Sexueller Missbrauch durch Kleriker: Keine Pflicht der Kirche zur Zusam­men­ar­beit mit dem Staat

Prof. Dr. Manfred Baldus

15.05.2010

Die Kritik an der katholischen Kirche wegen ihrer Reaktionen auf länger zurückliegende Fälle sexuellen Missbrauchs hält an. Im zweiten Teil unserer Serie erläutert Prof. Dr. jur. Manfred Baldus das Verhältnis des Kirchenstrafrechts zum weltlichen Strafrecht. Er stellt dabei klar, dass es eine echte Anzeigepflicht der Kirche bei Missbrauchsfällen jedenfalls derzeit nicht gibt.

Das kirchliche Strafrecht kennt wie auch das weltliche die Tatbestände des sexuellen Missbrauchs und knüpft einen Katalog von fallbezogenen Strafen an deren Verwirklichung (siehe Teil 1)

Die verfahrensrechtliche Umsetzung dieses geltenden materiellen Rechts ist unübersichtlich und die Ursache der öffentlichen Kritik. Es ist zu trennen zwischen einer Art Ermittlungsverfahren in der Zuständigkeit des Ortsbischofs und dem Strafverfahren in der Zuständigkeit der römischen Glaubenskongregation.

Wenn dem Ortsbischof oder seinem Beauftragten (I, 1 u. 2 Leitl.) eine Anzeige oder der Verdacht eines Missbrauchs zur Kenntnis gelangt, ist der Verdächtigte förmlich zu hören und mit den Betroffenen Verbindung aufzunehmen (II, 3 u. 4 Leitl.). Erhärtet sich der Verdacht, wird vom Offizial, dem bischöflichen Richter, eine kanonische Voruntersuchung unter Beteiligung von Sachverständigen eingeleitet (c. 1717 CIC; III, 5 Leitl.).

Bestätigt die Voruntersuchung den Verdacht, wird die Sache zur Durchführung des Strafverfahrens an die Glaubenskongregation überwiesen (Abs. 3 SST; 4. Absatz, 3. Spiegelstrich DDG: "Die Zuständigkeit der Kongregation für die Glaubenslehre erstreckt sich auch auf die Straftat gegen das sechste Gebot des Dekalogs, die von einem Kleriker mit einem Minderjährigen im Alter von weniger als 18 Jahren begangen wurde"). Die Glaubenskongregation kann in der Sache selbst entscheiden oder dem örtlich zuständigen Offizial nähere Weisungen für die Durchführung des Strafverfahrens erteilen (VH Teil B unter 1).

Sehr schwere Fälle: Ex-officio-Dekret möglich

In "sehr schweren Fällen", bei denen ein staatliches Strafverfahren einen Kleriker für schuldig befunden hat oder die Beweislage "überwältigend" ist, kann die Glaubenskongregation entscheiden, den Fall dem Papst direkt vorzulegen, verbunden mit dem Ersuchen, er möge ein Ex-officio-Dekret zur Entlassung aus dem Klerikerstand verfügen. Gegen dieses Dekret gibt es keine Berufung (VH Teil B unter 2).

Ebenso wird verfahren, wenn beschuldigte Priester angesichts ihrer Straftaten darum bitten, von ihren priesterlichen Pflichten dispensiert und in den Laienstand zurückversetzt zu werden. Es ergeht dann ein päpstliches Dekret zum Wohl der Kirche ("pro bono Ecclesiae").

Ist der beschuldigte Priester geständig und bekundet seinen Willen, "ein Leben des Gebetes und der Buße zu führen", kann die Glaubenskongregation dem Ortsbischof  gestatten, ein Dekret zu erlassen, welches den öffentlichen Dienst eines solchen Priesters verbietet oder einschränkt. Ein dahingehender Strafbefehl des Bischofs ist aber mit der Androhung zu versehen, dass bei Verletzung dieser Bedingungen eine "Kirchenstrafe, nicht ausgeschlossen die Entlassung aus dem Klerikerstand", verhängt wird (VH Teil B unter 3).

In jeder Lage des Verfahrens können vorläufige Maßnahmen ergriffen werden, um den ungestörten Ablauf zu sichern, Betroffene vor Gefährdung zu schützen und den Beschuldigten zu überwachen, etwa durch Ausschluss vom geistlichen Dienst oder von einem kirchlichen Amt, durch Aufenthaltsgebote oder –verbote (c. 1722 CIC; VH Teil A, III, 5 Leitl.).

Zwischen Transparenz und Persönlichkeitsschutz: Verfahren grundsätzlich geheim

Während nach weltlichem Strafrecht die Öffentlichkeit spätestens mit der Anklageerhebung Kenntnis von dem Vorwurf erlangt, bleibt das kanonische Verfahren grundsätzlich bis zum Abschluss geheim (Abs. 9 DDG). Dieses Prinzip ist angesichts des sensiblen Verfahrensgegenstandes, insbesondere der Bereitschaft des Opfers zur Anzeigeerstattung und Aussage, sachgerecht.

