Seit Monaten steht fest, dass die rückwirkende Verlängerung und nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung rechtswidrig sind. Die Forderungen der Politik sind laut, beseitigt wird der völkerrechtswidrige Zustand nicht. Ein Kommentar von Thomas Ullenbruch zu taktischen Winkelzügen in einem beispiellosen Schwarze-Peter-Spiel zwischen Presse, Stammtisch und Wählern.
Seit Mitte Dezember 2009 vergeht kein Tag, an dem das Reizwort der Sicherungsverwahrung nicht in irgendeiner Schlagzeile auftaucht. Viele Leser tendieren ob des derzeitigen Umbruchs - gefühlsmäßig - eher zu Unverständnis. Das "Wegsperren für immer" war ein so simpler wie genial-populistischer Unsatz eines deutschen Bundes- und Medienkanzlers.
Doch es gibt mehr mündige Bürger als manche(r) Politiker(in) glaubt. Und diese Leser spüren zunehmend, dass – auch hier – politisch etwas ziemlich schief läuft. In der Tat: Die Hängepartie Berlin/Karlsruhe/Straßburg ist ihrerseits gefährlich, die Lage ernst. Derzeit drohen vor allem zwei Institutionen Schaden zu nehmen: zum einen der Rechtsstaat, zum anderen das Bundesverfassungsgericht. Und es steht nicht zuletzt auch die internationale Reputation Deutschlands auf dem Spiel.
Die Diskussion muss schon deshalb schleunigst versachlicht, politisches Eiertanzgerede beendet und tatkräftiges Handeln der hierfür gewählten Abgeordneten (Legislative) und ernannten Richter (Judikative) sichtbar werden, damit die Dritte Gewalt (Exekutive) vor allem in Gestalt der Polizeibeamten und Bediensteten in den Justizvollzugsanstalten endlich wieder eine Orientierung hat.
Und: Die im Grundgesetz so gar nicht vorgesehene Vierte Gewalt - vulgo: Die Presse – sollte sich angesichts der Komplexität der Problematik mehr zurückhalten. Die Angst, auf der Titelseite eines Massenblattes (mit kaum einer Handvoll Großbuchstaben im Titel) "geschlachtet" zu werden, darf weder Abgeordnete noch Richter länger in einer Art antizipierter Schockstarre untätig verharren lassen.
Wie alles begann
Worum geht es? Das Problem der Entlassung von Strafgefangenen oder Sicherungsverwahrten, obwohl sie bis zum Ende der vom Gericht gegen sie angeordneten Freiheitsentziehung im Gefängnis (noch) nicht garantiert rückfallungefährlich geworden sind, ist nicht neu. Gleichwohl versahen die deutschen Gesetzgeber 1974 mit Blick auf die Eingriffstiefe der Sicherungsverwahrung als ultima ratio des Strafrechts unter dem (rechtsstaatlichen) Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit deren erstmalige Anordnung mit einer Höchstfrist von 10 Jahren und hielten daran jahrzehntelang eisern fest.
Am 20. September 1996 missbrauchte der 29-jährige Armin S im bayerischen Epfach die siebenjährige Natalie A und brachte sie anschließend um. Am 9. Januar 1997 tötete der 34-jährige Rolf D im niedersächsischen Varel unter ähnlichen Umständen die zehnjährige Kim K.
Die im Wesentlichen durch diese beiden Taten ausgelösten Diskussionen an den Stammtischen, in der weiteren Öffentlichkeit und schließlich auch in großen Teilen der Presse gipfelten immer wieder in dem Vorwurf angeblich zu lascher gesetzlicher Möglichkeiten hinsichtlich amtsbekannter (Rückfall-)Täter.
Sicher nicht zuletzt mit Blick auf die im Herbst 1998 anstehenden Neuwahlen zum Deutschen Bundestag setzten in der Folgezeit hektische Aktivitäten des Gesetzgebers ein. Mit Wirkung zum 31. Januar 1998 entfristete er die Sicherungsverwahrung. Sie darf seither gleich beim ersten Mal prinzipiell lebenslang verhängt werden.
Die Wende 1998: Entfristung der Sicherungsverwahrung - auch für Altfälle
Und die Abgeordneten beschlossen weiter, dass dies auch für die so genannten Altfälle gelten soll. Das heißt, auch mehr als 200 Sicherungsverwahrte, gegen die rechtskräftig Sicherungsverwahrung wegen Taten verhängt worden war, die zu einem Zeitpunkt begangen wurden, als deren Dauer noch auf 10 Jahre begrenzt war, mussten von einem Tag auf den anderen damit rechnen, bis zum Lebensende im Gefängnis festgehalten zu werden – entgegen einem rechtskräftigen Strafurteil; es sei denn, sie könnten vorher Richter davon überzeugen, dass sie nicht mehr gefährlich sind.
