Die Asyl- und Migrationspolitik gilt als einer der umstrittensten Bereiche bei den Koalitionsverhandlungen. Über Zurückweisungen besteht Einigkeit. Bei der Ausbürgerung von Doppelstaatlern und im Prozessrecht rudert die SPD nun zurück.
Die heiße Phase der Koalitionsverhandlungen ist eingeleitet. Am Montagabend stellten die 16 Arbeitsgruppen ihre Zwischenergebnisse vor. Die verbliebenen Streitigkeiten müssen nun die Parteispitzen befrieden. Das betrifft u.a. die Migrationspolitik, über welche die auch für Innenpolitik und Strafrecht zuständige Arbeitsgruppe-1 verhandelt hat. Neben den massiven und teils rechtlich umstrittenen Verschärfungen, die schon aus dem Sondierungspapier vom 8. März bekannt sind, finden sich dort auch neue Vorhaben.
Etwa die Ausweisung von Ausländern nach volksverhetzenden oder islamistischen Äußerungen sowie nach antisemitisch motivierten Taten. Für solche Fälle war im Sondierungspapier auch eine Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft bei Doppelstaatlern enthalten. Hier scheint die SPD nun zurückgerudert zu sein – ebenso wie zu der hochumstrittenen verfahrensrechtlichen Frage, inwieweit der Amtsermittlungsgrundsatz im Asylrecht aufgehoben werden soll.
Was den Hauptstreitpunkt zwischen Union und SPD angeht, gibt das Papier dagegen – durchaus überraschend – einen scheinbaren Konsens vor: Wie im Sondierungspapier sprechen sich beide Parteien für die wohl europarechtwidrige Zurückweisung von Geflüchteten an deutschen Grenzen aus, wenn dies "in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn" geschieht. Dass CDU/CSU und SPD unter dieser Einschränkung aber anderes verstehen, bildet das Papier nicht ab. Gelangt die Formulierung so unbestimmt in den Koalitionsvertrag, wird die klärende Debatte wohl auf spätere Kabinettssitzungen oder Klausuren in Meseberg vertagt.
Amtsermittlungsgrundsatz: Rudert Schwarz-Rot zurück?
Was die Grundsätze für das behördliche und gerichtliche Asylverfahren angeht, enthielt das Sondierungspapier eine Überraschung: "Aus dem 'Amtsermittlungsgrundsatz' muss im Asylrecht der 'Beibringungsgrundsatz‘ werden", hieß es dort.
Der eigentlich auf das Zivilrecht beschränkte Beibringungsgrundsatz bedeutet, dass die Parteien selbst entscheiden, was sie zum Gegenstand eines Verfahrens machen. Trägt eine Partei eine für sie günstige Tatsache nicht vor, gehört sie nicht zum Prozessstoff und wird nicht berücksichtigt. Nach dem im Straf- und Verwaltungsrecht geltenden Amtsermittlungsgrundsatz hingegen sind Behörden und Gerichte verpflichtet, von Amts wegen alle Informationen zu berücksichtigen, die für das Verfahren relevant sind. Im Asylprozess würdigen die Gerichte daher von sich aus die Länderberichte des Auswärtigen Amtes und verschiedener NGOs. Um eine individuelle Verfolgung glaubhaft zu machen, kommt es auch heute schon entscheidend auf den Sachvortrag der Asylsuchenden an.
Diesen nunmehr die Darlegungslast für alle den Asylantrag begründenden Tatsachen aufzubürden, wäre laut Einschätzung von Migrationsrechtlern gegenüber LTO ein Systembruch, der in Konflikt zum Gebot eines fairen rechtsstaatlichen Asylverfahrens stünde. Bei Anwaltsverbänden und Bürgerrechtsorganisationen stößt die geplante Ersetzung auf Kritik. "Der Amtsermittlungsgrundsatz darf auf keinen Fall aufgegeben werden! Die Asylbehörden sind in der Pflicht, relevante Informationen einzuholen und zu prüfen", erklärte etwa der Deutsche Anwaltverein. Pro Asyl forderte am Mittwoch die künftige Bundesregierung ebenfalls auf, am Amtsermittlungsgrundsatz festzuhalten: "Es widerspricht rechtsstaatlichen Prinzipien, Verfahrensrechte einzuschränken, um Verfahren zu beschleunigen. Stattdessen müssen die Kapazitäten in den Behörden und an den Gerichten ausgebaut werden."
Bauchschmerzen hat bei diesem Punkt nun offenbar auch die SPD. Zwar findet sich die genannte Formulierung immer noch in dem Dokument – allerdings nicht in neutralem Schwarz, das Konsens signalisiert, sondern in Blau, das einen nicht konsentierten Unionsvorschlag markiert. Die SPD selbst schlägt – in Rot – hingegen eine Formulierung vor, die mit einer Ersetzung des Amtsermittlungsgrundsatzes nicht in Einklang zu bringen ist: "Verwaltungsgerichte sollen sich unter Beibehaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes künftig stärker auf den vorgebrachten Parteivortrag und auf eine Rechtsmäßigkeitsprüfung konzentrieren."
