Das BAG hatte einer konfessionslosen Bewerberin eine Entschädigung zugesprochen, weil die Diakonie sie abgelehnt hatte. Nun hob das BVerfG dieses Urteil auf. Wie Experten des kirchlichen Arbeitsrechts dies einschätzen, erfahren Sie hier.
Seit 13 Jahren läuft der Fall von Vera Egenberger – und er geht weiter: Das Bundesverfassungsgericht (BverfG) hat der Verfassungsbeschwerde der Diakonie stattgegeben und ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aufgehoben. In dem Urteil hatte das BAG der konfessionslosen Bewerberin auf eine Stelle bei der Diakonie eine Entschädigung wegen Diskriminierung zugesprochen. Die Frau war mangels Kirchenzugehörigkeit schon nicht zu einem Bewerbungsgespräch für ein Antirassismusprojekt eingeladen worden, worin das BAG eine rechtswidrige Diskriminierung sah.
Der Fall ging zuvor durch alle Instanzen bis hin zum Europäischen Gerichtshof (EuGH), der neue – und dem BVerfG nach dessen früherer Rechtsprechung teilweise widersprechende – Maßstäbe für das kirchliche Arbeitsrecht gesetzt hatte (Urt. v. 17.04.2018, Az. C-414/16). Seitdem ist klar, dass arbeitskirchenrechtliche Entscheidungen gerichtlich überprüfbar sind. Das hatte das BVerfG bisher anders beurteilt, diese europäischen Vorgaben nun aber in seinem Beschluss bestätigt. Es rügte indes, dass das BAG das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in seiner Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt und zu sehr selbst gewertet hatte.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Diakonie begrüßen die Entscheidung: "Das höchste deutsche Gericht hat für Klarheit gesorgt. Kirche und Diakonie dürfen in ihrer Einstellungspraxis in begründeten Fällen eine Kirchenmitgliedschaft ihrer Mitarbeitenden voraussetzen. Dies steht nicht im Widerspruch zum europäischen Antidiskriminierungsrecht", sagt Diakonie-Vorstand Dr. Jörg Kruttschnitt. Und weiter: “Staatliche Gerichte dürfen bei der Überprüfung einer Stellenbesetzung theologische Wertungen nicht selbst treffen – das obliegt den kirchlichen Arbeitgebern.”
Auch die Katholische Bischofskonferenz begrüßt die Entscheidung: “Die Verfassungsbeschwerde war zu Recht erfolgreich. Sie bringt Rechtssicherheit. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wurde aufgehoben und das Verfahren an das Gericht zurückverwiesen. Maßgeblich hierfür war die zu geringe Gewichtung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts durch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts. Auch im Rahmen der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs hätte diesem eine größere Bedeutung beigemessen werden können und damit müssen”, heißt es in einer Mitteilung. Für die katholische Kirche ergebe sich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kein Handlungsbedarf. Die Entscheidung bestätige die vorhandenen Regelwerke.
"Relevanz künftig deutlich machen"
"Das ist eine dogmatisch überzeugende und rechtspolitisch kluge Entscheidung", zeigt sich auch Prof. Dr. Gregor Thüsing gegenüber LTO erfreut, der in dem Verfahren für die Diakonie tätig war und regelmäßig auch in anderen Verfahren für die Kirchen tätig ist. "Der Konflikt mit dem EuGH wird vermieden, gleichzeitig betont Karlsruhe jedoch ausdrücklich seine Prüfungskompetenz im Hinblick auf einen Ultra-vires-Verstoß."
Aus Thüsings Sicht liegt "der Fehler beim BAG, nicht beim EuGH. Dessen Auslegung des Europarechts war dogmatisch überaus sportlich, aber eben nicht rechtlich schlechthin unvertretbar. Das Erfurter Gericht sah sich fälschlich auch da gebunden, wo es das nicht war. Zurecht betont der Zweite Senat des BverfG die besondere Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen." Dieses umfasse alle Maßnahmen, "die der Sicherstellung der religiösen Dimension des Wirkens und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum Grundauftrag der Religionsgemeinschaft dienen – und zwar auch die Auswahl der Arbeitnehmer und den Abschluss entsprechender Arbeitsverträge."
