Bundestagsanhörung zur sexualisierten Gewalt gegen Kinder: "Das Gegen­teil einer durch­dachten Reform"

von Hasso Suliak

08.12.2020

Staatsanwälte, Richter, Anwälte und Hochschullehrer kritisieren in einer Bundestagsanhörung den Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder massiv. Ob die Koalition dem Rat der Fachwelt folgen wird, ist offen.

Als die rechtspolitischen Sprecher von Union und SPD am Montag nach der Anhörung im Rechtsausschuss zum "Gesetzentwurf zur "Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder" aus dem Sitzungssaal kamen, wirkte es fast so, als sei ihnen das eigene Gesetz peinlich. 

Zwei Stunden lang hatten Strafrechtlerinnen und Strafrechtler, Vertreterinnen von Deutschem Richterbund, Deutscher Juristinnenbund, Anwaltverein und eine Staatsanwältin der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main, den Parlamentariern mit teilweise deutlichen Worten mitgeteilt, was sie von den im Strafgesetzbuch (StGB) geplanten Strafverschärfungen und Neujustierungen im Bereich Kindesmissbrauch und Kinderpornografie halten. 

Der Anhörung lag ein Gesetzentwurf zugrunde, der auf einem fulminanten Sinneswandel von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) beruht. Lambrecht hatte sich nach dem Bekanntwerden eines Missbrauchsfalls in NRW zunächst gegen Strafverschärfungen ausgesprochen, um dann wenig später auf Druck der Union – und gegen deutliche Kritik aus der Fachwelt –  ein umfangreiches Gesetzespaket mit neu geregelten Straftatbeständen zur sexualisierten Gewalt gegen Kinder und Kinderpornografie vorzulegen. Dieses beschloss das Kabinett dann im Oktober. 

"Sexualisierte Gewalt" könnte eher zu milderen Strafen führen 

Was den Strafrechtsexpertinnen und -experten Sorgen macht, sind vor allem die darin enthaltenen materiellen Änderungen im StGB. Prof. Dr. Tatjana Hörnle vom Freiburger Max-Planck-Institut bezeichnete insoweit den Entwurf als "in weiten Teilen das Gegenteil einer systematischen durchdachten Reform". Er greife die Empörung über abscheuliche Verbrechen auf und schlage punktuelle Änderungen vor, ohne aber das Sexualstrafrecht insgesamt im Blick zu haben.

Kritik äußerten nahezu alle Sachverständigen an der neuen Terminologie der §§ 176 ff. StGB: So sieht der Entwurf vor, dass die Überschriften "Sexueller Missbrauch von Kindern" in "Sexualisierte Gewalt gegen Kinder" abgeändert werden sollen. Damit will die Koalition einer vermeintlichen "Bagatellisierung" entgegenwirken und jede sexuelle Handlung mit einem Kind "als sexualisierte Gewalt brandmarken", wie es in der Gesetzesbegründung heißt.

Nach Ansicht des Tübinger Hochschullehrers Dr. Jörg Eisele wird diese Wirkung aber mit der neuen Begrifflichkeit ins Gegenteil verkehrt: "Da der Begriff 'Gewalt' im Strafrecht eng verstanden wird und damit ein engeres Verständnis als mit dem bisherigen Begriff des 'Sexuellen Missbrauchs' verbunden ist, würde der vom Gesetzgeber intendierte erweiterte Schutz gerade nicht zum Ausdruck kommen. Die vielfältigen Fallgestaltungen, die §§ 176 ff. StGB-E erfassen sollen, werden so verdeckt." Ähnlich sieht es auch Hörnle: "Werden alle Formen der sexuellen Handlungen an Kindern einheitlich als 'sexualisierte Gewalt' bezeichnet, gehen die Begriffe verloren, die zur Charakterisierung brutaler körperlicher Attacken erforderlich sind". Besonders verwunderlich sei der Vorschlag, auch Fälle ohne jeden körperlichen Kontakt "Gewalt" zu nennen, wenn Täter aus der Ferne, z.B in Chats, pornographische Inhalte zeige oder verbalisiere. 

