Evolutionstheorie oder sexuelle Aufklärung – manche Eltern wollen ihre Kinder davon fernhalten und von der Schulpflicht befreien. Bildung soll stattdessen im selbständig organisierten Heimunterricht vermittelt werden. Die Schulverweigerer berufen sich auf ihre Grundrechte. Thomas Traub über die verfassungsrechtlichen Hintergründe des Streits um das so genannte Homeschooling.
Meistens sind es strenggläubige, religiös extrem konservative Eltern, die ihre Kinder vor Einflüssen in der Schule schützen wollen, die sie für falsch und gefährlich halten. Die staatlichen Behörden dulden diese Form der Verletzung der Schulpflicht nicht. Die Sanktionen reichen vom Bußgeld über den Entzug des Sorgerechts bis zur Freiheitsstrafe. Besonders spektakulär war neben den aktuell vom Landgericht Kassel verurteilten Schulverweigerern aus Nordhessen der Fall einer baden-württembergischen Familie, die in die USA ausgewandert ist. Sie beantragte im US-Bundesstaat Tennessee politisches Asyl – mit Erfolg.
In Deutschland berufen sich die Schulverweigerer auf ihre Grundrechte. Die Religionsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) beinhaltet nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. Dies umfasst auch das Recht zur Kindererziehung in religiöser Hinsicht.
Im bekannten Kruzifix-Beschluss hat das BVerfG entschieden, dass es Sache der Eltern ist, ihren Kindern diejenigen Überzeugungen in Glaubensfragen zu vermitteln, die sie für richtig halten. Dem entspreche das Recht, die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die den Eltern falsch oder schädlich erscheinen (Beschl. v. 16.05.1995, Az. 1 BvR 1087/91).
Daneben können sich die Eltern auch auf Art. 6 Abs. 2 GG berufen. Danach sind die Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die ihnen zuvörderst obliegende Pflicht. Die Verfassung geht davon aus, dass die Eltern regelmäßig am besten wissen, was dem Wohl ihrer Kinder dient.
Schulpflicht als intensiver Eingriff in Grundrechte der Eltern
Mit diesen Grundrechten steht die allgemeine Schulpflicht im Konflikt, die in den Schulgesetzen der Länder geregelt ist. Öffentliche Schulen haben in Deutschland eine lange Tradition. Schon Martin Luther forderte im Jahre 1524 die weltlichen Fürsten dazu auf, Schulen zu errichten. Er sah es als eine Aufgabe der Obrigkeit an, "aus wilden Tieren Menschen" zu machen.
Wenn öffentliche Schulen und die allgemeine Schulpflicht heute weitgehend als selbstverständlich angesehen werden, darf dabei nicht vergessen werden, dass es sich um einen intensiven Eingriff in das Elternrecht handelt. Die Eltern werden verpflichtet, ihre Kinder über viele Jahre in eine staatliche Einrichtung zu schicken; der Staat nimmt erheblichen Einfluss auf die Erziehung und Sozialisierung der Schüler.
Diese Beschränkung der Grundrechte der Eltern kann nur durch kollidierendes Verfassungsrecht, also ein anderes Rechtsgut mit Verfassungsrang gerechtfertigt werden.
BVerfG: Staatlicher Bildungsauftrag steht gleichberechtigt neben dem Elternrecht
Nach Art. 7 Abs. 1 GG steht das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Daraus ergibt sich ein allgemeiner staatlicher Bildungs- und Erziehungsauftrag. Das BVerfG hat mehrfach betont, dass der staatliche Erziehungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG gegenüber dem Elternrecht nicht nachgeordnet, sondern gleichgeordnet sei. Weder dem Elternrecht noch dem staatlichen Erziehungsrecht komme ein absoluter Vorrang zu (Beschl. v. 21.12.1977, Az. 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75). Der Staat ist nicht nur für die formale Organisation des Schulwesens zuständig, sondern darf auch Erziehungsziele festlegen und ist dabei unabhängig von den Eltern.
Der Konflikt zwischen Elternrecht und staatlichem Erziehungsauftrag wäre dabei schnell und eindeutig zu Lasten der Eltern zu lösen, wenn die Schulverweigerer nachweislich schlechte Prüfungsleistungen erbringen würden.
