Nun ist sie abgelaufen, die Frist, die das BVerfG dem alten Recht zugebilligt hat. Rechtzeitig am 1. Juni ist das Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung in Kraft getreten. Aber Pünktlichkeit ist nicht alles, kommentiert Kay Nehm. Er hält die Neuregelung für unzureichend.
Das deutsche strafrechtliche Sanktionensystem ist traditionell zweispurig. Es unterscheidet zwischen dem verschuldensabhängiges Strafen auf der einen und Maßregeln der Besserung und Sicherung auf der anderen Seite. Diese Differenzierung gehört zu den bewährten Errungenschaften des deutschen Strafrechts. Auch wenn die Maßregel der Sicherungsverwahrung als solche nicht zur Disposition steht, bleiben ihre Anordnung und ihr Vollzug auch nach zahlreichen Urteilen und der gesetzlichen Neuregelung umstritten.
Frühe Ansätze zu therapieorientierten Reformen fielen zumeist dem Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit zum Opfer. Als besonders kreativ erwies sich der Gesetzgeber seit 1998. Die Verschärfungen hatten zur Folge, dass die Zahl der Untergebrachten zwischen 1997 und 2010 von etwa 180 auf über 500 anstieg. Kritische Stimmen blieben ungehört.
Zwar erinnerte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Jahr 2004 an das Erfordernis eines privilegierten Vollzuges der Sicherungsverwahrung. Es müsse sichergestellt sein, dass ein Abstand zwischen dem allgemeinen Strafvollzug und dem Vollzug der Maßregel gewahrt bleibt, der deren spezialpräventiven Charakter deutlich macht.
Dennoch änderte sich zunächst nichts. Erst als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Grundlagen der Maßregel in Frage stellte, sahen sich die Verfassungsrichter zum Handeln gezwungen. Im Bestreben, die Straßburger Rechtsprechung mit den Anforderungen des Grundgesetzes in Einklang zu bringen, verwarfen sie das geltende Recht und forderten den Gesetzgeber auf, die Sicherungsverwahrung bis zum Ablauf einer Übergangsfrist neu zu ordnen.
Karlsruhe hat mehr gefordert als das Abstandsgebot
Wer nach der Vorgabe des Urteils, Bund und Länder sollten ein freiheitsorientiertes therapiegerichtetes Gesamtkonzept der Sicherungsverwahrung entwickeln, den "großen Wurf", zumindest aber eine Generalüberholung der Anordnungsvoraussetzungen erwartet hatte, wird enttäuscht. Anzuerkennen ist die Reduktion der nachträglichen zugunsten der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung und deren Abschaffung im Jugendstrafrecht. Ansonsten beschränkt sich das neue Recht jedoch im Wesentlichen darauf, dem Abstandsgebot Geltung zu verschaffen.
Da der Bund von einer Neubekanntmachung des Gesetzes abgesehen hat, bleibt unklar, unter welchen materiellrechtlichenVoraussetzungen künftig Sicherungsverwahrung angeordnet werden darf. Nach der Übergangsregelung gilt für Altfälle altes Recht. Auch auf diese ist aber das neue Recht dann anzuwenden, wenn das verfassungsrechtlich geboten ist.
Sicherungsverwahrung ist in diesen Fällen also nur noch zulässig, wenn beim Betroffenen eine psychische Störung vorliegt und aus konkreten Umständen oder aus seinem Verhalten eine hochgradige Gefahr abzuleiten ist, dass er infolge dieser Störung schwerste Gewalt- oder Sexualstraftaten begehen wird.
Die Fortgeltung alten Rechts beruht auf der Annahme, das für verfassungswidrig erklärte bisherige Recht werde mit Ablauf der von Karlsruhe angeordneten Übergangsfrist nach Maßgabe der Urteilsgründe wieder aufleben, sobald der Vollzug der Maßregel den strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht.
Tatsächlich hat das BVerfG ausgeführt, der schwerwiegende Eingriff in das Freiheitsgrundrecht sei nur nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und unter Wahrung strenger Anforderungen an die zugrundeliegenden Entscheidungen und die Ausgestaltung des Vollzugs zu rechtfertigen. Die Wahrung des Abstandsgebots ist somit nur eine von drei Forderungen
Das neue Recht der Sicherungsverwahrung: . In: Legal Tribune Online, 03.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8814 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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