Nach den Sondierungen sind die Pläne für das Arbeitsrecht nahezu enttäuschend, findet Gregor Thüsing. Es wird Zeit für eine Reform des Mitbestimmungsrechts und des Streikrechts und endlich einer größeren Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Sondierungen sind keine Koalitionsverhandlungen und Sondierungsvereinbarungen kein Koalitionsvertrag. Dennoch wurden die ersten Weichen gestellt, so auch im Arbeits- und Sozialrecht. Im Sozialrecht ist man recht mutig vorangegangen: Reform des Bürgergelds und Rückbildung auf eine Grundsicherung hin, obligatorische Einbindung von Selbstständigen in die Rentenversicherung. Im Arbeitsrecht sieht es anders aus. Hier tastet man sich verhalten nach vorne und es scheint fraglich, ob die großen Probleme unserer Zeit hierdurch tatsächlich angegangen werden können.
Da ist zunächst einmal der Hinweis auf den gesetzlichen Mindestlohn, den man zügig auf 15 Euro anheben will – 2026 ist das Ziel. Man scheut sich jedoch, eben dies gesetzlich verbindlich vorzugeben, zu deutlich sind wohl in Erinnerung die mahnenden Worte der damaligen Opposition, der unabhängigen Mindestlohnkommission nicht politisch ins Handwerk zu pfuschen. Deshalb setzt man auf Vorgaben für die Mindestlohnkommission, die sich nun nicht nur einer Tarifentwicklung, sondern auch am Ziel “60 Prozent des Bruttomedianlohn von Vollbeschäftigten” orientieren soll. Das mutet ein wenig seltsam an, denn gerade diese 60 Prozent-Grenze entstammt der europäischen Mindestlohnrichtlinie, die kürzlich noch der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) für europarechtswidrig gehalten hat – im Übrigen findet sich das Kriterium bereits in der aktuellen Fassung der Geschäftsordnung.
Hier erlebt sie nun fröhliche Urständ und es ist fraglich, ob es ein sinnvolles Kriterium der Orientierung sein kann. Letztlich spiegelt sich hier die Frage: Soll der Mindestlohn das gewährleisten, was ich zum Leben brauche oder was der Mindestproduktivität meines Arbeitsverhältnisses entspricht? Hier eine angemessene Lösung zu finden, ist schwierig und bedarf der Diskussion – am besten politisch fern in einer unabhängigen Kommission. Da ist die Antwort besser aufgehoben als in Wahlkampf und den folgenden Sondierungen.
Höhere Löhne über Tariftreuegesetz
Konkreter dann das Ziel verbreiteter Tariflöhne. Das Tariftreuegesetz ist ein alter Hut auch auf Bundesebene. Ziel des Gesetzes ist es, öffentliche Aufträge solchen Unternehmen vorzubehalten, die ihren Beschäftigten Löhne in Höhe des üblichen Branchentarifs bezahlen und bestimmte Arbeitsbedingungen einhalten. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hatte schon einen Gesetzesentwurf in der letzten Legislaturperiode erstellt (BT-Drucks. 20/14345), und die meisten Länder haben bereits Tariftreuegesetze, alle außer Sachsen und Bayern.
Der europarechtliche Spielraum bleibt freilich begrenzt, weil die europarechtlich gewährte Dienstleistungsfreiheit mit derartigen Regelungen eingeschränkt wird die Rechtssache Rüffert (EuGH v. 03.04.2008, Az. C-346/06) hat die entscheidenden Weichen vorgegeben. Ist auch danach einiges noch an der Entsenderichtlinie geändert worden, so bleibt doch der Vorbehalt, dass eine Tariftreue nicht etwas zugrunde gelegt werden darf, was ohnehin nicht allgemein verbindlich ist.
Wechsel von Tages- zu Wochenhöchstarbeitszeit
Bei der Arbeitszeitflexibilisierung knüpft man an die Vorhaben der Ampel an. Schon im letzten Koalitionsvertrag wollte man hier von der Tageshöchstarbeitszeit auf die Wochenarbeitszeit umswitchen – wenn auch vorsichtig, befristet und nur auf Grundlage von Tarifregelungen und nur als Experimentierräume. Heute ist man etwas mutiger und es bleibt abzuwarten, ob es dieser Mut auch in den Koalitionsvertrag schafft.
