Der Sport lebt von der Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung. Doch irrt sich der Schiedsrichter, kann das gravierende Folgen haben. Für Christian Deckenbrock sollten die Auswirkungen fehlerhafter Pfiffe auf das Spiel begrenzt bleiben.
Für viele Sportarten ist der Grundsatz der Unantastbarkeit der von einem Schiedsrichter getroffenen Tatsachenentscheidung ein wichtiger Bestandteil des Regelwerks. So heißt es etwa in Regel 05 der DFB-Fußball-Regeln:
"Der Schiedsrichter entscheidet nach bestem Wissen und Gewissen im Sinne der Spielregeln und im 'Geist des Fußballs'. Er trifft die Entscheidungen basierend auf seiner Einschätzung und hat die Ermessenskompetenz, die angemessenen Maßnahmen im Rahmen der Spielregeln durchzusetzen.
Die Entscheidungen des Schiedsrichters zu Tatsachen im Zusammenhang mit dem Spiel sind endgültig. Dazu gehören auch die Entscheidungen auf 'Tor' oder 'Kein Tor' und das Ergebnis des Spiels."
Spielwiederholungen nach Fehlentscheidungen sind kritisch
Die Tatsachenentscheidungen der Unparteiischen zu schützen, ist richtig und wichtig. Auch wenn falsche Schiedsrichterentscheidungen erhebliche Auswirkungen für die betroffene Mannschaft haben können, lebt der Sport davon, dass das Spielergebnis mit dem Schlusspfiff feststeht. Nur weil Entscheidungen von Schiedsrichtern sofort und endgültig, also ohne nachträgliche Einspruchsmöglichkeit, wirksam werden können, sind sportrechtliche Wettkämpfe überhaupt durchführbar. Wären Schiedsrichterentscheidungen jederzeit durch die Rechtsinstanzen überprüfbar und würde die Entscheidung über Meisterschaft, Auf- und Abstieg nicht auf dem Platz, sondern am grünen Tisch entschieden, wäre ein geordneter Spielverkehr undenkbar. Aus sportspezifischen Gründen geht also Rechtssicherheit vor Einzelfallgerechtigkeit.
Doch anders als dies die Regularien der meisten Sportverbände vorsehen, sollte eine Spielwiederholung auch dann ausscheiden, wenn der Schiedsrichter nicht eine fehlerhafte Tatsachenentscheidung trifft, sondern einen Regelverstoß begeht. Während bei einer Tatsachenentscheidung der Schiedsrichter eine Situation falsch wahrnimmt, wendet er bei einem Regelverstoß eine Regel falsch auf den zutreffend von ihm festgestellten Sachverhalt an. Sieht man von den Sonderfällen der Spielmanipulation wie etwa im Fall Hoyzer ab, so sollte auch in diesem Fall die Sicherung des Spielverkehrs Vorrang haben.
Es leuchtet nicht recht ein, warum krasse Fehler wie das Phantomtor von Hoffenheim als Tatsachenentscheidung – zu Recht – unangreifbar sind, die Nichtkenntnis einer Regel dagegen eine Neuansetzung eines Spiels nach sich ziehen kann. Oft sind die Folgen einer fehlerhaften Tatsachentscheidung aus Sicht des betroffenen Vereins sogar verheerender als die eines Regelverstoßes. Wenn im Sport aber ohnehin keine Einzelfallgerechtigkeit gewährleistet werden kann, gibt es keinen Grund, dies gerade – und nur dann – bei einem Regelverstoß eines Unparteiischen, für den die dadurch bevorteilte Mannschaft ebenfalls nichts kann, zu tun.
2/3: Videobeweis und Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung schließen sich nicht aus
Anders als der DFB versteht die FIFA den Begriff der Tatsachentscheidung weit und subsumiert unter diesen Begriff auch den Regelverstoß. Und auch wenn nach § 17 Abs. 2 c) der Rechts- und Verfahrensordnung des DFB (RuVO) Einsprüche gegen die Spielwertung auf einen Regelverstoß des Schiedsrichters gestützt werden, wenn dieser Regelverstoß die Spielwertung als verloren oder unentschieden mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst hat, ist es seit dem Helmer-Tor 1994 nicht mehr zu einer Wiederholung eines Fußball-Bundesligaspiels gekommen. In anderen Sportarten – wie etwa im Basketball oder Handball – wird dagegen diese Differenzierung immer noch gelebt. Jedenfalls ab und an kommt es dort zu Spielwiederholungen wegen eines Regelverstoßes der Schiedsrichter.
Die Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung findet aber ihre Grenze, wenn der Schiedsrichter das Spiel noch nicht fortgesetzt hat. Die Fußballregeln verbieten dem Schiedsrichter nur dann eine Änderung seiner Entscheidung, wenn er feststellt, dass seine Entscheidung nicht korrekt ist oder von einem anderen Spieloffiziellen einen dementsprechenden Hinweis erhält, und wenn das Spiel bereits fortgesetzt wurde oder der Schiedsrichter die erste oder zweite Halbzeit (einschließlich Nachspielzeit) beendet und das Spielfeld verlassen oder das Spiel beendet hat.