Als "oberstes Gesetz" gilt im kirchlichen Rechtsverständnis "das Heil der Seelen" (c. 1752 CIC). Die Betroffenen, vor allem Kinder und Jugendliche, sollen durch das Verfahren keinen weiteren Schaden nehmen. Strafverfahren sind überdies - ungeachtet ihres Ausgangs - geeignet, den guten Ruf einer Person dauerhaft zu schädigen. Aus diesem Grunde soll sich die kirchliche Öffentlichkeitsarbeit "um eine Ausbalancierung zwischen notwendiger Transparenz und dem Persönlichkeitsschutz" bemühen (VII, 13 Leitl.).

Nach ihrem Selbstverständnis als societas iuridice perfecta nimmt die Kirche für sich das Recht in Anspruch, Straftaten unabhängig von der Staatsgewalt, der der Täter ebenfalls unterworfen ist, zu verfolgen. Wenn auch das weltliche Strafrecht bei Missbrauchsdelikten keine Anzeigepflicht begründet, so liegt es für die Kirche doch nahe, mit den staatlichen Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten.

Das Verhältnis des Staates zu den großen christlichen Kirchen wird inhaltlich weitgehend durch das Vertragskirchenrecht bestimmt. Dem liegt der durch die historische Erfahrung bestätigte Gedanke zugrunde, dass Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse auf die Dauer nicht einseitig durch staatliche oder kirchliche Maßnahme geregelt werden können.

Information der Staatsanwaltschaft: Nur aufgrund Kirchenrechts und nur "je nach Sachlage"

Überdies sind die Rechtsfolgen kirchengesetzlicher Missbrauchstatbestände (c. 1395 CIC) im weltlichen Rechtskreis eher dem Disziplinarrecht als dem Strafrecht vergleichbar. Dass es mit einer solchen Sanktion insgesamt sein Bewenden haben sollte, würde dem Sühnebedürfnis und den Belangen der Geschädigten, denen sich die Kirche zuvörderst verpflichtet weiß (II, 3 Leitl.), nicht gerecht.

Deshalb sehen die Leitlinien (IV, 7) vor, dass in "erwiesenen Fällen", womit ein entsprechendes Ergebnis der Voruntersuchung gemeint sein dürfte, dem Täter zur Selbstanzeige geraten und "je nach Sachlage" die Staatsanwaltschaft informiert wird. Auch die Glaubenskongregation trifft keine weiterreichenden Anordnungen, sondern bestimmt in VH Teil A, dass "die staatlichen Gesetze (Hervorhebung des Verf.) hinsichtlich der Anzeige von Straftaten bei den zuständigen Behörden …immer zu befolgen" sind.

Die Bayerische Bischofskonferenz hat am 18. März 2010 eine Verschärfung der Leitlinien insofern empfohlen, als diese Meldepflicht bei Verdacht von sexuellem Missbrauch vorbehaltlos festgeschrieben und sofort so praktiziert werden soll. Offenbar soll damit klargestellt werden, dass die Meldepflicht nicht vom Ergebnis des kirchlichen Ermittlungsverfahrens abhängig gemacht wird.

Bei der Entscheidung über den Modus der Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft ist zu beden-ken, dass die Behandlung solcher Vorfälle bei kirchlichen Stellen (etwa dem Beauftragten im Sinne von I, 1 Leitl.) den seelsorglichen Bereich, einen Schwerpunkt kirchlicher Arbeit, berührt. Um die erforderliche Vertrauensbasis (§§ 53 Abs. 1 Nr. 1, 53 a StPO) nicht zu erschüttern, dürfte es in der Regel geboten sein, die Weiterleitung einer Verdachtsanzeige an die Staatsanwaltschaft vom ausdrücklichen Einverständnis des Geschädigten abhängig zu machen.

Begrenzt wird die Zusammenarbeit mit den staatlichen Strafverfolgungsbehörden durch den Eintritt der Verjährung. Diese beträgt in der Regel zehn Jahre und beginnt nach beiden Rechtsordnungen mit Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers (§§ 78 Abs. 3 Nr. 3, 78 Abs. 1 Nr. 1 StGB, c. 1362 § 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 6 DDG, 1362 § 2 CIC).

Der Autor Prof. Dr. Manfred Baldus, Vorsitzender Richter am LG Köln a.D., ist Honorarprofessor für Kirchenrecht und Bildungsrecht am Institut für Kirchenrecht und rheinische Kirchenrechtsgeschichte der Universität zu Köln.

 

Serie Kirchenstrafrecht:

Teil 1: Gerechte Strafe nach kirchlichem Recht

Teil 3: Das Kirchenrecht als taugliche Grundlage angemessener Sanktionierung

Zitiervorschlag

Sexueller Missbrauch durch Kleriker: . In: Legal Tribune Online, 15.05.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/400 (abgerufen am: 08.12.2024 )

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