Deutschlands größtes Sozialgericht: Gelassen gegen die Aktenberge

von Annelie Kaufmann

15.01.2014

Mehr als 40.000 neue Klagen und Anträge gingen 2013 bei Deutschlands größtem Sozialgericht in Berlin ein, alle zwölf Minuten einer. Meistens wird um Hartz IV gestritten. Der Aktenberg wächst, aber die Präsidentin bleibt gelassen.

Die junge Frau mit den rot gefärbten Haaren lächelt unsicher in die Kameras im Sitzungssaal 116. "Die Herrschaften von der Presse sind nicht wegen Ihnen hier", beruhigt die Vorsitzende Richterin. "Das ist nur wegen der Jahrespressekonferenz." In die Sitzungssäle im zweiten Stock des Sozialgerichts Berlin an der Invalidenstraße, die nur einen runden Tisch und drei Zuschauerreihen haben, kommt die Presse eher selten. Schon gar nicht zu einem Prozess wie diesem. 124 Euro für eine Schwangerschaftsausstattung möchte die Klägerin. Das Jobcenter Berlin-Tempelhof lehnt das ab, Frau G. habe sich schließlich erst in der 37. Schwangerschaftswoche gemeldet. 60,50 Euro hat die Richterin als Vergleich vorgeschlagen, darauf wollte sich keine der beiden Seiten einlassen.

Nun muss die Kammer die vielen offenen Fragen klären. Gab es überhaupt einen Antrag? Die Klägerin war mit ihrer Mutter auf dem Amt, aber was da besprochen wurde, weiß niemand mehr so richtig. Haben Sie sich denn so kurz vor der Geburt noch Schwangerschaftsausstattung gekauft? Ein paar Oberteile und eine Hose, nuschelt die Klägerin mit unverkennbarem Berliner Akzent. Haben Sie dafür Belege, fragt die Vertreterin vom Jobcenter. Nein, die hat die Klägerin natürlich nicht mehr, das Kind ist ja auch schon seit September 2012 auf der Welt. Alltag im Sozialgericht.

"Fast immer geht es um das Existenzminimum"

Die Jahrespressekonferenz findet ein Stockwerk tiefer statt, in Saal 113. Hier hängen Kronleuchter statt Neonlampen, die Decke zieren Gemälde, die Wände Schmucksäulen, hier erinnert sich das Sozialgericht selbst "an italienische Paläste der Renaissance" – oder schreibt es zumindest so auf seiner Internetseite. Es ist aber kein Palast, es ist das größte Sozialgerichts Deutschlands. Die Pressekonferenz ist ein Ritual. Unter dem Titel "Sozialtourismus in die Aktenberge? Hartz IV und kein Ende" lud man Journalisten ein, um die neuen Zahlen zu präsentieren. 41.975 neue Verfahren wurden hier im Jahr 2013 verzeichnet. Das sind rund 3.500 Anträge und Klagen pro Monat, oder alle zwölf Minuten eine.

Die Zahlen sind leicht zurückgegangen, um fünf Prozent gegenüber dem Spitzenjahr 2012. Aber es ist auch das vierte Jahr in Folge, in dem das Gericht mehr als 40.000 Eingänge verzeichnet. "Entspannung fühlt sich anders an", sagt die Präsidentin des Gerichts, Sabine Schudoma. Pressesprecher Marcus Howe blendet auf der Leinwand ein Diagramm ein und sagt: "Das größte Kuchenstück ist wie immer Hartz IV". In 62 Prozent aller Fälle geht es um Grundsicherung für Arbeitssuchende. Es geht um Fälle wie den von Frau G., um 142 Euro für Umstandskleidung. Um 70 Euro für einen Schülerschreibtisch. Um 500 Euro, weil eine Zwangsräumung droht, eine Notunterkunft benötigt wird und die Möbel eingelagert werden müssen. "Fast immer geht es um das Existenzminimum", sagt Schudoma.

Jobcenter geben oft auch auf dritte Erinnerung keine Antwort

Oben, im Saal 116, wird die Vertreterin des Jobcenters lauter: "Das sind Steuergelder, da kann nicht jeder kommen und sagen, ich brauche was." Vielleicht weil die Presse da ist. Aber von dem vieldiskutierten Sozialmissbrauch ist wenig zu merken. "Auch am Sozialgericht kennt man das Strafgesetzbuch", sagt Schudoma auf der Pressekonferenz. "Wer den Staat betrügt, wird strafrechtlich verfolgt". Die Regel ist das nicht. Oft bekommen die Klägerinnen und Kläger Recht. In 54 Prozent der Verfahren erzielen sie zumindest einen Teilerfolg, das ist schon seit Jahren so. "In anderen Sparten ist die Quote deutlich niedriger", sagt Schudoma. "Das ist nicht normal. Das ist ein Signal". Die Jobcenter sollen ihre Arbeitsqualität verbessern, dann könnten Verfahren vermieden werden. Und sie sollen die anhängigen Verfahren nicht vernachlässigen, warnt Schudoma: "Allzu oft beobachten Richter, dass Jobcenter auch auf die dritte Erinnerung noch keine Antwort geben."

