Optionen des Westens im Ukraine-Krieg: "Mili­täri­scher Bei­stand auch ohne UN-Reso­lu­tion mög­lich"

Interview von Dr. Franziska Kring und Hasso Suliak

01.03.2022

Andere Staaten dürfen der Ukraine gegen den Angriff Beistand leisten – auch ohne UN-Mandat, das erklärt Matthias Herdegen im Interview. Er warnt aber vor den Risiken einer Militärintervention.

Der Krieg in der Ukraine spitzt sich zu und Russland verschärft seine Angriffe auf das Land. Zunehmend werden auch zivile Ziele getroffen. Die Millionenstadt Charkiw ist seit Tagen massivem Beschuss ausgesetzt, der auch Wohngegenden traf. Im UN-Sicherheitsrat besitzt Russland als ständiges Mitglied ein Vetorecht. Welche Optionen haben die Staaten noch?

LTO: Welche Möglichkeiten sieht die Charta der Vereinten Nationen (UN) vor, auf die Verletzung des Gewaltverbots nach Artikel 2 Nr. 4 der UN-Charta durch Russlands Präsidenten Putin zu reagieren?  

Prof. Dr. DDr. h.c. Herdegen: Der Überfall der Russischen Föderation auf die Ukraine begründet in seltener Eindeutigkeit das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine nach Art. 51 der UN-Charta.  

Dabei können andere Staaten zunächst Unterstützung auch mit Waffenlieferungen leisten. Zugleich dürfen andere Staaten der Ukraine militärisch Beistand leisten. Die UN-Charta spricht hier vom Recht zur "kollektiven Selbstverteidigung" und meint damit die Unterstützung durch Streitkräfte.  

Also wäre eine militärische Intervention im konkreten Fall auch ohne ein Mandat des Sicherheitsrates möglich?

Ja, eine Ermächtigung durch den Sicherheitsrat braucht es hierfür nicht. Von dieser Möglichkeit haben die westlichen Staaten bisher aus politischen Gründen keinen Gebrauch gemacht, um den Konflikt nicht eskalieren zu lassen.  

Politisch möglicherweise eine nachvollziehbare Entscheidung…

Die Risiken eines militärischen Eingreifens des Westens sind schwer zu überschauen. Dies liegt auch daran, dass das aktuelle russische Regime die Bahnen gewohnter Rationalität verlässt, auf die wir uns selbst im Kalten Krieg bei den alten Männern im Kreml verlassen konnten. Dies zeigte insbesondere die unverhüllte Drohung des russischen Herrschers mit der nuklearen Option und ebenso seine Bereitschaft, den wirtschaftlichen Kollaps Russlands und damit auch die Erschütterung des eigenen Regimes zu riskieren.  

"Ich halte gezielte Schläge auf russisches Territorium für völlig fernliegend"

Sie weisen auf die Risiken einer Militärintervention hin. Sehen Sie einen anderen Weg, Putin beizukommen?  

Völkerrechtlich hängen alle bewaffneten Maßnahmen zum einen von der Reichweite des Selbstverteidigungsrechts ab. Zum anderen sind die Regeln des humanitären Völkerrechts zu beachten, die Angriffe auf militärische Ziele beschränken. Wir sollten diese Überlegungen aber nicht über die gesamte Befehlskette durchdeklinieren.  

Gezielte Schläge auf russisches Territorium halte ich für völlig fernliegend. Der Westen wird sich auch genau überlegen, inwieweit ihm mit einem implodierenden Russland und neuen Konflikten an dessen Rändern gedient ist. Wir sollten eher in eine andere Richtung denken.

Welche Richtung ist das?

Ich spreche die strafrechtliche Verantwortlichkeit der russischen Befehlshaber an. Jetzt ist es sicher sinnvoller, das russische Regime mit der individuellen Verantwortlichkeit für das Verbrechen der Aggression und die Kriegsverbrechen nach Völkerstrafrecht zu konfrontieren.  

Die Verfolgung von Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof ist anders als beim Tatbestand des Angriffskrieges nicht an einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates gebunden. Die Ukraine könnte die Ausübung der internationalen Strafgerichtsbarkeit für bestimmte Verbrechen auf ihrem Gebiet förmlich anerkennen, wie sie das schon wiederholt getan hat.  

Deutschland hat am Wochenende eine fulminante Kehrtwende in seiner Sicherheitspolitik hingelegt und wird der Ukraine nun Waffen liefern. Wird Deutschland dadurch selbst zur Konfliktpartei und muss ggf. mit Konsequenzen rechnen?

Durch bloße Waffenlieferungen oder finanzielle Unterstützung für einen angegriffenen Staat wird ein Land noch nicht zur Konfliktpartei. Die Russische Föderation darf auch nicht mit Gewalt etwa gegen Schiffe oder Flugzeuge auf Hilfslieferungen anderer Staaten reagieren. Einzelne Stimmen in der kontinentaleuropäischen Völkerrechtslehre, die von der Äquidistanz, also der gleich großen Nähe zum Aggressor-Staat und zum angegriffenen Staat getrieben sind, sehen das anders. Aber diese Sicht ist mit der Logik des Selbstverteidigungsrechts nicht vereinbar.

Wird die Ukraine bald EU-Mitglied?

Es gibt den Wunsch der Ukraine, jetzt schnellstmöglich Mitglied der EU zu werden. Würde dies seitens der EU weitere Möglichkeit der Unterstützung eröffnen?

Wäre die Ukraine jetzt schon Mitglied der EU, würde die Beistandsklausel des EU-Vertrages (Art. 42 Abs. 7) greifen. Dies bedeutet grundsätzlich, dass die anderen Mitgliedstaaten "alle in ihrer Macht stehende" Unterstützung leisten müssen.  

Für wie realistisch halten Sie einen schnellen EU-Beitritt der Ukraine?

Eine Aufnahme in die EU ist ein außerordentlich komplexer Vorgang mit stufenweiser Annäherung an die EU-Standards. Am Ende steht dann ein Beitrittsabkommen, dem alle 27 Mitgliedstaaten zustimmen müssen.  

Das alles heißt jedoch nicht, dass den EU-Mitgliedstaaten die Hände gebunden wären: Sie wären schon jetzt frei, von sich aus – mit oder ohne einen besonderen bilateralen Vertrag –Beistand zu leisten. Eine besondere vertragliche Beistandspflicht enthält beispielsweise der deutsch-französische Vertrag von Aachen aus dem Jahre 2019.

Prof. Dr. DDr. h.c. Matthias Herdegen ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Völkerrecht der Universität Bonn. 2019 veröffentlichte er das Werk "Der Kampf um die Weltordnung". Das Buch befasst sich u.a. mit dem imperialen Drang Russlands und der Ausdehnung seiner Einflusssphären.

Herr Prof. Dr. DDr. h.c. Herdegen hat die Fragen schriftlich beantwortet.

Zitiervorschlag

Optionen des Westens im Ukraine-Krieg: . In: Legal Tribune Online, 01.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47682 (abgerufen am: 06.10.2024 )

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