Die "zentrale Botschaft" des Beschlusses sieht Thüsing darin: "Die Verbeugung des BAG vor dem EuGH war etwas zu tief geraten. Erfurt hatte mehr Spielraum, als es vorgab, und hätte den im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen nutzen müssen". Für die Kirchen heiße dies: Sie müssten künftig deutlich machen, warum die Religionszugehörigkeit relevant für eine ausgeschriebene Stelle ist. "Sie werden diese nicht bei jeder Stelle einfordern können, aber es reicht, dass sie das für die konkrete Stelle plausibel darlegen. Nichts anderes haben sie in ihren aktuellen Regelwerken getan. Die Entscheidung ist daher eine Bestätigung ihrer Regelwerke", so Thüsing gegenüber LTO.
Prof. Dr. Hermann Reichold von der Universität Tübingen teilte LTO mit: “Ich war von Anfang an der Meinung gewesen, dass die konfessionslose Sozialpädagogin Egenberger von der Diakonie zumindest dann nicht eingestellt werden musste, wenn ihre Tätigkeit in der Diakonie jedenfalls einen ‘inhaltlichen’ Bezug zu Auftrag und Leitbild der Diakonie in Deutschland aufgewiesen hat. Auch wenn im Fall Egenberger es ‘nur’ um eine juristische Aufgabe zur Interpretation und ‘Verarbeitung’ europäischen Rechts für Tätigkeit und Selbstverständnis der Diakonie ging, war damit dennoch auch die Zielsetzung und Programmatik und damit auch das ‘religiöse Ethos’ der Diakonie betroffen. Das religiöse Selbstverständnis der Diakonie richterlicherseits ‘bestimmen’ oder ‘abgrenzen’ zu wollen, ist in einer solchen Thematik nicht Sache eines weltlichen Gerichts - es geht ja nicht um die Einstellung einer Putzfrau.”
"Zeichen für europafreundlichen Geist"
"Auf den ersten Blick sieht es nach einem Erfolg für die Kirche aus", schätzt Dr. Ulrike Brune, Richterin am BAG i.R., die Entscheidung auf LTO-Anfrage ein. "Bei näherem Zusehen ist es ein Eigentor für die Kirchen: Anders als bisher müssen sie nun Gründe dafür angeben, wenn sie besondere Loyalitätsforderungen an Arbeitnehmer stellen. Religionszugehörigkeit dürfen sie nur verlangen, wenn die betreffende Arbeit es für den religiösen Sendungsauftrag erfordert. Und das können die staatlichen Gerichte jetzt im Einzelnen überprüfen. Das hätte das BVerfG vor ein paar Jahren noch als Aufruhr und Ketzerei betrachet."
Für Christoph Schmitz-Scholemann, ebenfalls Richter am BAG i.R., ist "die Entscheidung auf jeden Fall ein schönes Zeichen für den in Karlsruhe eingekehrten europafreundlichen Geist. Während sich das Verfassungsgericht noch vor wenigen Jahren nicht scheute, dem Europäischen Gerichtshof Nachhilfe in juristischer Methodenlehre zu erteilen, erkennt es jetzt den Vorrang der europäischen Grundrechte ausdrücklich an und nutzt dies, um das deutsche Verfassungsrecht praktischer, lebendiger und verständlicher zu machen."
Sowohl Brune als auch Schmitz-Scholemann sind im Beirat des sogenannten Instituts für Weltanschauungsrecht, das sich für einen säkularen Staat einsetzt und im Egenberger-Verfahren vor dem BVerfG ein Gutachten eingebracht hatte.