Thomas Heilmann, der Berliner Senator für Justiz und Verbraucherschutz hat im vergangenen Jahr eine Initiative angestoßen, um Streitgkeiten mit den Jobcenter zu reduzieren. Schudoma ist mit den ersten Ergebnissen zufrieden. Die Zahl der Untätigkeitsklagen ist zurückgegangen. "Offensichtlich gelingt es den Jobcentern in der letzten Zeit besser, die gesetzlichen Bearbeitungsfristen einzuhalten". Außerdem sieht die neue Verordnung zu den Wohnaufwendungen, die Schudoma gefordert hatte, großzügigere Mietobergrenzen vor - seitdem gibt es auch hier weniger Streitigkeiten.

Von Panik hält die Präsidentin des Sozialgerichts ohnehin wenig. Von "Sozialtourismus", eben zum Unwort des Jahres ausgerufen, will sie auch nicht sprechen: "Es gibt keine EU-Klagewelle". Zwar nehme die Zahl der Eilanträge von in Berlin lebenden EU-Bürgern zu, geschätzte 1.000 Eilverfahren waren es im letzten Jahr. Die Antragsteller kommen jedoch aus allen europäischen Staaten. "Wir führen keine Länderstatistiken", erklärt Gerichtssprecher Howe. "Aber es sind auch viele Fälle aus den alten EU-Ländern dabei". Man möchte die Debatte "versachlichen", sagt Schudoma. "Wer in Deutschland arbeitet, aber für sich und seine Familie nicht genug verdient, hat als Aufstocker Anspruch auf Hartz IV. Das ist keine Leistungserschleichung, sondern geltendes Recht."

"2014 müssten alle Arbeitstage 48 Stunden haben, um diesen Berg abzutragen"

Nicht geklärt ist die Rechtslage für EU-Bürger, die Arbeit suchen. Inzwischen liegen zwei Fälle - vom Sozialgericht Leipzig und vom Bundessozialgericht - beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Die deutschen Sozialrichter kommen bisher zu unterschiedlichen Ergebnissen. "Auch hier am Sozialgericht Berlin", erklärt Schudoma. "Das Sozialrecht ist kompliziert und wenn Europarecht dazu kommt, wird es noch komplizierter." Nun wird der EuGH die Frage klären müssen.

Schudoma wartet die Entscheidung gelassen ab. Sie lobt ihre Mitarbeiter und das "sprichwörtliche Berliner Tempo". Nirgends in Deutschland erledigten Sozialrichter mehr Verfahren, mit durchschnittlich rund zwölfeinhalb Monaten für Klageverfahren und weniger als einem Monat für Eilverfahren liege man bundesweit "auf Spitzenplätzen". Dennoch: Der Aktenberg wächst weiter. Im Jahr 2013 zwar nur noch um 200 Verfahren und nicht mehr um 2.000 wie noch im Vorjahr - trotzdem liegen damit insgesamt 42.683 Verfahren auf den Schreibtischen der 128 Richter und Richterinnen. "2014 müssten alle Arbeitstage 48 Stunden haben, um diesen Berg abzutragen", sagt Schudoma. Oder es müssten mehr Richter ran.  Das sagt die Präsidentin nicht, öffentlich will sie keine neuen Stellen fordern, aber wer rechnen kann, versteht es.

Besichtigen kann man den Aktenberg im Erdgeschoss. In der Posteingangsstelle sitzen drei Mitarbeiter und sortieren die Eingänge. Aufnehmen, abstempeln, ablegen. Der kahle Kopf von Justizwachtmeister Lutz Otternberg ist hinter dem Aktenstapel kaum noch zu sehen. Er bleibt aber auch gelassen. "Das ist so ein Drittel von dem was heute reinkommt."

Zitiervorschlag

Annelie Kaufmann, Deutschlands größtes Sozialgericht: . In: Legal Tribune Online, 15.01.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/10674 (abgerufen am: 01.12.2024 )

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