die §§ 218 ff. StGB in ihrer jetzigen Form gestrichen werden. Ein neu formulierter § 218 StGB soll einen Schwangerschaftsabbruch gegen oder ohne den Willen der Schwangeren unter Strafe stellen. Alles andere soll in das SchKG verschoben werden. Bei einer Abtreibung nach den ersten zwölf Wochen und ohne Indikation soll sich per se nur noch der Arzt überhaupt strafbar machen können (§ 14 Abs. 1 und 2 SchKG-E). Die Schwangere soll in jedem Fall straflos bleiben (§ 14 Abs. 4 SchKG-E).*
"Historisches Unrecht beenden"
Die Abgeordneten von SPD und Grünen argumentieren vor allem mit dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren. In dieses werde durch eine pauschale Rechtspflicht zum Austragen des Kindes massiv eingegriffen. Es sei aber mit der Schutzpflicht zugunsten des ungeborenen Lebens abzuwägen. Gerade auch die Strafbewehrung sei mit der Autonomie von Frauen nicht vereinbar. "Die Botschaft der jetzigen Regelung ist: Die Schwangere ist kriminell. Es geht hier auch um historisches Unrecht, das beendet werden muss", meint eine Unterstützerin von den Grünen, die Familienpolitikerin Franziska Krumwiede-Steiner, gegenüber LTO.
Darüber hinaus wird mit einer schlechten Versorgungslage argumentiert. Dadurch, dass Schwangerschaftsabbrüche immer rechtswidrig sind, würde medizinisches Personal von einer Mitwirkung abgeschreckt. Zudem führe die Rechtswidrigkeit dazu, dass Krankenversicherungen die Kosten für einen Abbruch - in der Regel einige hundert Euro - grundsätzlich nicht übernehmen. Auch vor diesem Hintergrund sei eine Mehrheit in der Bevölkerung für eine Entkriminalisierung.
Das Problem: Der Gesetzentwurf steht nicht in Einklang mit der Rechtsprechung des BVerfG. Das erkennen zwar auch die Befürworter grundsätzlich an. Sie halten jedoch eine "Neubewertung" für erforderlich: "Die hinsichtlich der Grundrechte der Schwangeren restriktive, den Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers ungewöhnlich weit begrenzende Argumentationslinie des BVerfG ist zumindest für die frühe Phase der Schwangerschaft nicht mehr haltbar", heißt es in der Begründung des Entwurfs. Sorge vor dem BVerfG hat auch Krumwiede-Steiner nicht: "Die jetzige Rechtslage stammt aus einer ganz anderen Zeit, in der auch Frauenrechte kaum eine Rolle gespielt haben. Jede Generation hat das Recht, dass ihre aktuellen Lebensverhältnisse berücksichtigt und vom BVerfG geschützt werden."
Gefahr eines "Großkonflikts"?
Die Unionsfraktion hingegen hält das geltende Regelungskonzept im StGB als Umsetzung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Schutzpflicht für das ungeborene Leben für "verfassungsrechtlich notwendig", so der rechtspolitische Sprecher von CDU/CSU, Günter Krings. Er stellt auch einen Bezug zur Diskussion um die Resilienz des Bundesverfassungsgerichts her: "Man kann nicht die Stabilität unseres Grundgesetzes betonen und gleichzeitig den Schutz des Lebens und der Menschenwürde ungeborener Kinder vernachlässigen", sagte Krings.
Die Union kritisiert vor allem den Zeitpunkt des Antrags kurz vor dem Ende der Legislatur - es sei verantwortungslos, das Thema "ohne eine angemessene Beratungszeit durch das Parlament zu peitschen", so die familienpolitische Sprecherin Silvia Breher. Friedrich Merz hatte sich zwar grundsätzlich für eine Diskussion offen gezeigt, allerdings ebenfalls mehr Beratungszeit gefordert und vor einem weiteren politischen "Großkonflikt" gewarnt, der die ohnehin aufgeheizte politische Öffentlichkeit noch mehr polarisieren könnte.
Krings bezweifelt vor allem, dass es SPD und Grünen ausschließlich um die Sache geht und wirft den Abgeordneten eine Instrumentalisierung des Themas für den Wahlkampf vor. Friedrich Merz ist nämlich bei Frauen eher unbeliebt. Krings verweist auch auf die Reaktion der AfD, die sich vor wenigen Tagen erneut zu einer äußerst restriktiven Indikationslösung bekannt hat. "Die Unterstützer des Gesetzentwurfs müssen sich fragen lassen, ob sie sich insoweit wirklich mit der AfD gemein machen und dieses ernste Thema zum Wahlkampfthema machen wollen", so Krings gegenüber LTO.
Die FDP als Zünglein an der Waage
Am Donnerstag soll der Entwurf in erster Lesung im Plenum beraten werden. Danach wird er ohne besondere Mehrheit an den federführenden Rechtsausschuss überwiesen werden (§ 80 Abs. 1 Geschäftsordnung des Bundestags). Ob es dort aber mit dem Gesetzgebungsverfahren weitergeht, hängt von den unsicheren Verhältnissen im Ausschuss ab. Denn damit der Entwurf wieder das Plenum erreicht, muss der Ausschuss in dem verbleibenden knappen Zeitfenster eine Beschlussempfehlung fassen.
Sollte der Entwurf die Hürde im Ausschuss nehmen, hinge der weitere Fortgang vom Ältestenrat ab. Er bestimmt die Tagesordnung im Parlament. Da seit ihrer Spaltung in zwei Gruppen BSW und Linke kein Stimmrecht mehr haben und zwischen SPD und Grünen sowie Union und AfD ein Patt herrscht, kommt es also entscheidend darauf an, wie sich die FDP verhält. Schon vor einigen Wochen zeigte sich deren rechtspolitische Sprecherin Katrin Helling-Plahr eher skeptisch, ebenso in dieser Woche Fraktionschef Dürr. Laut Ex-Justizminister Buschmann hat die aktuelle Regelung die Gesellschaft "befriedet". Aber auch grundsätzliche Unterstützer einer Reform äußern Bedenken, in dieser Frage während des Wahlkampfs einen Beschluss eines kurz vor der Auflösung stehenden Bundestags herbeizuführen. Dazu gehört auch der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP Johannes Vogel - dem im Ältestenrat die entscheidende Stimme zukommt. Nach Informationen von WELT hat die FDP-Fraktion schon entschieden, dass sie keine zweite und dritte Lesung zulassen wird.
Die Abgeordneten von SPD und Grünen wiederum betonen, dass sie den von Merz befürchteten "Großkonflikt" gerade nicht wollen. "Ein Großkonflikt ist weit und breit nicht in Sicht", sagte etwa SPD-Familienpolitikerin Leni Breymaier LTO. Mahnendes Beispiel dafür, was ein solcher "Großkonflikt" bedeuten würde, sind die Verhältnisse in den USA. Dort sind je nach politischer Couleur der jeweiligen Regierung auf Bundesstaatsebene Abtreibungen zum Teil de facto komplett verboten oder völlig ohne Einschränkungen zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft möglich. In Wahlkämpfen prallen oft Extrempositionen feindselig aufeinander. Die rechtspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion Sonja Eichwede versichert: "Wir wollen weiterhin klare Voraussetzungen. Es geht um einen Minimalkonsens und ich habe volles Vertrauen in den Gesetzgeber, dass er das mit Maß und Mitte entscheidet".
*Absatz präzisiert am Tag der Veröffentlichung, 15.09 Uhr.
Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs: . In: Legal Tribune Online, 05.12.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56042 (abgerufen am: 24.01.2025 )
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