Weite Teile der Presse jubelten. Die meisten Rechtswissenschaftler waren entsetzt. Der elementare Zusammenhang zwischen Rechtskraft, Rechtssicherheit und Rechtsstaat lag auf der Hand. So veröffentlichte zum Beispiel der Verfasser bereits im Juli 1998 einen Aufsatz mit dem Titel: "Verschärfung der Sicherungsverwahrung auch rückwirkend – populär, aber verfassungswidrig?"
Die Richter der zuständigen Strafvollstreckungskammern bei den Landgerichten (LG) und der Senate der letztinstanzlich zuständigen Oberlandesgerichte (OLG) schlossen hingegen - vielleicht mitunter mit schlechtem rechtsstaatlichen Gewissen - mehrheitlich die Schulter mit der Presse, dem Stammtisch und dem Gesetzgeber.
Das BVerfG zieht mit: Keine Strafe, kein Rückwirkungsverbot
Die betroffenen Verwahrten und die Mehrheit der Rechtswissenschaftler zählten nun auf das Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Dieses setzte im Jahre 2004 eine große mündliche Hauptverhandlung an. Neben zwei Psychiatern wurde als einziger juristischer Sachverständiger der Verfasser angehört.
Letztlich befand der Zweite Senat aber, die rückwirkende Entfristung der Sicherungsverwahrung sei mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar; das absolute Rückwirkungsverbot gelte schon deshalb nicht, weil es sich bei der Sicherungsverwahrung um keine Strafe, sondern um eine Maßregel handele. Die Entscheidung erging insoweit mit sechs zu zwei Stimmen.
Wiederum herrschte bei den meisten Rechtskundigen blankes Entsetzen ob des ergebnis- und wohl vor allem presseorientierten "Etikettenschwindels" des ansonsten wegen seiner sachlich-unbestechlichen Herangehensweise auch international so reputierten höchsten deutschen Gerichts.
Alle Hoffnungen konzentrierten sich fortan auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, an den sich einer der beim BVerfG abgeblitzten Betroffenen noch im Jahre 2004 gewandt hatte.
Erst der EGMR kippt die rückwirkende Entfristung – das aber ganz einhellig
Im Dezember 2009 gab eine Kleine Kammer des EGMR seiner Beschwerde tatsächlich statt. Die rückwirkende Entfristung erstmalig angeordneter Sicherungsverwahrung verstoße gegen das Verbot der Rückwirkung und verletze das Recht auf Freiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Der Bundesrepublik Deutschland wurde überdies die Zahlung einer Entschädigung in Höhe von 50. 000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden des Betroffenen auferlegt. Die Entscheidung des siebenköpfigen Spruchkörpers (je ein Richter aus Dänemark, Deutschland, Tschechien, Liechtenstein, Monaco, Mazedonien und Bulgarien) erging einstimmig.
Trotz einer möglicherweise irreparablen rechtswidrigen Freiheitsentziehung deutscher Staatsbürger schöpfte die Bundesregierung die dreimonatige Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs nahezu voll aus und beantragte erst Mitte März 2010 die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer des EGMR.
Es sah aus, als müssten die zwischenzeitlich immer noch an die 100 bereits "überfälligen" Betroffenen (etwa 30 weitere werden erst in den nächsten Jahren die zehn Jahre erster Sicherungsverwahrung "voll" haben) erneut monate- oder gar jahrelang auf eine Entscheidung aus Straßburg warten.
Doch bereits am 10. Mai 2010 lehnte ein Vorprüfungsausschuss der Großen Kammer den Antrag der Bundesregierung ab. Für eine Befassung des 17-köpfigen Gremiums mit der Sache ergab die deutsche Antragsbegründung keinen Anlass. Auch diese Entscheidung des fünfköpfigen Spruchkörpers erging einstimmig, die Entscheidung des EGMR war damit völkerrechtlich rechtskräftig.
Die Zeit vergeht, die Zustände bleiben rechtswidrig
Die Hoffnungen konzentrierten sich nun darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland zeitnah die Entscheidung nicht nur im Falle des Beschwerdeführers umsetzen, sondern auch den konventionswidrigen Zustand bei den anderen Verwahrten beseitigen würde, die teilweise bereits mehr als 12 Jahre unter Verstoß gegen die Menschenrechte aus Art. 5 und 7 EMRK weiter im Gefängnis festgehalten werden.
