Till Lindemann hat vergeblich versucht, einer Konzertbesucherin die Aussage zu verbieten, sie sei unter Drogen gesetzt worden. Das LG Hamburg nimmt im Gegensatz zu Aussagen in einigen Medien bei ihr eine zulässige Meinungsäußerung an.
Sie brachte den "Lindemann-Skandal" ins Rollen. Die Irin und Rammstein-Konzert-Besucherin Shelby Lynn postete am 25. Mai dieses Jahres auf Instagram ein Bild ihres Oberkörpers mit einer Verletzung am Bauch. Dazu schrieb sie: "I was spiked at the concert, only had 2 drinks at pre party. And Till gave everybody a tequila shot. I Don't know when this happened or how." (etwa: "Auf dem Konzert wurde ich unter Drogen gesetzt, ich hatte nur zwei Drinks auf der Vorab-Party. Und Till gab allen einen Tequila Shot. Ich weiß nicht, wann oder wie das passiert ist.")
Die Veröffentlichung des Posts löste ein breites Echo in klassischen und Sozialen Medien aus. Zeitungen nahmen Kontakt zu mutmaßlich Betroffenen auf und berichteten auf Grundlage von deren Aussagen umfassend über Lindemann und das System der Zuführung von Frauen auf Konzerten.
Einige Medien erweckten nach Ansicht des Landgericht (LG) Hamburg auch den Verdacht, Lindemann habe Frauen gezielt unter Drogen gesetzt, um mit ihnen sexuelle Kontakte zu haben oder den Verdacht, er habe Frauen vergewaltigt. Diese Verdachtsverbreitungen wurden vom LG mangels eines Mindestbestands an Beweistatsachen verboten.
Lindemann-Anwälte gehen gegen Lynn vor
Schon vor diesen gerichtlichen Erfolgen versuchten auch die vormaligen Rechtsanwälte von Lindemann (Lichte Rechtsanwälte), gegen Lynn selbst vorzugehen, und versandten eine Abmahnung via WhatsApp, die LTO vorliegt. Sie verlangten die Abgabe einer Unterlassungserklärung mit der Begründung, sie würde den unwahren Eindruck erwecken, dass sie auf dem Rammstein-Konzert heimlich unter Drogen gesetzt worden wäre und Till Lindemann etwas damit zu tun hätte. Lynn reagierte hierauf zunächst nicht.
Nachdem Anwaltswechsel von Lindemann zu Schertz Bergmann Rechtsanwälte (Simon Bergmann) beantragte der Rammstein-Sänger eine einstweilige Verfügung gegen Lynn vor dem LG Hamburg. Er beantragte zum einen Unterlassung der Instagram-Profilbeschreibung "The girl that got spiked AT Rammstein" unter Ausklammerung des dahinter liegenden Zusatzes "please read my posts". Zum zweiten wollte er die oben erwähnte Aussage zum Unterdrogensetzen während des Konzerts und zum dritten einer Interviewpassage von Lynn mit der BBC verbieten lassen.
Nachdem Lynn vom Verfügungsantrag durch eine Pressemitteilung der Kanzlei erfahren hatte, ging sie ihrerseits in die Offensive. Sie mandatiere Rechtsanwalt Dr. Jasper Prigge und stellte sich dem Verfahren. Mit Erfolg: Die Pressekammer des LG wies nun sämtliche Unterlassungsanträge von Lindemann gegen Lynn ab (Beschl. v. 15.08.2023, Az. 324 O 256/23).
LG: "I got spiked" ist im Kontext Meinungsäußerung
Was den zentralen Vorwurf angeht, ohne ihr Wissen unter Drogen gesetzt worden zu sein ("I got spiked"), kommt das Gericht zu dem Schluss, dass eine zulässige Meinungsäußerung von Lynn vorliege. Damit widersprach es der Ansicht von Lindemann, Lynn habe unwahre Tatsachen behauptet. Die Differenzierung des Aussagetyps ist wichtig, da Meinungsäußerungen ungleich schwerer zu verbieten sind als unwahre Tatsachenbehauptungen. Die Einordnung der Aussagen von Lynn als Meinungen durch das LG ist insoweit überraschend, als nicht einmal Lynns Anwalt selbst von einer Meinungsäußerung ausging, sondern von einer Tatsachenbehauptung, die wegen berechtigter Interessen (§ 193 Strafgesetzbuch (StGB)) verbreitet werden dürfe.
Das LG stellt für die Begründung einer Meinungsäußerung voran, dass ihre Aussagen im Kontext mit weiteren Posts von ihr zu beurteilen seien. In diesen weiteren Posts schildert Lynn ausführlich ihre Erlebnisse: So stellt das LG etwa auf einen Tweet von Lynn ab, in dem sie erzählt, dass sie sich nach den Drinks und von Lindemann offerierten Tequila-Shot wie ein menschlicher Zombie gefühlt, gesungen und getanzt habe, gestolpert und gestrauchelt sei. Weiter erzählt sie, sie sei einige Zeit später unter erheblichen Schwierigkeiten zurück in ihr Hotelzimmer gelangt, lange Zeit wach und berauscht gewesen von dem, was auch immer ihr verabreicht worden sei. Schließlich habe sie sich nicht aus dem Bett bewegen können, ohne zusammenzubrechen, habe erbrochen und Durchfall gehabt. All dies ist laut LG unstreitig.
