Hätten die Polizeibeamten den Tod des Sierra Leoners Ouri Jallow in der Gewahrsamszelle eines Polizeireviers verhindern können? Einen erstinstanzlichen Freispruch hob der Bundesgerichtshof wegen Mängeln der Beweiswürdigung auf. LTO sprach mit Prof. Dr. Matthias Jahn über richterliche Überzeugungsbildung, strafprozessuale Wahrheit und die Glaubwürdigkeit von Polizeibeamten vor Gericht.
LTO: Das Landgericht Dessau sah es als nicht erwiesen an, dass der Dienstgruppenleiter, der für den Gewahrsamsbereich des Polizeireviers Dessau verantwortlich war, in dem der betrunkene Jallow in einer Zelle fixiert worden war, mit Körperverletzungsvorsatz handelte und den Tod des Sierra Leoners hätte verhindern können. Für den Bundesgerichtshof legte das Urteil aber nicht nachvollziehbar dar, wie der tödlich endende Brand sich im Einzelnen entwickelt hatte. Das Landgericht habe auch nicht alle zeitlichen Komponenten des Geschehens berücksichtigt.
Wie kommt es zu einer so unterschiedlichen richterlichen Beurteilung von Tatsachen? Auf welcher Grundlage bildet der Richter im Strafprozess seine Überzeugung davon, was geschehen ist?
Jahn: Der Grundgedanke ist, dass das Urteil aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung gewonnen werden muss. Es besteht also eine Arbeitsteilung zwischen dem Tatgericht der ersten Instanz, hier dem Landgericht Dessau, und dem Bundesgerichtshof in der Weise, dass es ureigenste Aufgabe des Tatrichters ist, die von ihm gesammelten Beweise angemessen zu würdigen, sich also eine tragfähige Überzeugung über den Hergang des Geschehenen zu bilden. Die Revisionsgerichte haben sich aus dieser Beweiswürdigung grundsätzlich herauszuhalten.
In der Praxis geschieht das auch in den allermeisten Fällen. Die Revisionsgerichte betonen immer wieder, dass es ihre einzige Aufgabe ist, den Prozess der Beweiswürdigung selbst oder die Darstellung der Beweise und die Beweiswürdigung des Tatgerichts auf Rechtsfehler zu überprüfen. Das gilt auch für den 4. Strafsenat im Fall Jallow.
Keine To-do-Liste für die Durchführung der Beweisaufnahme
LTO: Wann ist ein Tatrichter "überzeugt"?
Jahn: Den Prozess der Überzeugungsfindung muss man sich zweigeteilt vorstellen: Es gibt einmal die subjektive Überzeugung des Tatrichters. Sie ist die Grundlage für Schuld- oder Freispruch. Der andere Teil ist die Frage, wie er diese subjektive Überzeugung nach den Regeln der juristischen Kunst den übrigen Verfahrensbeteiligten und natürlich auch dem Revisionsgericht vermittelt. Es gibt Vorgaben, welche Mindestanforderungen Urteile erfüllen müssen, um die subjektive Überzeugung zu transportieren.
LTO: Es gibt also keine Regeln für die Durchführung der Beweisaufnahme, beispielsweise eine "To-do-Liste", die der Tatrichter abzuarbeiten hat, sondern lediglich Vorgaben für die spätere Darstellung der Überzeugungsbildung im Urteil?
Jahn: Es gibt, das ist historisch gewachsen, weder für den Ablauf einer Hauptverhandlung noch für den Mindestinhalt eines Urteils eine absolut verpflichtende To-do-Liste. Das Urteil muss nur aus sich heraus verständlich, logisch und vollständig sein und darf keine Widersprüche enthalten. Nur dann, wenn Mindeststandards der Logik, also etwa die Beachtung der Denkgesetze oder allgemein anerkannten Erfahrungssätze missachtet werden, der Inhalt des Urteils also nicht mehr vermittelbar ist, muss die Revisionsrechtsprechung eingreifen.
"Die Strafprozessordnung vertraut dem Tatrichter"
LTO: Aber es gibt doch durchaus Vorgaben für die richterliche Überzeugungsbildung. So gilt doch der Grundsatz der Unmittelbarkeit, nach dem zum Beispiel der Personalbeweis, also die Vernehmung eines Zeugen, Vorrang vor dem Urkundsbeweis hat.
Jahn: Es gibt zwar einen abschließenden Katalog der Beweismittel, anhand derer sich der Tatrichter seine Überzeugung bilden muss. Dabei handelt es sich aber nicht um eine Reihung in dem Sinne, dass etwa die Aussage eines Zeugen immer verlässlicher und damit glaubhafter sein muss als das, was der Angeklagte zur Tat sagt.
Auch das ist eine Konsequenz der historisch gewachsenen Entscheidung der deutschen Strafprozessordnung gegen die Existenz von festen Beweisregeln. Im Mittelalter gab es solche Regeln noch, zum Beispiel "durch zweier Zeugen Mund wird allerwegs die Wahrheit kund."
Die Strafprozessordnung hat sich von diesen Beweisregeln ganz bewusst verabschiedet, weil sie dem Tatrichter vertraut und ihm gleichzeitig zutraut, dass er selbst kraft Ausbildung, Erfahrung und Sinn für Angemessenheit im Einzelfall die Beweise richtig zu würdigen weiß. Das ist eine Vermutung, die im Einzelfall aber auch widerlegt werden kann, wie jetzt wieder der Fall Ouri Jallow zeigt.
