Seit seiner Entstehung sorgt das Sächsische Versammlungsgesetz für Wirbel. Eine Vorschrift, die rechtsextremistische Demos verhindern soll, soll gegen Grundrechte verstoßen. Nun hat der VerfGH das Gesetz für nichtig erklärt – aber aus völlig anderen Gründen. Alfred Scheidler über eine lange Geschichte mit weiter offenem Ende.
Die Situation in Sachsen ist eine besondere, vor allem in Dresden und Leipzig haben die Kommunen mit rechtsextremistischen Aufmärschen zu kämpfen. Und auch das Sächsische Versammlungsgesetz ("Gesetz über Versammlungen und Aufzüge im Freistaat Sachsen", SächsVersG) war von Anfang an besonders. Es trat am 26. Januar 2010 in Kraft und schon seine Entstehung war nicht unproblematisch: So wurde über den von der damaligen Koalition aus CDU und SPD noch in der 4. Wahlperiode eingebrachten Gesetzentwurf aus dem Jahr 2008 kein Beschluss im Landtag gefasst. Erst in der 5. Wahlperiode, in der CDU und FDP am Ruder waren, konnte das Gesetz verabschiedet werden.
Im Unterschied zum Bayerischen Versammlungsgesetz, das in vielen Punkten vom Versammlungsgesetz des Bundes abweicht, übernahm das SächsVersG im Wesentlichen die Bundesvorschriften.
Die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht ist erst mit der Föderalismusreform zum 1. September 2006 vom Bund auf die Länder übergegangen. Neben Sachsen haben auch Bayern, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen eigene Landesversammlungsgesetze erlassen. In den Bundesländern, die von der Gesetzgebungskompetenz (noch) nicht Gebrauch gemacht haben, gilt das Versammlungsgesetz des Bundes (VersG) fort (vgl. Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG).
In Sachsen wurde nur eine einzige Vorschrift nicht übernommen. § 15 VersG, auf Bundesebene die zentrale Norm für behördliche Verbotsverfügungen und Auflagen, wurde im sächsischen Gesetz ersetzt durch eine eigenständige, der sächsischen Situation angepasste Regelung. Sie sollte vor allem dazu dienen, rechtsextremistische Aufmärschen in Dresden im zeitlichen Umfeld des 13. Februar, dem Jahrestag der Bombardierung Dresdens im Jahr 1945, zu verhindern.
Streit um Gedenktage, Grundrechte und Formalien im Gesetzgebungsverfahren
Dazu erlaubt § 15 Abs. 2 SächsVersG es der Versammlungsbehörde, eine Versammlung zu verbieten oder von Auflagen abhängig zu machen, wenn sie an einem "Ort von historisch herausragender Bedeutung" stattfindet, der an die Opfer der NS- oder der kommunistischen Gewaltherrschaft erinnert, an Widerstandskämpfer oder die Opfer eines Krieges. Hinzukommen muss die Besorgnis, dass dadurch die Würde der Opfer beeinträchtigt wird.
Als "Orte von historisch herausragender Bedeutung" in diesem Sinne nennt das Gesetz beispielhaft das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, die Frauenkirche mit dem Neumarkt in Dresden sowie am 13. und 14. Februar darüber hinaus auch die nördliche Altstadt und die südliche innere Neustadt in Dresden. Eine Anlage zum Gesetz nimmt eine genaue Abgrenzung vor.
Diese Norm ist es, an der sich ein Streit entzündete, der im August vergangenen Jahres vor dem Sächsischen Verfassungsgerichtshof (SächsVerfGH) landete: Die Opposition beklagte in einem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, dass mit dieser Norm das Recht auf freie Meinungsäußerung und die grundgesetzlich geschützte Demonstrationsfreiheit beschnitten werden könnten. Die Fraktionen der Linken, der SPD und der Grünen haben daher gemäß Art. 81 Abs. 1 Nr. 2 der Verfassung des Freistaates Sachsen (SächsVerf) eine abstrakte Normenkontrolle zum SächsVerfGH erhoben.