Asylverfahren in Drittstaaten?
Was den Ort der Asylverfahren angeht, will die Union ihr Wahlversprechen wahrmachen und Asylverfahren außerhalb von Deutschland in Drittstaaten durchführen. "Wir wollen sichere und rechtstaatliche Asylverfahren in sicheren Drittstaaten ermöglichen. Wer vor Krieg und Verfolgung zu schützen ist, soll in den Drittstaaten Schutz, Sicherheit und angemessene Lebensbedingungen erhalten", heißt es in dem Papier in blauer Schrift. Ob ein "Ruanda-Modell" nach britischem Vorbild, ein italienisches "Albanien-Modell" oder ein anderes Modell geplant ist, konkretisiert das Dokument nicht. Die SPD ist bislang nicht überzeugt.
Das SPD-geführte Bundesinnenministerin hatte im vergangenen Juni einen Bericht herausgegeben, in dem eine Auslagerung von Asylverfahren zwar nicht als rechtlich unmöglich, aber als wenig effektiv und aufgrund hoher Kosten ineffizient bewertet wurde. Ein Kompromiss erscheint im Bereich des Möglichen, zumal die Union in dem Ergebnispapier abgekündigt hat, das Modell zuerst auf "Personen anwenden, die für Putins hybride Kriegsführung gegen Europa als illegale Migranten instrumentalisiert werden".
Neue "sichere Herkunftsstaaten" und Familiennachzug
Was das materielle Asyl- und Aufenthaltsrecht angeht, wollen Union und SPD die Liste der sicheren Herkunftsstaaten erweitern. Das stand bereits im Sondierungspapier. Nun haben sie sich auf eine erste Reihe von Ländern geeinigt, die zuerst auf die Liste gesetzt werden sollen: Algerien, Indien, Marokko und Tunesien. Die Einstufung eines Herkunftsstaats als sicher hat u.a. zur Folge, dass eine Regelvermutung dafür gilt, dass einem Asylantragsteller aus diesem Staat keine Verfolgung droht. Der Asylantrag wird dann in aller Regel als "offensichtlich unbegründet" abgewiesen.
Obwohl im Wahlkampf noch umstritten, besteht ebenfalls seit den Sondierungen Einigkeit über das Vorhaben, den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten befristet auszusetzen. Im Vergleich zum Sondierungspapier haben CDU/CSU und SPD aber nun den Zeitraum konkretisiert: Ausgesetzt werden soll der Familiennachzug zunächst für zwei Jahre. Zusätzlich aufgenommen wird auch der Satz: "Härtefälle bleiben hiervon unberührt. Danach prüfen wir, ob eine weitere Aussetzung der zuletzt gültigen Kontingentlösung im Rahmen der Migrationslage notwendig und möglich ist."
Damit orientieren sich die neuen Formulierungen an den menschenrechtlichen Maßstäben. Dazu liegen LTO drei neue Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags vor. Die Linke-Abgeordnete Clara Bünger hatte diese in Auftrag gegeben, es handelt sich um drei Prüfaufträge: zu Art. 7 der EU-Grundrechtecharta (GRCh), zu Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und zu Art. 6 Grundgesetz (GG).
Zwar ergäbe sich aus diesen Rechten kein Recht auf Familienzusammenführung, jedoch sei "eine generelle Verunmöglichung des Familiennachzugs sowie eine starre Kontingentierung bzw. lange Wartefristen ohne jegliche Möglichkeit zu Einzelfallprüfungen" nicht zulässig, resümiert das Gutachten zu Art. 7 GRCh. Im Fall einer befristeten Aussetzung müsse spätestens nach zwei Jahren eine Einzelfallprüfung bzw. individuelle Güterabwägung stattfinden, betont das zu Art. 8 EMRK. Das Papier zu Art. 6 GG hebt die Notwendigkeit einer Härtefallprüfung hervor.
Der Konstanzer Migrationsrechtler Daniel Thym war in einem LTO-Gastbeitrag zu dem Schluss gekommen, dass die Rechtsprechung der europäischen und deutschen Gerichte einer Aussetzung des Familiennachzugs auch über zwei Jahre hinaus nicht entgegenstehe. Aber auch er hatte betont, dass eine "Hintertür" für eine Abwägung im Einzelfall offenstehen müsse.
Mutmaßliche Antisemiten und Extremisten unter Beobachtung
Einen scharfen Ton schlägt das Papier der Arbeitsgruppe in puncto Ausweisungen an. "Wer den Aufenthalt in Deutschland missbraucht, indem er hier [SPD: "erheblich"] straffällig wird [Union: "oder Konflikte auf deutschem Boden austrägt"], dessen Aufenthalt muss beendet werden", heißt es. Begründet wird das mit "schwer erträglichen Taten und Äußerungen" der letzten Jahre, "die den gesellschaftlichen Zusammenhalt erheblich belastet oder gar beschädigt haben".
