Weit über 300 Teilnehmer diskutierten unter dem Motto "Sozialrecht als Menschenrecht" in Potsdam aktuelle gesellschaftlich relevante Fragen. Im Blickpunkt stand die Reform der Hartz-IV-Gesetze, die Bundesministerin für Arbeit und Soziales von der Leyen verteidigte die neuen Regelsätze und die Bildungsleistungen für Kinder.
Der dritte Sozialgerichtstag hatte sich wieder einmal einiges vorgenommen, in bewährter Manier sollten alle Felder des Sozialrechts thematisch beackert werden: Vom Arbeitsförderungrecht über die Sozialversicherung bis hin zum Verfahrensrecht.
Herausgegriffen wurden jeweils Probleme, die in besonderem Maße einen Austausch verschiedener Akteure erfordern und daher dem Selbstverständnis des Veranstalters entsprechen.
Der Deutsche Sozialgerichtstag e.V. versteht sich als interdisziplinärer Fachverband und als Forum für alle, die dem Sozialrecht beruflich verhaftet sind wie Richter, Rechtanwälte, Verwaltungsmitarbeiter und Verbandsvertreter. Neben dem alle zwei Jahre tagenden eigentlichen Sozialgerichtstag veranstaltet der Verein regelmäßig Workshops oder nimmt mit seinen Experten an Anhörungen im Bundestag teil.
Eröffnungszüge: Dame in Schach gehalten
Solidarität und Subsidiarität, betonte Ministerin Dr. Ursula von der Leyen gleich zu Beginn ihres Festvortrages am ersten Veranstaltungstag, seien die beiden Grundpfeiler unseres Sozialstaates. Dass dieser zur Zeit harte Bewährungsproben bestehen muss, dürfte vor allem sie und ihre Mitarbeiter in Schach halten. Das Bundesverfassungsgericht habe der Legislative im Hartz-IV-Urteil vom 9. Februar 2010 zur Neugestaltung der Regelsätze nur wenig Zeit bis Ende des Jahres gelassen. Aber auch aus Steinen, die im Wege lägen, merkte sie Goethe zitierend an, könne man etwas Schönes bauen.
Die Ministerin hob hervor, dass der Bund mit dem neuen Bildungspaket für Kinder 700 Millionen Euro für die von den Karlsruher Richtern angemahnte soziale Teilhabe von Kindern zur Verfügung stelle. Sie räumte sinngemäß ein, dass im Hinblick auf den Verwaltungsvollzug noch einige Details mit den Ländern gemeinsam geklärt werden müssten. Die umstrittene Höhe der Regelsätze für Erwachsene verteidigte sie im Übrigen mit charmanter Vehemenz: Es gelte angesichts der beiden genannten Grundprinzipien, die Balance zu halten zwischen den Leistungsberechtigten und denen, die für diese Leistungen letztlich bezahlen müssten.
Ihr Vortrag blieb nicht unwidersprochen. Einer der Protagonisten im Bundesrat, der Sozialminister von Brandenburg, Günter Baaske, entgegnete ihr in seiner Begrüßung herzlich, aber hart. Das Reformgesetz zum SGB II und SGB XII, das am 17. Dezember 2010 das Nadelöhr Vermittlungsausschuss passieren müsse, benötige dringend eine höhere Akzeptanz. Das Gesetz werde eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Richterinnen und Richter der Sozialgerichtsbarkeit, wenn keine Änderungen vor allem bei der Neugestaltung der ARGEn mehr erfolgten. Bei der Förderung von Kindern mittels Gutscheinen rechne er bei einem 10-Euro-Gutschein mit 5 Euro Kosten.
Die Kommissionen: Feinheiten des Spiels
Nach weiteren Grußworten, auch etwa des Präsidenten des Bundessozialgerichts (BSG) Peter Masuch, ging es in den neun Kommissionen um die Feinarbeiten. Die Kommission zum SGB II beschäftigte sich etwa mit der Frage, ob der Gesetzgeber mit den neuen Regelleistungen nach dem SGB II den Auftrag des Verfassungsgerichts erfüllt habe; auch die Grundprinzipien der Organisationsreform wurden unter die Lupe genommen. Eine weitere Kommission, an welcher der Autor als Referent teilnahm, befasste sich mit der Rechtsprechung des BSG zur Sozialhilfe. Eine weitere Kommission erörterte Für und Wider eines Patientenrechtsgesetzes. In der Kommission "Rentenversicherung" schließlich war die Anhebung des Renteneintrittsalters Thema.
Die zahlreichen kompetenten Beiträge, heißen Diskussionen, klugen Gedanken und Anregungen an die Politik stellten die jeweiligen Vorsitzenden am nächsten Tag konzentriert dem versammelten Plenum vor. Nicht alle wichtigen Inhalte können hier wiedergeben werden. Zu jedem Sozialgerichtstag erscheint aber ein umfangreicher Tagungsband.
In der mit 100 Teilnehmern am besten besuchten Kommission "SGB II" stimmte der Referent Prof. Dr. Münder nicht in den Chor ein, der die geplanten Regelsatzvorschriften als pauschal verfassungswidrig einstufte. Man müsse mit "kleiner Münze" rechnen. Dann sei jedoch zum Beispiel die qualitative Auswahl der Referenzgruppe verfassungsrechtlich problematisch, da BAföG-Empfänger, Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und andere Personen nicht ausgenommen worden seien.