Vor diesem Hintergrund wäre – anders als dies über Jahre vertreten wurde – die Einführung des Videobeweises durchaus mit dem Schutz der Tatsachenentscheidung vereinbar. Im Gegenteil: Er würde in vielen Fällen verhindern, dass die Folgen einer fehlerhaften Schiedsrichterentscheidung überhaupt eintreten. Die Verbände müssen in diesem Zusammenhang vielmehr die Frage beantworten, wie die Videotechnik in die Entscheidungsfindung einbezogen werden kann, ohne dass sich der Charakter des Spiels durch zu lange Wartezeiten verändert.
Sperren werden nur in seltenen Fällen aufgehoben
Fehlerhafte Schiedsrichterentscheidungen in Form von gelben und roten Karten können zudem dazu führen, dass Spieler zu Unrecht für (künftige) Meisterschaftsspiele gesperrt werden. Es kommt nur äußerst selten vor, dass eine rote Karte zu keiner Spielsperre führt. Nach § 13 Nr. 2 RuVO kann nur "bei einem offensichtlichen Irrtum des Schiedsrichters" das sportrechtliche Verfahren eingestellt und von einer Sperre abgesehen werden. Entsprechendes gilt nach § 11 Nr. 2 RuVO im Fall einer gelb-roten Karte.
Offensichtlichkeit bedeutet, dass die Entscheidung des Schiedsrichters ohne jeden Zweifel unrichtig ist. Das soll wiederum dann nicht der Fall sein, wenn der betroffene Spieler nicht nichts gemacht, sondern zumindest eine kleine – wenn auch bei weitem nicht rotwürdige – Unsportlichkeit begangen hat. Dies kann nach der Rechtsprechung des DFB-Sportgerichts ein kleiner Trikotzupfer oder ein Beitrag zur Rudelbildung sein.
Ein Einspruch gegen eine Verwarnung (gelbe Karte) ist nach § 12 RuVO sogar "nur dann zulässig, wenn sich der Schiedsrichter in der Person der Spielerin/des Spielers geirrt hat." Allein die Offensichtlichkeit des Irrtums soll insoweit nicht genügen. Vor diesem Hintergrund blieb etwa die jüngst gegen den Schalker Schlussmann Ralf Fährmann verhängte gelbe Karte aufrechterhalten, obwohl er seinen Gegenspieler Timo Werner (RB Leipzig) nicht einmal berührt hatte, sondern Schiedsrichter Dankert auf dessen Schwalbe hereingefallen war.
Schiedsrichterfehler dürfen keine Folgen nach dem Spiel haben
Diese von den internationalen Fußballverbänden vorgegebenen Grundsätze sind dringend zu überdenken. Der Schutz der Tatsachenentscheidung verlangt es nicht, Fehler des Unparteiischen durch die Verhängung einer Sperre fortzuführen und über das von ihm geleitete Spiel hinaus zu erstrecken. Mit einem "Freispruch" oder auch der Umwandlung einer Roten in eine gelbe Karte wird nicht eine falsche Schiedsrichterentscheidung zurückgenommen oder repariert, sondern ein erneuter, von keinerlei Sachgrund getragener Eingriff in den weiteren Wettbewerb in Form eines (zeitweisen) Berufsverbots verhindert. Es genügt völlig, dass die Entscheidung der Schiedsrichter – wenn sie nicht bis zur Fortsetzung des Spiels geändert worden ist – für den Rest des Spiels Bestand hat.
Zudem würde mit einer großzügigeren Interpretation des "offensichtlichen Irrtums", wie dies etwa in Spanien und England – von der FIFA übrigens unbeanstandet – durchaus vorkommt, verhindert, dass der Profifußball, in dem ein einziger Sieg erhebliche finanzielle Auswirkungen haben kann, ein Inselleben außerhalb des Rechtsstaats führt. Hält im Nachhinein nicht einmal der Schiedsrichter selbst die von ihm verhängte Rote Karte für die richtige Sanktion, ist eine dennoch erfolgende Sperre um der Sperre willen mindestens unfair gegenüber Spieler und Verein.
Allerdings würde es zu weit gehen, wenn künftig jede gelbe oder rote Karte und daraus folgende Strafen bereits deshalb auf den Prüfstand gestellt werden, weil sie der ein oder andere als zu hart empfindet. Das Absehen von einer Sperre darf nur in den Fällen erwogen werden, in denen sich alle Beteiligten – auch dank eindeutiger Fernsehbilder – darüber einig sind, dass eine Fehlentscheidung vorliegt. Die Angst vor einer Flut weiterer Verfahren kann jedenfalls im Profifußball, in dem Geld keine Rolle zu spielen scheint, kein taugliches Argument sein.