Dass dabei Palästina-solidarische Personengruppen besonders unter Beobachtung stehen, lässt sich erahnen. So heißt es im Folgenden: "Bei schweren Straftaten führt die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe zu einer Regelausweisung. Dies gilt insbesondere bei Straftaten gegen Leib und Leben, gegen die sexuelle Selbstbestimmung, bei Volksverhetzung, bei antisemitisch motivierten Straftaten, sowie bei Widerstand und einem tätlichen Angriff gegen Vollstreckungsbeamte." Auch im strafrechtspolitischen Abschnitt nennt das Papier Antisemitismus und "Hass und Hetze" in einem Atemzug mit Terrorismus, um eine Verschärfung der Volksverhetzung zu begründen.
Nicht ausgewiesen werden kann, wer einmal die deutsche Staatsbürgerschaft erlangt hat. Dies wäre mit dem Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 GG und der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG nicht vereinbar. Doch die Union will in bestimmten Fällen eine Ausbürgerung möglich machen. Zusammen mit der SPD hatte sie im Sondierungspapier eine "verfassungsrechtliche Prüfung" angekündigt, "ob wir Terrorunterstützern, Antisemiten und Extremisten, die zur Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufrufen, die deutsche Staatbürgerschaft entziehen können, wenn sie eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen".
Ausbürgerung von Doppelstaatlern: SPD macht einen Rückzieher
Die Passage findet sich nun auch im Arbeitsgruppenpapier – allerdings ist sie blau markiert, also nicht geeint. Die SPD macht einen Rückzieher, worauf ein Randkommentar eines CDU-Verhandlers in dem Word-Dokument auch hinweist. Der Beitrag der SPD im Abschnitt zur Staatsbürgerschaft beschränkt sich auf einen Satz: "Wir halten an der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts fest." Diese Reform hatte die SPD noch zusammen mit ihren Ampelpartnern auf den Weg gebracht, sie ist im Juli 2024 in Kraft getreten. Die Novelle erweitert einerseits die Möglichkeit, eine doppelte Staatsangehörigkeit anzunehmen, andererseits soll sie die Einbürgerung von Antisemiten und Verfassungsfeinden erschweren.
Der Union reicht das nicht. Ihre zusätzlichen, blau markierten Forderungen füllen in dem Papier der AG eine Zweidrittelseite. Unter anderem soll jede Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat eine Einbürgerung unmöglich machen. Und auch hier liegt der Fokus auf mutmaßlichen Antisemiten, wobei die Union hier Antisemitismus mit Israel verknüpft: "Zur Verhinderung einer Einbürgerung von Antisemiten ist die Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit von dem ausdrücklichen Bekenntnis zum Existenzrecht Israels und der Erklärung, dass der Einbürgerungsbewerber keine gegen die Existenz des Staates Israel gerichteten Bestrebungen verfolgt oder verfolgt hat, abhängig zu machen."
Die Union hatte bereits im Gesetzgebungsverfahren zum neuen Staatsangehörigkeitsgesetz eine entsprechende Formulierung vorgeschlagen, die Ampel-Parteien hatten diese jedoch abgelehnt und anstelle eines verfassungsrechtlich umstrittenen expliziten Israel-Bekenntnisses ein allgemein formuliertes Bekenntnis zu Deutschlands historischer Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden aufgenommen.
Ausreisearrest und "Bundesausreisezentren"
Was die Durchsetzung der Ausreisepflicht angeht, hat sich der SPD von der Union offenbar breitschlagen lassen, der Forderung nach der "Möglichkeit für einen dauerhaften Ausreisearrest für ausreisepflichtige Gefährder und Täter schwerer Straftaten nach Haftverbüßung" zuzustimmen. Dazu sollen neue Kapazitäten geschaffen werden.
Problematisch daran ist zum einen der gesetzlich bislang nicht oder nur uneinheitlich geregelte Begriff des Gefährders. Und zum anderen, dass mit dem neuen "Ausreisearrest" verschiedene Unterbringungszwecke (Strafe, Gefahrenabwehr, Vollzugssicherung) vermengt und die europarechtlich vorgegebenen Einschränkungen für die Abschiebehaft umgangen werden sollen.
Noch nicht überzeugen konnte die Union die SPD von ihrem Vorhaben, vom Bund betriebene "Bundesausreisezentren in der Nähe von großen deutschen Flughäfen" zu errichten. Damit sollen Abschiebungen erleichtert werden. Die im Satz davor befindliche Ankündigung, "zentrale Asylverfahren für beschleunigte Verfahren" zu schaffen, weist allerdings darauf hin, dass es bei den Zentren nicht nur um Abschiebung, sondern auch die Durchführung kompletter Asylverfahren geht, also eine Art Aufnahmelager am Flughafen. Darüber werden beide Seiten sicherlich noch intensiv nachverhandeln.
Keine Einigkeit besteht auch in der Frage, ob nach einer erfolgten Ausreise oder Abschiebung weitere Regeln notwendig sind. "Nach einer Ausweisung oder einer Abschiebung soll kraft Gesetzes ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gelten", fordert die Union. Die SPD hat dem bislang nicht zugestimmt.
Von Ausbürgerung bis Zurückweisung: . In: Legal Tribune Online, 27.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56885 (abgerufen am: 20.04.2025 )
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