Neben der inhaltlichen Kritik an § 15 SächsVersG führten die Kläger auch formelle Fehler beim Zustandekommen des Sächsischen Versammlungsgesetzes an: Der den Abgeordneten vorgelegte Entwurf habe nicht den später verkündeten Gesetzestext enthalten. Damit sei für die Parlamentarier nicht transparent gewesen, worüber sie eigentlich entscheiden sollten.
Verfassungswidrig, weil intransparent
Das sah der SächsVerfGH genauso und hat das Sächsische Versammlungsgesetz aus formellen Gründen für verfassungswidrig erklärt (Urt. v. 19.04.2011, Az. Vf. 74_II-10). Auf die inhaltlichen Rügen zu § 15 SächsVersG kam es für die Entscheidung nicht mehr an, so dass die sächsischen Verfassungsrichter die Fragen nach der materiellen Verfassungsmäßigkeit der Demonstrationsverbote offen lassen konnten.
Die Gesetzesvorlage zum Sächsischen Versammlungsgesetz entsprach nach Auffassung des SächsVerfGH nicht den Anforderungen des Art. 70 Abs. 1 SächsVerf. Nach dieser Bestimmung werden Gesetzesvorlagen von der Staatsregierung, aus der Mitte des Landtages oder vom Volk durch Volksantrag eingebracht.
Daraus und aus dem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip ergäben sich, wie der SächsVerfGH feststellte, auch inhaltliche Anforderungen an Gesetzesvorlagen. So müsse der Abgeordnete vor allem den Gesetzestext zur Kenntnis nehmen können. Die Vorlage müsse im Wortlaut wiedergeben, was letztlich durch Beschluss des Parlaments formelles Gesetz werden solle.
Copy & paste statt nur verweisen: Nächster Versuch
Genau hier lag der Fehler beim Erlass des Sächsischen Versammlungsgesetzes. Richtig wäre es gewesen, den Wortlaut des Versammlungsgesetzes des Bundes, das mit Ausnahme des § 15 VersG übernommen werden sollte, in der Vorlage ausdrücklich wieder zu geben. Stattdessen beschränkte sich die Gesetzesvorlage auf eine bloße Verweisung: "Das Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) … wird mit seinem Wortlaut als Landesrecht übernommen und erhält die Überschrift 'Gesetz über Versammlungen und Aufzüge im Freistaat Sachsen (Sächsisches Versammlungsgesetz – SächsVersG)'".
Der Sächsische Landtag hat es sich also zu leicht gemacht und bekam dafür die Quittung vom SächsVerfGH präsentiert, indem das Gesetz für nichtig erklärt wurde. Das Urteil hat bundesweite Bedeutung, auch über das Versammlungsrecht hinaus. Zeigt es doch auf, wie im Rahmen der Föderalismusreform Bundes- in Landesrecht zu überführen ist - oder besser gesagt, wie es nicht gemacht werden darf.
Unmittelbare Konsequenz des Urteils ist, dass in Sachsen jetzt wieder das Versammlungsgesetz des Bundes gilt, da dieses nicht wirksam durch Landesrecht ersetzt wurde (vgl. Art. 125a Abs. 1 GG). Da der SächsVerfGH sein Urteil ausschließlich auf formelle Fehler gestützt hat, kann die schwarz-gelbe Koalition aber sofort ein neues Gesetzgebungsverfahren einleiten, und zwar inhaltlich unverändert. Ob ein frisches Gesetz, das dann die formellen Vorgaben einhält, auch einer materiellen Prüfung standhält, bleibt abzuwarten.
Der Autor Dr. Alfred Scheidler ist Oberregierungsrat in Neustadt an der Waldnaab und Autor zahlreicher Publikationen zum Versammlungsrecht.
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Alfred Scheidler, SächsVerfGH: . In: Legal Tribune Online, 19.04.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/3079 (abgerufen am: 10.11.2024 )
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