Auch bei der Auswertung der erhobenen Daten seien wohl Fehler passiert. So habe man bei der Sonderauswertung Verkehr die Ausgaben für Personen heraus gerechnet, die ihren Mobilitätsbedarf mit einem PkW decken, ohne hierfür fiktive Kosten für den Nahverkehr zu veranschlagen. Am Schluss mahnte er an, den Gesetzgeber nicht durch überzogene Begründungsanforderungen zu überfordern.
Weitere Schachzüge
Die Kommission "Arbeitsförderungsrecht" warnte vor Sparmaßnahmen wegen der Haushaltskonsolidierung bei der Bildung. Dies sei der falsche Weg, das Bildungsdefizit zu beseitigen. Individuelle Bildungsmaßnahmen sollten vorrangig vor Zuschussleistungen an den Arbeitgeber gefördert werden.
In der Kommission "Sozialhilfe" wurde deutlich, dass der Gesetzgeber die beiden Leistungssysteme SGB II und SGB XII nicht genügend aufeinander abgestimmt hat. Der Arbeitskreis war sich einig, dass beide Leistungssysteme nicht jenseits der Möglichkeiten richterlicher Rechtsauslegung zu harmonisieren sind. Einige Vertreter von Kostenträgern befürchteten, dass die Rechtsprechung des BSG dazu führe, Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen über den gesetzlichen Anspruch hinaus auszudehnen.
In der Diskussion in der Kommission "Krankenversicherung" hatten die Kritiker des geplanten "Patientenrechtegesetzes" die Oberhand. Vielfach wurde bezweifelt, ob ein solches Gesetz mehr Transparenz schaffe und den Patienten tatsächlich mehr nutze als bestehende Rechte. Eine gute Information der Patienten sei dennoch das Gebot der Stunde.
Die Kommission "Pflegeversicherung" stellte noch einmal unter anderem den umstrittenen "Pflege-TÜV" auf den Prüfstand. Die jährlichen Qualitätsprüfungen seien zwar ein geeignetes Instrument der Qualitätsprüfung in Pflegeeinrichtungen, es solle aber auf so genannte Schulnoten verzichtet werden. Zudem müsse das Bewertungsverfahren optimiert werden. Die Verbraucher müssten mehr in den Blick genommen werden.
Aus der Kommission "Renteversicherungen" wurden Forderungen nach flexibleren Übergangsmodellen in den Ruhestand laut, zum Beispiel in Form einer Rente plus Teilzeitbeschäftigung ab 60 oder der Zahlung zusätzlicher Rentenbeiträge oder einer Anhebung der Hinzuverdienstgrenzen.
Die Kommission "Verfahrensrecht" nahm klar Stellung zu neuen Vorhaben, die Prozessordnung im Sozialrecht wieder einmal zu ändern. Mit vielen Änderungen könne man sich anfreunden. Abgelehnt wurden aber Änderungen des § 109 SGG und bei den Gerichtsgebühren zum Nachteil der Bürger.
Schlussforum: Endpartie
Das abschließende Podium mit prominenten Teilnehmern bewegte das Thema: "Generationsgerechtigkeit durch Leistungseinschränkungen". Profession und Funktion prägten die sehr divergenten Meinungen. Von der Ansicht, dem drohenden demografischen Kollaps und dem wirtschaftlichen Ruin sei allein durch Leistungskürzungen beizukommen, bis hin zur Auffassung, dass die Frage der Verteilungsgerechtigkeit bei den "Kohorten" "Jung und Alt" nicht stehen bleiben, sondern auch bei "Arm und Reich" gestellt werden müsse, war alles dabei.
Am Ende wurde noch einmal eindringlich an den Gesetzgeber appelliert, Kritik der Sozialrechtsexperten insbesondere an gesetzlichen Änderungen ernst zu nehmen. Auch vor weiteren Überlastungen der Sozialgerichte durch zu viele Verfahren warnten die Experten.
Insgesamt war der Sozialgerichtstag wieder eine gelungene Partie. Gewinner waren alle Teilnehmer. Wissen wurde vermehrt, Irrtümer und Vorurteile wurden beseitigt, Erfahrungen gemacht und nicht zuletzt wurden Kontakte geknüpft. Angesichts der immer größeren Komplexität normativer Regelungen ist ein interdisziplinärer Austausch der verschiedenen Professionen unabdingbar. Nur durch intensive Kommunikation der Experten können diskursive Defizite einer ausschließlich repräsentativen Demokratie begradigt werden. Die Sozialgerichte sind schließlich nicht bloßer Reparaturbetrieb eines sozialpolitisch oftmals kurzsichtig agierenden Politikbetriebes.
Der Autor Franz Dillmann ist Verwaltungsjurist und leitet die Rechtsabteilung eines überörtlichen Sozialhilfeträgers. Er publiziert regelmäßig zu sozialrechtlichen Themen.
Sozialgerichtstag 2010: . In: Legal Tribune Online, 23.11.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1994 (abgerufen am: 07.10.2024 )
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