Unterscheidung zwischen Verdachtsäußerung und Schlussfolgerung
Im Kontext dieser Informationen sei für die Leser erkennbar, dass Lynn nicht behauptete zu wissen, wie ihr die Drogen verabreicht worden seien oder gar wer ihr die Drogen verabreicht habe. Vielmehr könne man erkennen, dass sie die Verabreichung von Drogen wertend daraus geschlussfolgert habe, dass sie lediglich drei Getränke zu sich genommen und sich sodann plötzlich in einem für sie nicht anders erklärlichen Zustand befunden habe.
Für die Leser werde somit klar, dass Shelby Lynn über einen Vorgang berichtet, der sich außerhalb ihrer Wahrnehmung abgespielt habe. Daher seien ihre Äußerungen keine Verdachtsäußerung, sondern Schlussfolgerungen aus unstreitigen Tatsachen. Solche Schlussfolgerungen seien als Meinungsäußerung zu bewerten.
Das Gericht ging sodann auf die naheliegende Frage ein, warum es im dem von Lindemann gegen den Spiegel betriebenen Verfahren anders entschieden hatte und von einer angreifbaren Verdachtsäußerung ausgegangen war. Im Spiegel sei nicht nur aufgrund von Schilderungen von Frauen allein, sondern erst durch weitere Berichterstattungselemente der Verdacht der Drogenvergabe zu Sexzwecken vermittelt worden, so das LG. Als Beispiel führt es die Bezugnahme auf das Gedicht "Wenn Du schläfst" an, wo Lindemann die Drogenvergabe an einer Frau mit anschließendem Geschlechtsverkehr im Schlaf formuliert. Dazu schrieb der Spiegel: "Aus Fantasien könnte Wirklichkeit geworden sein". Warum genau es für die Abgrenzung "bloßen Schlussfolgerung" zu "Verdachtsäußerung" dogmatisch einen Unterschied macht, ob Schilderungen von Frauen allein wiedergegeben werden oder Medien selbst auch Schlüsse ziehen, erläutert das LG nicht.
Meinungsfreiheit von Lynn überwiegt
Weiter kommt das LG in einer Abwägung zu dem Ergebnis, dass die Meinungsfreiheit von Lynn gegenüber dem Persönlichkeitsrecht von Lindemann überwiege, weswegen der Unterlassungsanspruch abzuweisen sei. So sei Lindemann lediglich in seiner beruflichen Sphäre betroffen. Für die Zulässigkeit von Lynns Aussage spreche auch ihre Absicht, in aufklärender Weise darüber zu berichten, was ihr auf einem öffentlichen Konzert einer überaus bekannten Band widerfahren sei. Zu berücksichtigen sei zudem, dass die ungewöhnlichen Ausfallerscheinungen bei moderatem Alkoholkonsum unstreitig seien und damit auch die Tatsachenbasis für die Schlussfolgerung, unter Drogen gesetzt worden zu sein. Auch mache Lynn deutlich, dass sie nicht vorgibt zu wissen, wie sie die Drogen zu sich genommen haben könnte.
Auch im Hinblick auf die Aussagen im BBC-Interview lehnte das LG einen Unterlassungsanspruch ab – unter anderem mit der Erwägung bei der Aussage "She believes her drink was spiked ...“, handele es sich nicht um eine Formulierung von Shelby Lynn, sondern des BBC-Autors.
Lynn: Beschluss stellt Hoffnung in Menschheit wieder her
In einer Pressemitteilung greifen Lindemanns Rechtsanwälte zum beliebten PR-Mittel, gerichtlichen Niederlage etwas Positives abzugewinnen: Die Entscheidungsgründe sprächen zugunsten Lindemann, da es dort heiße, dass Shelby Lynn nicht den Verdacht geäußert habe, Lindemann habe ihr Drogen in den Drink gemischt. "Dadurch wird klar, dass die gesamte Folgeberichterstattung, die genau diese Verdachtserweckung aufgegriffen hatte, haltlos ist", so Rechtsanwalt Bergmann.
Shelby Lynn verkündete gegenüber LTO Freude über ihren Sieg. "I feel fantastic, I’ve been smiling ear to ear all day. It gives me faith, and restores my hope in humanity", so Lynn. Auch ihr Anwalt Dr. Jasper Prigge begrüßte das Urteil "Der Beschluss ist ein wichtiges Signal für Frauen, die den Mut haben, sich an die Öffentlichkeit zu werden. Sie dürfen über ihre Wahrnehmungen reden und hieraus auch Schlussfolgerungen ziehen."
Lindemann hat nun die Möglichkeit sofortige Beschwerde gegen den zurückweisenden Beschluss des LG einzulegen. Hilft das Landgericht der Beschwerde nicht ab, entscheidet das Oberlandesgericht (OLG) Hamburg.
LG Hamburg stärkt mutmaßlich Betroffene: . In: Legal Tribune Online, 18.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52519 (abgerufen am: 16.10.2024 )
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