3/3: Nachträgliche Sperren für ungeahnte Verstöße
Umgekehrt soll der Schutz der Tatsachenentscheidung es verbieten, einen Spieler, der sich während des Spiels krass sportwidrig verhalten hat, nachträglich zu bestrafen. § 8 Nr. 8 RuVO lässt eine nachträgliche Ahndung nur zu, "wenn der Schiedsrichter einen Fall krass sportwidrigen Verhaltens eines Spielers nicht wahrgenommen und damit keine positive oder negative Tatsachenentscheidung darüber getroffen hat". So musste etwa jüngst David Abraham (Eintracht Frankfurt) nach seinem viel diskutierten Ellenbogeneinsatz gegen den Hoffenheimer Sandro Wagner keine sportrechtlichen Konsequenzen fürchten, weil Schiedsrichter Christian Dingert diesen Vorfall (wenn auch falsch) bewertet hatte.
Warum der Grundsatz der Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung hier den krass sportrechtswidrig handelnden Spieler vor einer Sperre schützen soll, erschließt sich nicht. Der Umstand, ob ein Spieler sich so verwerflich hinter dem Rücken des Schiedsrichters oder vor dessen Augen verhalten hat, ist kein geeignetes Differenzierungskriterium. Ob ein Spieler eine Sperre verdient, sollte sich allein nach der Schwere seines Vergehens beurteilen.
Nur damit keine Missverständnisse entstehen: Auch insoweit muss ein nachträgliches Einschreiten der Sportgerichte auf absolute Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Krass sportwidrig und damit nachträglich zu ahnden darf ein Fehlverhalten eines Spielers nicht bereits dann sein, wenn sich der Spieler damit im Spiel einen ungerechtfertigten Vorteil verschafft hat. So gehört etwa die Schwalbe von Timo Werner aus dem Spiel RB Leipzig gegen Schalke 04 nicht in diese Kategorie, da eine Schwalbe nach den Regeln im Spiel nur mit einer gelben Karte zu bestrafen gewesen wäre. Auch ein Verhalten, das im Spiel zu einer Roten Karte geführt hätte, ist nicht zwingend krass sportwidrig, wie etwa das Beispiel der Notbremse zeigt. Strafen sind aber notwendig bei schweren Tätlichkeiten wie einem gezielten Ellenbogencheck gegen den Kopf des Gegenspielers oder dem Bespucken des Gegners.
Anpassung der Regularien längst überfällig
Jedenfalls im Spitzensportbereich ist ein Umdenken in den hier aufgeworfenen Fragen dringend notwendig. Die Verbände müssen akzeptieren, dass der Grundsatz der Unanfechtbarkeit der Tatsachenentscheidung in der heutigen Zeit völlig ungeeignet ist, die Einführung des Videobeweises zu verhindern oder die Autorität des Schiedsrichters auch über das fragliche Spiel hinaus zu schützen.
Beweisen eindeutige Videobilder, dass der Unparteiische mit seiner Entscheidung daneben gelegen hat, gibt es keinen Grund, nicht zumindest die Folgen dieser fehlerhaften Bewertung für künftige (Meisterschafts-)Spiele zu korrigieren. Hiermit nähme man von den Schiedsrichtern jedenfalls einen Teil des Drucks, der die nachfolgende Diskussion in der Öffentlichkeit über die Fehlentscheidung und ihre Auswirkungen mit sich bringt.
Ein solches Umdenken erscheint heute nicht mehr ausgeschlossen. Die hier geforderten Grundsätze sind etwa im internationalen Hockeyspielbetrieb schon gang und gäbe. Und die FIFA hat sich in der jüngeren Vergangenheit von ihrer Blockadehaltung hinsichtlich der heute vorhandenen Technologie verabschiedet, indem sie die Tortechnologie eingeführt hat und sich dem Videobeweis jedenfalls testweise geöffnet hat.
Erst in dieser Woche hat der Niederländer Marco van Basten in seiner Eigenschaft als Technischer Direktor der FIFA angekündigt, über verschiedene Regeländerungen von der Abschaffung des Abseits über die Einführung von Zeitstrafen bis zur Erhöhung der Anzahl der zulässigen Spielerwechsel zumindest nachzudenken. Solche Überlegungen wären noch vor kurzem undenkbar gewesen.
Der Autor Dr. Christian Deckenbrock ist Akademischer Rat am Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Universität zu Köln. In seiner Freizeit ist er Schiedsrichter in den Feld- und Hallenhockeybundesligen und als Turnieroffizieller bei internationalen Hockeyturnieren, zuletzt bei den Olympischen Spielen in Rio, im Einsatz.
Christian Deckenbrock, Schiedsrichterfehler im Sport: Entscheidend ist nur auf'm Platz . In: Legal Tribune Online, 21.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21843/ (abgerufen am: 24.04.2024 )
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