Europarechtlich besteht hier allemal ein Spielraum. Art. 6 der Arbeitszeitrichtlinie stellt eben auf die wöchentliche Höchstarbeitszeit, nicht auf die tägliche Höchstarbeitszeit ab. Die große Frage der genauen Ausgestaltung der Pflicht zur Aufzeichnung von Arbeitszeiten (Bundesarbeitsgericht (BAG) Urt. v. 13.09.2022, Az. 1 ABR 22/21 und EuGH Urt. v. 14.05.2019, Az. C 55/18) ist damit freilich nicht gelöst – hier wird man jedoch eine Lösung finden müssen. Der jetzige Zustand ist unbefriedigend, nachdem das BAG aus Normen, die eher überraschend waren, eine Aufzeichnungspflicht herausgelesen hat, deren Grenzen immer noch umstritten bleiben.
Rahmen der Digitalisierung bleibt ungesagt
Die Digitalisierung ist dann leider bislang nur vage adressiert. Man will den steigenden Herausforderungen zwar begegnen, aber was nun die richtigen Rahmenbedingungen sind, die man erhofft, bleibt ungesagt. Vielleicht ist hier die Baustelle des Beschäftigtendatenschutzes gemeint. Die Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) fordert eine solche Regelung und in der Tat wäre dies sinnvoll – wenn man es denn richtig macht.
Denn nach der Rechtsprechung des EuGH (und befolgend die des BAG v. 09.05.2023, Az. 1 ABR 14/22) ist § 26 Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) ein Lückentext, der europarechtswidrige (also unwirksame) und europarechtskonforme (also wirksame) Teile enthält. Nach den jüngsten Entscheidungen des EuGH zur Betriebsvereinbarungsoffenheit stellt sich ohnehin die Frage, wieweit der Spielraum des nationalen Gesetzgebers geht (EuGH v. 19.12.2024, Az. C-65/23). In dem Verfahren ging es um die Frage, unter welchen Bedingungen nationale Rechtsvorschriften und Kollektivvereinbarungen hier Betriebsvereinbarungen spezifische Regelungen für die Verarbeitung von Beschäftigtendaten festlegen dürfen. Für den Gesetzgeber könnten – so ist zu befürchten -die dort formulierten Grenzen entsprechend gelten.
Hier ein sicheres Gerüst zu erarbeiten, wäre der Sache wert. Ziel sollte dabei die neutrale Fortentwicklung sein: kein mehr an Datenschutz, kein weniger an Datenschutz, sondern ein besserer Datenschutz. Der in der letzten Legislaturperiode noch erarbeitete Referentenentwurf hat hier ein legislatives Anchoring gesetzt, an dem man sich orientieren kann – freilich sind auch hier zahlreiche Besserungen erforderlich (ausführlich Thüsing, DB 2024, 2830).
Weiterentwicklung der Mitbestimmung
Das kollektive Arbeitsrecht bleibt im Sondierungspapier nicht außen vor: "Wir werden die Mitbestimmung weiterentwickeln", heißt es dort. Auch dieser Satz fand sich schon nahezu wortgleich in den Koalitionsvertrag der Ampel. Was damit gemeint ist, werden wir sehen. Die Vorschläge des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) für ein modernisiertes Betriebsverfassungsrecht liegen bereits seit einiger Zeit vor und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) arbeitet ebenso an konkurrierenden Perspektiven. Die Diskussion ist offen.
Nachdem die notwendigen Konkretisierungen der Betriebsratsvergütungen in der letzten Legislaturperiode schon abgeräumt wurde, bleibt es spannend, ob es eine Online-Betriebsratswahl geben soll, wieweit eine Neuregelung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei der Digitalisierung gem. bei § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG erforderlich oder sinnvoll ist, und auch ein neuer Beschäftigtenbegriff, der die Betriebsratswahl neu konturiert, scheint möglich. Ob auch die Unternehmensmitbestimmung angepackt werden soll (rechtsmissbräuchliche Formumwandlungen, Hineinwachsen in die Schwellen der Mitbestimmung), das werden wir sehen.
Steuerfreiheit für Überstunden
innovativ ist das Vorhaben, Überstundenvergütung steuerfrei zu stellen, wenn sie über die Arbeitszeit eines Vollzeitmitarbeiters hinausgeht. Dies steht in einem reizvollen Kontrast zur Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 29.07.2024, Az. C 184/22, dies umsetzend BAG v. 05.12.24, Az. 8 AZR 370/20), der bei den Überstundenzuschlägen hierin (fälschlich) eine unzulässige Diskriminierung wegen der Teilzeit und sogar eine unzulässige Geschlechtsdiskriminierung gesehen hat – die meisten Teilzeitbeschäftigten sind ja Frauen.