Auch die Frankfurter Staatsanwältin Dr. Julia Bussweiler kritisierte die geplante Umbenennung scharf und warnte: "Es könnte der Eindruck entstehen, dass eine sexuelle Handlung an, vor und von Kindern nur im Fall einer Gewaltanwendung oder dem Hinzukommen weiterer Nötigungskomponenten strafbar ist, obwohl der weit überwiegende Teil sexueller Übergriffe gegen Kinder gerade ohne Nötigungselemente erfolgt", so Bussweiler. Ablehnend hatte sich auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme Ende November gezeigt. Die Bezeichnung "Missbrauch von Kindern" habe sich etabliert. Das Unrecht dieser Straftaten werde damit ausreichend klar und allgemein verständlich umschrieben.

Staatsanwältin: Strafverschärfung bei Kindesmissbrauch kontraproduktiv 

Noch mehr als die sprachliche Neufassung, stießen allerdings die geplanten Verschärfungen der Strafrahmen bei Missbrauch (§ 176 StGB) und Kinderpornografie (§ 184b StGB) auf Kritik.

Beim neuen § 176 StGB, der sexuelle Handlungen an Kindern mit Körperkontakt unter Strafe stellt, wird die Mindeststrafe auf ein Jahr angehoben und der Tatbestand damit zum Verbrechen eingestuft. Ein Unding, wie die Sachverständigen immer wieder betonten, und selbst für die Ermittler alles andere als ein Gewinn: In Grenzfällen, bei denen die Erheblichkeitsschwelle nur unwesentlich überschritten werde, könne das Unrecht nicht mehr angemessen abgebildet werden, kritisierte Staatsanwältin Bussweiler. 

Ein solcher Grenzfall sei beispielsweise die Berührung eines Kindes oberhalb der Kleidung. Hier führten die beabsichtigten Strafverschärfungen dazu, dass aufgrund der Hochstufung zum Verbrechen selbst bei geständigen und therapiebereiten Tätern keine verfahrensabschließenden Entscheidungen ohne Durchführung einer unter Umständen traumatisierenden Hauptverhandlung für das Opfer mehr möglich sind. Und dies selbst bei Einführung eines minder schweren Falls, der von vielen Sachverständigen gefordert wurde. Der Staatsanwältin zufolge würde den Strafverfolgungsbehörden ein Großteil ihres Ermessenspielraums genommen, um bei einem Verfahrensabschluss sowohl auf die individuellen Bedürfnisse des Einzelfalls als auch auf die Interessen der Verfahrensbeteiligten einzugehen.

Auch die Vorsitzende der Kommission Strafrecht im Deutschen Juristinnenbund (djb), Dr. Leonie Steinl, schloss sich der Kritik an: Der Strafrahmen von derzeit sechs Monaten bis zu zehn Jahren ermögliche eine schuldangemessene Sanktionierung und biete Raum für die Verhängung erheblicher Freiheitsstrafen. Der Tübinger Strafrechtler Prof. Dr. Jörg Kinzig warnte vor unerwünschten Kollateralschäden für die Opfer, wenn diese über ihre traumatischen Erlebnisse in einer Hauptverhandlung berichten müssten. Das könne sich letztlich auch auf das Anzeigeverhalten bei solchen Fällen auswirken. 

Besitz von Kinderpornografie als Verbrechen? 

Nicht nur beim Missbrauch, auch die Anhebung der Mindeststrafen beim Umgang mit kinderpornografischem Material nach § 184b StGB stößt bei den Sachverständigen weithegend auf Ablehnung. Alle Handlungen des Tatbestandes sollen zum Verbrechen mit einer Mindeststrafe von einem Jahr (bei bandenmäßiger Begehung zwei Jahre) hochgestuft werden, darunter auch der Besitz. 

Hörnle kritisierte, dass das Strafmaß beim Besitz nicht immer dem konkreten Ausmaß des Unrechts entspreche:  Dem Gesetzentwurf liege die fehlerhafte Annahme zu Grunde, dass Personen, die solche Bilder besitzen und tauschen, immer dieselben Personen seien, die die Kinder missbrauchen oder diesen filmen. "Die Strafe für die Vergewaltigung oder den Missbrauch eines Kindes muss deutlich schwerer ausfallen als die für das Betrachten der Bilder davon am Bildschirm."