Immerhin hat die Bundesrepublik Deutschland die EMRK bereits vor Jahren ratifiziert. Sie gilt seither im Range eines einfachen Bundesgesetzes - und zwar in Gestalt ihrer aktuellen Auslegung durch den EGMR. Die Bundesrepublik und ihre staatlichen Organe, also auch die Vollstreckungsgerichte, sind völkerrechtlich verpflichtet, zu verhindern, dass es in gleichgelagerten Fällen zu einer entsprechenden Verletzung der EMRK kommt.
Aber von wegen: In den nunmehr fast drei Monaten seit der Endgültigkeit der Straßburger Entscheidung sind lediglich 14 der etwa 100 Untergebrachten, die bereits aktuell von der nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung in Gestalt der Vollstreckung über zehn Jahre hinaus betroffen sind, in Freiheit gelangt.
Letztinstanzlicher Türöffner in Fragen der Weitervollstreckung oder Erledigungserklärung von Sicherungsverwahrung sind nach dem jahrzehntelang bewährten deutschen Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) die OLG.
Zwischen Völkerrecht und Landesministerium: Die Spaltung der OLG
Bei der Umsetzung der Entscheidung des EGMR vom Dezember 2009 spalteten sich diese aber alsbald in zwei Lager: Vier OLG erklärten – streng sachorientiert und richterlich unabhängig – kraft judikativer Kompetenz sofortige Freilassungsweisungen für völkerrechtlich zwingend. Sie bestätigten entweder entsprechende Entscheidungen der Richter der zuständigen Strafvollstreckungskammern (StVK) der LG Marburg und Essen, die die Vorgaben aus Straßburg ihrerseits selbstbewusst, ohne ängstlichen Blick auf die Presse und unabhängig vom Missfallen der jeweiligen Landesjustizministerien umgesetzt hatten.
Oder sie hoben auf sofortige Beschwerden der Untergebrachten gegenläufige, wenngleich zum Wohlgefallen der jeweiligen Landesjustizministerien ergangene erstinstanzlicher Beschlüsse der LG Freiburg, Arnsberg und Lübeck auf. Derart entschieden die OLGe Hamm (12.05. und 22.07. 2010), Frankfurt (unter anderem 24.06. und 1.07. 2010), Karlsruhe (15.07. 2010 und 4.08.2010) und Schleswig (15.07.2010).
Gänzlich anders die Sichtweise im anderen Lager der OLG: Die Umsetzung der Straßburger Vorgaben sei jedenfalls nicht Sache (einfacher) deutscher Gerichte; die von den erstinstanzlichen LG – zum Wohlgefallen der jeweiligen Landesjustizministerien – abgelehnte Erledigungserklärung der Sicherungsverwahrung der Untergebrachten (mit der Folge deren weiterer Freiheitsentziehung) könne folglich nur bestätigt werden. Dergestalt entschieden (bislang) die OLG Celle (25.05. 2010), Stuttgart (01.06.2010), Koblenz (07.06.2010), Nürnberg (24.06. 2010) und Köln (14.07. 2010).
Wie die Bundesregierung Divergenzen zu vermeiden sucht und die Gerichte sich wehren
Soeben hat die Bundesregierung mittels des deutschen Gesetzgebers versucht - mit Wirkung zum vorvergangenen Freitag (29. Juli 2010), allen OLGen den Weg zu etwaigen Freilassungsweisungen zu versperren, indem sie dem einen - völkerrechtlich überaus problematischen - Riegel vorschiebt. Ab sofort hat nach dem Divergenzgesetz ein OLG bei einer Entscheidung über die Zulässigkeit der weiteren Vollstreckung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung die Sache dem Bundesgerichtshof vorzulegen, wenn es von einer nach dem 1. Januar 2010 ergangenen Entscheidung eines anderen Oberlandesgerichts oder von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes abweichen (will).
Dass diese Rechnung tatsächlich aufgeht, erschien bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes äußerst fraglich. Schon eine Woche zuvor hatte das OLG Hamm mit Beschluss vom 22.07. 2010 deutlich gemacht, dass nach seinem Rechtsverständnis eine Vorlagepflicht in den Fällen, in denen ein OLG die Vorgaben aus Straßburg umsetzen, also den Betroffenen sofort freilassen will, gerade nicht besteht.