"Klare Grenze für das Selbstverwaltungsrecht"
Auch die Gewerkschaften schauen auf die Entscheidung: "Das Bundesverfassungsgericht hat in der heutigen Entscheidung in der Rechtssache Egenberger den Versuch unternommen, seine eigene Rechtsprechung mit der des Europäischen Gerichtshofs in Einklang zu bringen", teilt Dr. Ernesto Klengel mit, wissenschaftlicher Direktor des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung. "Dieses Bemühen, einem Konflikt der Gerichte aus dem Weg zu gehen, ist zu würdigen. Allerdings hat das BVerfG den Rahmen, den der EuGH in seiner Entscheidung vom 17. April 2018 für das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gesetzt hat, weit interpretiert. Es ist abzuwarten, ob der Europäische Gerichtshof demnächst reagieren wird, da bei ihm weitere Fälle zum deutschen Sonderweg des kirchlichen Arbeitsrechts zur Entscheidung vorliegen."
Aus Klengels Stich betont das BVerfG das kirchliche Selbstbestimmungsrecht stark. "Es liest ein solches aus dem GG sowie den noch anwendbaren Bestimmungen der Weimarer Reichtsverfassung heraus." Ob ein Selbstbestimmungsrecht tatsächlich mit einer so großen Tragweite in GG und WRV aufgenommen worden war, sei rechtswissenschaftlich durchaus zweifelhaft. Das zeige eine Studie des Juristen Peter Stein aus dem Jahre 2023 für das Hugo Sinzheimer Institut. "Immerhin hat das BVerfG im Eindruck des Europäischen Gerichtshof seine Haltung insofern konkretisiert, dass es nunmehr gerichtlich voll überprüfbar ist, ob berufliche Anforderungen tatsächlich aus dem kirchlichen Selbstverständnis abgeleitet werden können. Die Anforderungen müssen zudem verhältnismäßig sein. Insofern werden Arbeitsgerichte berufliche Anforderungen, die kirchliche Einrichtungen an ihre Beschäftigten stellen, in Zukunft strikter prüfen", so Klengel.
Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (verdi), die Egenberger in dem Verfahren unterstützt, begrüßt die Kernaussagen des Urteils. "Im konkreten Einzelfall hat das Verfassungsgericht zwar gegen die Klägerin entschieden", erläuterte ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler. Das BVerfG habe aber die grundsätzliche Rechtsprechung des EuGH und des BAG bestätigt, "wonach die Kirche nicht einfach deshalb diskriminieren darf, weil sie Kirche ist". Vielmehr müssten kirchliche Arbeitgeber den Gerichten konkrete berufliche Anforderungen darlegen, warum bestimmte Tätigkeiten eine Kirchenmitgliedschaft erforderlich machen. "Diese Argumentation unterliegt jetzt einer wirksamen Kontrolle durch staatliche Gerichte."
"Für das grundgesetzlich verbriefte Selbstverwaltungsrecht der Kirchen zieht nun das Verfassungsgericht klare Grenzen", erklärte Bühler. "Die Kirche darf ihre eigenen Angelegenheiten nur im Rahmen der für alle geltenden Gesetze selbst regeln." Gerichte müssten im Konfliktfall zwischen dem kirchlichen Selbstordnungsrecht und zum Beispiel dem Schutz von Beschäftigten vor Diskriminierung abwägen. "Die Selbstbestimmung anderer ist ein hohes Gut. Deshalb sollte die Kirche das Urteil zum Anlass nehmen, ihr Beharren auf ein sehr weitgehendes Selbstverwaltungsrecht zu überdenken", appellierte die Gewerkschafterin. "Es ist höchste Zeit, dass die Kirche im Jahr 2025 ankommt. Niemand hat etwas dagegen, dass die Pfarrerin oder der Seelsorger Kirchenmitglied sein müssen. Aber der willkürlichen Ausweitung auf andere Beschäftigte in Einrichtungen von Kirchen, Diakonie und Caritas sind nun Grenzen gesetzt. Schließlich pflegt eine qualifizierte Pflegekraft nicht weniger gut, nur weil sie kein Kirchenmitglied ist."
Stimmen zum Egenberger-Beschluss des BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 23.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58451 (abgerufen am: 07.11.2025 )
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