Allerdings können die Eltern, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, bei der Wissensvermittlung beachtliche Erfolge vorweisen. In vielen Fällen haben ihre Kinder im Anschluss an den häuslichen Unterricht bei staatlichen Prüfungen überdurchschnittliche Ergebnisse erzielt und gute Schulabschlüsse erworben. Konsequenterweise betonen die Anhänger des Homeschooling, dass sie sich nicht gegen den Erziehungs- und Bildungsauftrages wehren, sondern nur gegen die "Schulanwesenheitspflicht".
Ziele der Schulbildung: Wissen und soziale Kompetenzen
Allerdings erschöpft sich der Bildungsauftrag der Schulen nicht in der reinen Wissensvermittlung. Schulen sind Orte gesellschaftlicher Integration und fördern die sozialen Kompetenzen der Schüler. Dazu zählen auch gelebte Toleranz, der Umgang mit Andersgläubigen und die Erfahrung, den eigenen Glauben gegenüber einer anders denkenden Mehrheit selbstbewusst vertreten zu müssen. Diese Erziehungsziele kann der Heimunterricht nicht genauso wirksam erreichen.
Dementsprechend hält das BVerfG die allgemeine Schulpflicht für verfassungsgemäß und verneint einen Anspruch auf die Erteilung von Heimunterricht mit folgender Begründung: "Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös motivierten 'Parallelgesellschaften' entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Integration setzt dabei nicht nur voraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung religiöse Minderheiten nicht ausgrenzt, sie verlangt auch, dass diese sich selbst nicht abgrenzen und sich dem Dialog mit Andersdenkenden und –gläubigen nicht verschließen." (Beschluss v. 29.04.2003, Az. 1 BvR 436/03).
Schulpflicht kein Verstoß gegen europäische Grundrechte
Auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) musste die gut vernetzte Homeschooling-Bewegung schon eine Niederlage einstecken. Art. 2 des 1. Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention bestimmt zwar, dass der Staat bei der Ausübung seiner Aufgaben auf dem Gebiet der Erziehung das Recht der Eltern achten muss, Erziehung und Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen Überzeugungen sicherzustellen.
Die deutschen Behörden und Gerichte haben aber dieses europäische Grundrecht nach der Entscheidung des EGMR nicht dadurch verletzt, dass sie keine Befreiung von der allgemeinen Schulpflicht zugunsten eines Heimunterrichts erteilen (Entscheidung v. 11.09.2006, Az. 35504/03).
Diese Entscheidungen von BVerfG und EGMR könnten den Eindruck erwecken, im staatlichen Schulwesen würden die Grundrechte der Eltern völlig gegenüber dem staatlichen Erziehungsauftrag zurückstehen. Das trifft nicht zu. Zum einen sind staatliche Schulen grundsätzlich zur Zurückhaltung, Offenheit und Toleranz verpflichtet und müssen allgemein gegenüber den religiösen Überzeugungen der Eltern Rücksicht nehmen. Viele Konflikte lassen sich dadurch im konkreten Einzelfall lösen.
Zum anderen garantiert Art. 7 Abs. 4 GG das Recht, Privatschulen zu errichten, in denen die religiösen Bindungen der Eltern und Schüler besonders berücksichtigt werden. Aus dem Grundrecht der Privatschulfreiheit ergeben sich sogar umfangreiche Ansprüche auf finanzielle Förderung durch den Staat. Von diesem Recht haben nicht nur die großen christlichen Kirchen Gebrauch gemacht. Träger staatlich anerkannter Ersatzschulen sind auch die Piusbruderschaft oder evangelikale Gemeinden.
Familien, die sich aus religiöser Überzeugung mit diesen Möglichkeiten nicht zufrieden geben können, bleibt nur der Weg ins Ausland, um rechtliche Konflikte zu vermeiden. Dabei muss die Reise nicht in die USA führen. In vielen europäischen Staaten ist Homeschooling erlaubt – in Irland sogar verfassungsrechtlich garantiert (Art. 42 Verfassung Irlands).
Thomas Traub ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Kirchenrecht der Universität zu Köln.
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UN-Behindertenrechtskonvention: Der lange Weg zum inklusiven Schulunterricht
Thomas Traub, Schulpflicht und Elternrecht: . In: Legal Tribune Online, 01.03.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2648 (abgerufen am: 10.10.2024 )
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