Insoweit erfolge zwar eine Abweichung von anderen OLG, die Rechtsauffassung stehe aber vollständige in Einklang mit der (bislang einzigen relevanten) Entscheidung des 4. Strafsenats des BGH vom 12. Mai 2010. Diese beziehe sich zwar auf einen Fall erst während der Vollstreckung eines Urteils angeordneter so genannter nachträglicher Sicherungsverwahrung, die zu entscheidende Rechtsfrage "Sicherungsverwahrung/Rückwirkung" sei indes dieselbe.
Das OLG Hamm setzte sich des Weiteren in ungewohnter Deutlichkeit mit dem "Divergenzgesetz" auseinander. So formulierte es unter anderem: " . . . (der Senat) sieht sich vor allem deshalb auch in seiner Rechtsauffassung bestätigt, weil der Gesetzgeber deutlich zu erkennen gegeben hat, dass er nicht beabsichtigt, seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zur Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs nachzukommen. Vielmehr hat er, statt die Rechtsfrage über die Beendigung der Sicherungsverwahrung nach zehn Jahren zu regeln, eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes auf den Weg gebracht, um eine einheitliche Regelung durch die Gerichte, nicht jedoch durch ihn selbst zu ermöglichen. . . Soweit es den Äußerungen der Bundesjustizministerin zu entnehmen ist, soll die Verantwortung auf die Gerichte abgeschoben werden . . .".
Gerade fünf Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes schloss sich das OLG Karlsruhe mit Beschluss vom 4. 8. 2010 im Ergebnis dem OLG Hamm an und stellte hinsichtlich eines weiteren Verwahrten ein von der Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde zu beachtendes, die sofortige Freilassungsweisung gebietendes (absolutes) Vollstreckungshindernis fest – und all dies ohne vorherige Vorlage. Die Befassung des BGH sei in derartigen Konstellationen gar nicht zulässig; eine Vorlagepflicht bestehe (derzeit) ausschließlich dann, wenn ein OLG von der vorgenannten Entscheidung des BGH abweichen, also die Fortdauer der Vollstreckung der Sicherungsverwahrung bestätigen wolle.
Das Schwarze-Peter-Spiel: Wer zuerst auftaucht, hat verloren
Das alles versteht nur, wer durchschaut, welches peinliche "Schwarze – Peter – Spiel" mit Blick auf Presse, Stammtisch und Wähler seit nunmehr einem Vierteljahr in Deutschland rund um das Thema Sicherungsverwahrung aufgeführt wird. Das Divergenzgesetz ist so gesehen nichts als ein (kläglicher) Versuch, sich einen strategischen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.
Der Spielgedanke ist dabei folgender: Es gibt 3 Spieler: Den Bundesgesetzgeber, das Bundesverfassungsgericht und diejenigen OLG, die die Umsetzung der Straßburger Vorgaben ablehnen. Alle drei wissen, dass eine Entscheidung des EGMR a) an sich zeitnah umgesetzt werden muss, dies aber b) unpopulär ist und c) die Gefahr medialer Pranger-Prominenz birgt.
Dem entsprechen die Spielregeln: Verloren hat, wer als erster "aus der Furche auftaucht" und ob der allfälligen Grundsatzentscheidung in entsprechend großbuchstabiger Presseberichterstattung geschlachtet wird. Zeitgewinn ist folglich das A und O. Ein genialer Trick ist es dabei naturgemäß, wenn plötzlich ein Vierter, der gar nicht mitspielt (zum Beispiel der BGH), den Schwarzen Peter in der Hand hält. Vor allem, wenn er sich dagegen nicht wehren kann und auch die OLG, die ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachkommen, sich irreführen lassen und mitspielen.
Der derzeitige Spielstand: Dem BVerfG liegen seit Dezember 2009 Verfassungsbeschwerden wegen Nichtumsetzung der Vorgaben aus Straßburg durch einige OLG vor. Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Gestalt der Aussetzung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung hat es mit Kammerbeschlüssen vom 22. Dezember 2009 und – selbst nach Endgültigkeit der Entscheidung des EGMR – vom 19. Mai 2010 abgelehnt. Mit einem ominösen Hinweis auf den angeblich offenen Ausgang des Hauptverfahrens (Stichwort: Quadratur des Kreises).
Sommerpause statt Rechtsstaat?
Trotz des akuten Handlungsbedarfs schon mit Blick auf den gegebenenfalls irreparablen Charakter der Fortdauer der Freiheitsentziehung der Beschwerdeführer hat es bis heute nicht einmal einen Termin zur Durchführung der Hauptverfahren bestimmt. Dafür, dass das BVerfG in vorliegender Sache ernsthaft den Konflikt mit dem EGMR sucht und der Zeitablauf der mit Hochdruck betriebenen Suche nach argumentativer Untermauerung geschuldet ist, gibt es dabei keinerlei Anhaltspunkte.
