Nicht nur für das Umweltvölkerrecht ist das Urteil gegen Shell bahnbrechend. Für den Bereich der unternehmerischen Menschenrechtsverantwortung schafft es einen echten Präzedenzfall, meinen Pierre Thielbörger und Rouven Diekjobst.
Ein Urteil vom vergangenen Mittwoch verpflichtete den Royal Dutch Shell (RDS) Konzern, den Ausstoß von CO2 bis 2030 um netto 45 Prozent im Vergleich zu 2019 zu senken. Schnell machte die Entscheidung Schlagzeilen als "bahnbrechend". Aber warum ist das eigentlich alles so besonders?
Der Hague Disctrict Court hatte bereits 2015 für Aufsehen gesorgt: Die Kolleginnen und Kollegen der Richter:innen, die nunmehr zu den juristischen Jeannes d’Arcs (oder Ruth Bader Ginsburgs) der Klimabewegung avanciert sein dürften, hatten damals erstinstanzlich über den Fall der Urgenda Foundation gegen die Niederlande entschieden. Dieses später vom höchsten niederländischen Gericht bestätigte Urteil gilt bis heute als Meilenstein in der Entwicklung menschenrechtsbasierter Klimaklagen.
Das Gericht hatte damals befunden, die Niederlande seien menschenrechtlich verpflichtet, die selbst eingegangenen Ziele des Pariser Klimaabkommens einzuhalten und die nationalen Treibhausgasemissionen zu senken. Dazu muss man bedenken, dass die Niederlande als stark monistisch geprägtes System dem Völkerrecht im nationalen niederländischen Recht direkte Anwendung gewährt – für Klagen, die internationalen Verpflichtungen besondere Priorität einräumen, ist dieses System also geradezu gemacht.
Klimaklage gegen Unternehmen als wegweisendes Novum
Erfolgreiche "Klimaklagen" sind heute aber auch in anderen Staaten keine Seltenheit mehr, so folgten z.B. vergleichbare Urteile in Irland und kürzlich in Deutschland. Das jüngste Urteil aus den Niederlanden wird sicher zu diesem Momentum beitragen. Wenn selbst das ansonsten nicht gerade für seine radikale Progressivität bekannte Bundesverfassungsgericht sich auf die Seite zukünftiger Generationen stellt, soll das ja schon einiges heißen. Die niederländische Entscheidung ist insofern eine weitere Bekräftigung des menschenrechtsbasierten Ansatzes zum Klimaschutz, den auch die bisherigen Klagen gegen Staaten verfolgten.
Ähnlich gelagerte Klagen gegen Unternehmen sind aber ein wegweisendes Novum. Dies muss im Zusammenhang mit der Diskussion zur im internationalen Recht äußerst wichtigen menschenrechtlichen Verpflichtung von Unternehmen gesehen werden. In dieser Hinsicht schafft das Urteil einen echten Präzedenzfall.
Eigenständige Verpflichtung von Shell zur Reduzierung der CO2-Emissionen
Das Gericht stellt fest, dass das Unternehmen eine eigenständige Verpflichtung habe, seine Emissionen auf ein Niveau zu drosseln, das kompatibel mit dem Erreichen der Ziele des Pariser Klimaabkommens sei. Als Grundlage für diese Verpflichtung identifizierte das Gericht eine nach niederländischem Recht bestehende Sorgfaltspflicht. Dabei sei RDS auch für die Emissionen der Zuliefererunternehmen und Endabnehmer verantwortlich, die es aufgrund der "corporate policy" sowie seiner Marktmacht beherrsche. Zur Bestimmung des Umfangs der Verpflichtung – 45 Prozent-Senkung bis 2030 im Vergleich zu 2019 – stellt das Gericht auf die neusten Zahlen des Weltklimarats ab.
Damit stellt das Gericht sich explizit der Kernargumentation von RDS entgegen. Shell hatte argumentiert, aufgrund global gesehen zu vernachlässigender Beiträge zum Klimawandel bzw. der Unbestimmbarkeit darüber, wie effektiv Einsparungen eines einzelnen Unternehmens seien, könne RDS nicht zur Senkung der Emissionen verpflichtet werden.
Zwar träfen beide Annahmen zu, so die Richter. Das ergäbe sich aber lediglich aus der internationalen Natur der Klimakrise und könne RDS nicht von seinen individuellen Verpflichtungen befreien. Man kann den Richtern nur gratulieren, dass sie anscheinend ein bisschen mehr Elinor Ostrom gelesen (oder verstanden) haben als die Beklagtenseite. RDS hat natürlich trotzdem angekündigt, gegen das Urteil Berufung einzulegen.
Großer Schritt für das Umweltvölkerrecht, noch größerer für die unternehmerische Menschenrechtsbindung
Weniger offensichtlich als die Auswirkungen auf das Umweltvölkerrecht, aber mindestens ebenso wichtig, ist die Bedeutung des Urteils für den Bereich unternehmerischer Menschenrechtsverantwortung – in dieser Hinsicht liefert das Urteil einen echten Präzedenzfall.
Traditionell sind nur Staaten, nicht Unternehmen an internationales Recht (und damit auch an Menschenrechte) gebunden. Schon vor zehn Jahren hatten die Vereinten Nationen unter der Ägide von John Ruggie allerdings die Guiding Principles on Business and Human Rights (UNGPs) verabschiedet, die auch eine Verantwortung von Unternehmen umreißen. Dabei handelt es sich zwar in großen Teilen um soft law, also um rechtlich unverbindliche Erklärungen. Das gilt insbesondere, soweit die UNGPs die Unternehmen (und nicht die sie regulierenden Staaten) betreffen. So beschreibt die zweite Säule dieser Prinzipien unternehmerische Verantwortung, nicht Verpflichtung.