Da ein minderschwerer Fall im § 184b StGB ebenfalls nicht vorgesehen ist, kommt es nach Meinung der Sachverständigen zu diversen Wertungswidersprüchen. So verwies Prof. Kinzig darauf, dass selbst bei der sexuellen Nötigung nach § 177 Abs.5 StGB ein minder schwerer Fall vorgesehen sei (Abs.9). Die von der Union geladene Staatsanwältin Bussweiler ergänzte, dass die Anhebung des Strafrahmens das Regelungsgefüge im Hinblick auf Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und die persönliche Freiheit erschüttere. "Der Besitz kinderpornographischer Schriften würde (…) als schwerwiegender eingestuft als beispielsweise massive Gewaltanwendungen gegen andere Personen (§ 224 Abs. 1 StGB) oder Minderjährige und Wehrlose (§ 225 Abs. 1 StGB) oder Delikte des Menschenhandels (§ 232 Abs. 1 StGB) oder der Zwangsprostitution (§ 232a StGB), die lediglich mit einem Mindestmaß von sechs Monaten Freiheitsstrafe belegt sind."

Koalition berät über Korrekturen

Wie die Koalition auf die geballte Kritik der Sachverständigen reagieren wird, ist noch offen. Die Zeit drängt, denn das Gesetz soll eigentlich zum 1. Januar in Kraft treten. Noch in dieser Woche wollen sich die Rechtspolitiker zusammensetzen. 

Wie LTO erfuhr, sind CDU/CSU aber offenbar gewillt, die umstrittene Bezeichnung der neuen Tatbestände wieder rückgängig zu machen: "Bis auf eine Sachverständige waren sich alle Experten einig, dass die neue Begrifflichkeit 'sexualisierte Gewalt' irreführend ist und sogar zu einer Verharmlosung der Taten führen kann", erklärte der rechtspolitische Sprecher der Union, Dr. Jan-Marco Luczak auf Nachfrage. Bei diesen furchtbaren Taten, so Luczak, gehe es gerade nicht nur um Gewalt, sondern auch um Manipulation von Kindern oder Übergriffe ohne Körperkontakt. 

Ob der Koalitionspartner SPD diesen Wunsch mitmacht und damit dann auch der eigenen Justizministerin in den Rücken fällt, ist noch offen. Der rechtspolitische Sprecher der SPD, Johannes Fechner, fokussierte sich in seiner Reaktion auf die Anhörung auf die geplante Anhebung der Strafrahmen: "Es war schon auffällig, mit welcher Vehemenz und Geschlossenheit alle Sachverständigen inklusive der Experten der Union davor warnen, dass die vorgeschlagene Regelung die Staatsanwaltschaften mit Fällen minderen Unrechtsgehaltes überflutet. Eindrücklich wurde gewarnt, dass die Ahndung schwerer Sexualstraftaten dadurch blockiert werde."

Erleichterungen in der StPO für Ermittler?

Einig sind sich SPD und Union allerdings offenbar darin, dass sie die prozessualen Möglichkeiten der Ermittlungsbehörden im Bereich Kinderpornografie stärken wollen.  Ermittlern soll es erleichtert werden, häufiger als bislang sogenannte Keuschheitsproben in Form computertechnisch veränderter Bilder zu verwenden, um sich so Zugang zu Pädophilenchats zu verschaffen. "Ermittler müssen computergeneriertes Material auch im Rahmen von Individualkommunikation anbieten können. Nur so kann es gelingen, die Identität von Tätern festzustellen, sagt Luczak. SPD-Mann Fechner bestätigte gegenüber LTO, darüber mit der Union beraten zu wollen. 

Der Union dürfte dann auch noch einen anderen Punkt aus der Anhörung ins Gespräch bringen, der den Ermittlern bei diesen Straftaten am Herzen liegt: "Die Täter sind vor allem zur Nachtzeit aktiv. Wir müssen deswegen Durchsuchungen auch nachts ermöglichen, damit wir diese auf frischer Tat ertappen und Beweismaterial sicherstellen können," forderte Luczak. Bedeuten würde dies eine Ergänzung von § 104 Strafprozessordnung, der eine Durchsuchung zur Nachtzeit bislang nur in engen Grenzen ermöglicht. 

Zitiervorschlag

Bundestagsanhörung zur sexualisierten Gewalt gegen Kinder: . In: Legal Tribune Online, 08.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43674 (abgerufen am: 12.10.2024 )

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