Es stellt sich also die Frage, ob der Gesetzgeber etwas darf, was der Arbeitgeber nicht darf. Meines Erachtens ist die Antwort klar: Er darf es, denn seine Ziele sind anders. Er will zu einem Mehr an gesamtgesellschaftlicher Beschäftigung anreizen und dazu ist das Steuerrecht als Lenkungssteuer allgemein geeignet und legitim.
Familiengerechte Arbeitswelt für mehr Beschäftigung
All das hat man vor und vielleicht noch einiges mehr. Es bleibt zu hoffen, dass arbeitsrechtliche Lücken, die bislang noch offen im Sondierungsergebnis klaffen, noch geschlossen werden, allen voran die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Hier hat der wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesfamilienministerium (BMFSJ) kürzlich sehr lesenswerte "Leitlinien und Rechtsrahmen für eine familiengerechte Arbeitswelt" vorgelegt, an der es Maß zu nehmen gilt – einbezogen werden könnte dann auch der 8. Familienbericht "Zeit für Familie" von 2012, der ebenfalls damals schon ein Mehr an Familienkompatibilität eingefordert hat. Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf liegt nicht allein im Interesse der Familien, sondern auch der Gesamtgesellschaft, denn dadurch kann Erwerbspotential gehoben werden.
Ebenso scheint es erforderlich zu sein, noch einmal eine bessere Konkretisierung und Konturierung des Beschäftigtenbegriffs legislativ zu versuchen. § 127 Sozialgesetzbuch (SGB) IV war hier ein erster Versuch, die unglückliche Herrenberg-Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) in den Griff zu bekommen. Das BSG hatte in dem Fall das Kriterium der Eingliederung in die Betriebsabläufe stärker als zuvor gewichtet und damit eine abhängige Beschäftigung inklusive einer Versicherungs- und Beitragspflicht für eine bis dahin freiberuflich tätige Musiklehrerin festgestellt. Mit der darauf gefolgten schnellen Neuregelung der Norm im SGB kann die abhängige Beschäftigung vermieden werden. Allen ist jedoch klar, dass dies nur ein sehr vorläufiger Versuch gewesen sein kann, dem eine grundsätzlichere und langfristigere (der ja als Übergangsregelung konzipierten) Regelung folgen muss.
Einschränkung des Streikrechts und Bürokratieabbau
Dann mag zuletzt, ist man mutig genug, noch das Streikrecht angepasst werden: "Spontan-Streik! Verdi legt Airport Hamburg lahm", titelte jüngst die Bildzeitung. Die Gewerkschaften greifen auch in der sensiblen Infrastruktur, auf die die Öffentlichkeit in besonderer Weise angewiesen ist (Daseinsvorsorge), zu unangekündigten Streiks, wodurch eben nicht nur die Bestreikten, sondern auch die Öffentlichkeit in besondere Mitleidenschaft gezogen ist.
Politische Forderungen hier eine Ankündigungsfrist legislativ vorzuschreiben, liegen bereits seit langem auf dem Tisch. Man mag nachdenken, dies insbesondere etwa auch im Krankenhausbereich (und nicht nur im Infrastrukturbereich) auch tatsächlich einmal in die Hand zu nehmen. Wenn nicht jetzt wann dann?
Anderes kommt in Sinn. Die BDA hat sinnvolle Vorschläge zum Bürokratieabbau im Arbeitsrecht gemacht und der DGB hat sich Gedanken zur Stärkung der Tarifautonomie gemacht, die es auch wert sind, angeschaut zu werden.
Insgesamt zeigt sich, einiges Gutes ist bereits zu finden, anderes mag nachgetragen werden. Die nächsten Wochen bleiben herausfordernd für die Verhandler. Eine öffentliche Diskussion kann hier die Suche nach guten Ergebnissen sinnvoll begleiten. Nur Mut heißt es da. Unverändert mahnt uns die Offenbarung Johannes: “Ach, dass du kalt oder heiß wärst! So aber, weil du lau bist und weder kalt noch heiß, werde ich dich ausspeien aus meinem Mund.”
Der Autor Prof. Dr. Gregor Thüsing ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit der Universität Bonn.
Zu Sondierungen von CDU/CSU und SPD im Arbeitsrecht: . In: Legal Tribune Online, 11.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56769 (abgerufen am: 14.03.2025 )
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