Trotzdem hat die Diskussion um transnationale Unternehmen seit den UNGPs unaufhaltsam Fahrt aufgenommen. So wird aktuell der nunmehr dritte Vertragsentwurf eines internationalen verbindlichen Abkommens zum Thema Unternehmen und Menschenrechte vorm Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen diskutiert und auch nationale Initiativen nehmen mehr und mehr Gestalt an, z.B. seit 2017 das französische loi de vigilance und jüngst das deutsche Lieferkettengesetz.
Menschenrechte und Umweltschutz müssen zusammengedacht werden
Zwar starten die Ausführungen zur Bedeutung der Menschenrechte im Urteil zunächst verhalten; das Gericht konstatiert nüchtern, dass weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch andere internationale Menschenrechtsverträge unmittelbar auf RDS anwendbar sind. Allerdings konturierten diese Verpflichtungen einen gewissen Schutzstandard, den RDS als Teil seiner Sorgfaltspflichten gewährleisten muss. Insofern hält das Gericht auch die UNGPs im Rahmen der Auslegung für beachtlich und kommt schließlich zu dem Schluss, dass Unternehmen wie RDS eine von Staaten unabhängige Verpflichtungen hätten, Menschenrechte zu respektieren.
Das Urteil aus den Niederlanden schwächt zum einen diejenigen, die versuchen, die Debatte um Unternehmen und Menschenrechte von derjenigen um unternehmerische Umweltstandards zu trennen, um die Debatte "nicht zu überfrachten". Die Wahrheit ist, dass beides – Menschenrechte und Umweltschutz – zusammen gedacht werden muss, wie es der Entwurf des deutschen Lieferkettengesetzes auch tut.
Es ist zweitens eine Erinnerung an all diejenigen, die bei den UNGPs oder den Pariser Klimazielen immer darauf pochen, dass es sich hier um unverbindliches soft law ohne große Bedeutung handele. Auch solches soft law kann und sollte von Gerichten genutzt werden, um verbindliche Standards (hier nach niederländischem Deliktsrecht) zu bestimmen.
Und drittens bekommen all diejenigen weiteren Rückenwind, die sich in den verschiedenen Debatten um Unternehmen und Menschenrechte dafür aussprechen, den "corporate veil" zu durchbrechen – also Unternehmen nicht nur für eigenes Handeln und Unterlassen in die Haftung zu nehmen, sondern eben auch die Lieferkette entlang, inklusive Zulieferer-Unternehmen.
Was bedeutet das Urteil für Verfahren vor deutschen Gerichten?
Die Initiative hat bereits verlauten lassen, weitere Klagen, vor allem auch in Deutschland, folgen zu lassen. Im Hinblick auf Popularklagen, unternehmerische Verantwortung und den Einfluss internationaler Standards auf das Zivilrecht ist die deutsche Rechtslage mit der niederländischen indes nur schwerlich vergleichbar, sodass das Urteil keine direkten Rückschlüsse für eventuelle Verfahren vor deutschen Gerichten zulässt.
Zudem präsentierten sich deutsche Gerichte bisher zurückhaltender, was sich jedoch bald ändern könnte: In einem ähnlich gelagerten Fall vor dem OLG Hamm verklagt momentan ein peruanischer Farmer RWE auf Entschädigung. Zwar geht es in dem Verfahren nicht um die Senkung von Treibhausgasemissionen, trotzdem darf das Urteil – gerade vor dem Hintergrund der nun ergangenen niederländischen Entscheidung – mit Spannung erwartet werden. Werden deutsche Richter bei der Bestimmung der Verantwortung von Unternehmen für den Klimawandel ähnlich weit gehen wie ihre niederländischen Kollegen?
Schließlich bleibt zu hoffen, dass auch der deutsche Gesetzgeber bei diesem Urteil genau hinschaut. Die gerichtliche Herleitung der Schutzpflichten ist zwar letztendlich durchaus überzeugend; der hohe Begründungsaufwand verdeutlicht aber, dass aus einem Streit um Umwelt und Menschenrechte schnell ein rechtsstaatliches Problem werden kann. In diesen Bereichen, die besonders wichtig für menschliches (Zusammen)Leben und gleichzeitig für die Wirtschaft sind, für Rechtssicherheit zu sorgen, sollte dem Gesetzgeber ein Anliegen sein. Eine gute Nachricht ist insofern, dass das deutsche Lieferkettengesetz kurz vor der Verabschiedung steht.
Urteil wird juristische Debatte zur Verantwortlichkeit von Unternehmen prägen
Das Urteil aus den Niederlanden wird zurecht als bahnbrechend und historisch beschrieben – dies liegt aber nicht daran, dass das Gericht über bisher anerkannte Standards signifikant hinaus gegangen wäre. Viel bedeutsamer ist die selbstbewusste Konsequenz, mit der es aus menschenrechtlichen Schutzpflichten und umweltvölkerrechtlichen Standards eine Sorgfaltspflicht auch von Unternehmen wie fast selbstverständlich herleitet.
Selbst wenn die Berufung Erfolg haben sollte, dürfte die stringente Argumentation der Richter die juristische Debatte im Bereich der (Umwelt-)Verantwortlichkeit von Unternehmen in den nächsten Jahren mitprägen.
Professor Dr. Pierre Thielbörger ist Lehrstuhlinhaber und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) an der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Rouven Diekjobst ist studentischer Mitarbeiter am IFHV.
Klima-Urteil gegen Shell: . In: Legal Tribune Online, 01.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45095 (abgerufen am: 12.12.2024 )
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