Hinter vorgehaltener Hand wird vielmehr allenthalben gemunkelt, man wolle in vornehmer Zurückhaltung dem Gesetzgeber und auch dem BGH (als oberstem Fachgericht) den "Vortritt" zur Umsetzung der menschenrechtlichen Vorgaben lassen.
Der Bundesgesetzgeber (beziehungsweise vor und hinter ihm stehend die Bundesregierung) hält sich gleichfalls bescheiden zurück. Die legislative Umsetzung der Vorgaben des EGMR erschöpfte sich bislang in der Verabschiedung des Divergenzgesetzes. Damit sei jedenfalls die Einheitlichkeit des Umgangs der Judikative mit der EMRK sichergestellt. Hinter vorgehaltener Hand wird ergänzt, jetzt könne man sich beruhigt in die Sommerpause verabschieden; alsbald seien der BGH und das BVerfG am Zuge.
Die OLG, die Freilassungen ablehnen, können sich gleichfalls entspannt zurücklehnen. Die Umsetzung der Vorgaben aus Straßburg in eigener Kompetenz ist sowieso nicht ihr Anliegen, der verbreitete Hinweis, man wolle nicht in die Kompetenz des Gesetzgebers eingreifen, wird zwar zunehmend hohler, weil nicht mehr zu übersehen ist, dass der Gesetzgeber deren Gebrauch scheut wie der Teufel das Weihwasser. Selbst ablehnen aber dürfe man ja jetzt (leider, leider) auch nicht mehr; dann könne man eben die Sache nur noch dem BGH unterbreiten.
Einzig die OLGe, die die Straßburger Vorgaben unmittelbar umsetzen, stören - zumal mit überaus pfiffiger Argumentation - den sommerlichen Frieden. Sie legen den Finger in die rechtsstaatlich und konventionsrechtlich beispiellose Missachtung des EGMR und der EMRK.
Die nächste Runde: Möglichkeiten und Chancen
Nicht zu beneiden ist nach alledem der 5. Strafsenat des BGH. Er hat jetzt den Schwarzen Peter. Der Eingang der ersten Vorlage eines eine Freilassung ablehnenden OLG ist absehbar. Die obersten Strafrichter haben dann eine echte Alternative: Entweder sie entscheiden durch, indem sie zeitnah die Verpflichtung und Kompetenz der deutschen LG und OLG zur Umsetzung der Freilassungsvorgaben aus Straßburg feststellen. Oder sie nehmen das Blatt auf, verinnerlichen den Aspekt des Zeitgewinns - und rufen den Bundesgesetzgeber und das BVerfG zurück an den Spieltisch.
Im zweiten Fall können sie zwischen zahllosen Finessen wählen. So könnten sie zum Beispiel einfach abwarten, ob – und wenn ja, wie – sich die beiden Mitspieler nach der Rückkehr aus der Sommerpause verhalten. Sie könnten aber auch gleich das Verfahren aussetzen und dem BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG vorlegen. Oder aber sie legen die Sache erst einmal dem Großen Strafsenat des BGH vor, falls sie von der genannten Entscheidung des 4. Strafsenats abweichen möchten.
Auch nach nunmehr 12-jährigem menschenrechtswidrigem Zustand bleibt also - wieder einmal - nur die Hoffnung, dass doch noch Vernunft bei den deutschen Entscheidungsträgern einkehren möge. Sei es, dass das BVerfG alsbald und endlich auch zu diesem Thema mutig den Weg zur Umsetzung der Vorgaben aus Straßburg aufzeigt. Sei es, dass der BGH zeitnah der bereits am 12. Mai 2010 getroffenen mutigen Entscheidung seines 4. Strafsenats den Rücken stärkt. Und das schnell.
Damit der Gesetzgeber seinerseits zur Vermeidung erneuter internationaler Flurschäden wenigstens noch rechtzeitig erkennt, dass die derzeitigen Überlegungen zur Beibehaltung der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ausgerechnet für Altfälle nur als vorsätzliche Fortsetzung der völkerrechtlichen Irrfahrt verstanden werden können.
Der Autor Thomas Ullenbruch ist Richter am AG Emmendingen sowie Autor und Mitherausgeber zahlreicher Veröffentlichungen insbesondere zur Sicherungsverwahrung.
Sicherungsverwahrung: . In: Legal Tribune Online, 12.08.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1188 (abgerufen am: 14.10.2024 )
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