Die Grenzen: Verstoß gegen Denkgesetze und reine Willkür
LTO: Die subjektive Komponente ist also ein ganz erheblicher Bestandteil der richterlichen Überzeugung. Wo findet diese Überzeugung ihre Grenzen, also ab welchem Punkt schreitet das Revisionsgericht ein?
Jahn: Das kann man am besten an zwei Beispielen aus dem Alltag der Revisionsgerichte erklären. In einer ganz aktuellen Entscheidung des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 3. Januar 2011 war der Angeklagte im Ausgangsverfahren für schuldig befunden worden, ein Mobiltelefon gestohlen zu haben, das von einem Schreibtisch in einem Büroraum spurlos verschwunden war, den er gemeinsam mit seinem Bruder und einer dritten Person kurzfristig betreten hatte.
Prof. Dr. Jahn
Das Tatgericht hat seinen Schuldspruch auf folgende Beweiswürdigung gestützt: "An der Täterschaft des Angeklagten kann es keinen vernünftigen Zweifel geben."
Das Oberlandesgericht Oldenburg sagt natürlich völlig zu Recht, dass darin ein Verstoß gegen Denkgesetze liegt, denn das Mobiltelefon kann vor oder nach der Anwesenheit des Angeklagten in dem Raum abhanden gekommen oder währenddessen von einem anderen Anwesenden mitgenommen worden sein.
Im zweiten, vom OLG Nürnberg entschiedenen Fall vom 1. Dezember 2010 ging es um sexuellen Missbrauch in einer sehr schwierigen Beweissituation, nämlich "Aussage gegen Aussage". In der Beweiswürdigung des Tatgerichts heißt es wörtlich "Nach der Überzeugung des Gerichts waren die Angaben der Zeugin glaubhaft. Dieser Eindruck entstand bei der Vernehmung in der Berufungsverhandlung und kann schriftlich kaum dargelegt werden. Der Eindruck des Gerichts und dessen Überzeugung erscheinen maßgebend."
Es ist klar, dass auch ein solches Urteil aufgehoben werden muss. Das Revisionsgericht kann bei einer solch mangelhaften Darstellung überhaupt nicht rational nachvollziehen, nach welchen inhaltlichen Kriterien der Tatrichter subjektiv zu der Überzeugung gekommen ist, dass die Angaben der Belastungszeugin glaubhaft waren. Eine solche willkürliche Bewertung kann keinen Bestand haben. Ich kann das übrigens unbefangen sagen, denn ich war an der Entscheidung nicht beteiligt.
"Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs war möglich, aber nicht zwingend"
LTO: Im Fall Ouri Jallow hatte das Landgericht Dessau durchaus Beweise erhoben, verwertet und in seiner Entscheidung auch gewürdigt. Dennoch hat der Bundesgerichtshof als Revisionsgericht trotz seines beschränkten Prüfungsmaßstabs die Entscheidung des LG Dessau aufgehoben, mit der der angeklagte Dienstgruppenleiter freigesprochen wurde. Sind die Gründe dieser aufhebenden Entscheidung für Sie nachvollziehbar?
Jahn: Es ist sehr schwer, das als Außenstehender angemessen zu beurteilen. Der Bundesgerichtshof hat die Beweiswürdigung des Landgerichts jedenfalls nicht in Punkten beanstandet hat, die so klar auf der Hand liegen wie in meinen vorgenannten Beispielen. Vielmehr kam es auf die Details des Falles an, vor allem auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Schaumstoffmatratze, auf der der gefesselte Ouri Jallow sich befand, von ihm selbst durch ein Feuerzeug erhitzt werden konnte und was der Dienst habende Beamte davon mitbekommen musste.
Für mich bleibt allein auf Basis der Lektüre des Urteils des Bundesgerichtshofs das Gefühl, dass das, was das Revisionsgericht gemacht hat, möglich, aber nicht unbedingt zwingend ist.
LTO: Sie meinen die Aufhebung der landgerichtlichen Entscheidung insgesamt?
Jahn: Genau. Das stellt sich wie ein Fall dar, der möglicherweise in beide Richtungen entschieden werden konnte, also sozusagen auf Messers Schneide stand. Um das abschließend beurteilen zu können, muss man aber das Urteil des Landgerichts eingehender analysieren.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs enthält jedenfalls Stellen, die mich nicht so sehr überzeugen. Immer dann, wenn Revisionsgerichte meinen, es widerspreche "der Lebenserfahrung", dass ein Angeklagter dies oder jenes getan oder unterlassen hat, wiege ich etwas bedenklich mein Haupt. Denn die revisionsrichterliche Lebenserfahrung muss nicht unbedingt dem entsprechen, was Dritte denken.
"Keine Beweisregel, dass ein Polizeibeamter immer die Wahrheit sagt"
LTO: Der Fall Jallow ist auch deshalb zu so zweifelhafter Berühmtheit gelangt, weil der Verstorbene im polizeilichen Gewahrsam ums Leben kam, der Angeklagte also ein Polizeibeamter war. Gibt es Zeugen, die per se als glaubwürdiger oder weniger glaubwürdig gelten? Immerhin gab es einmal die "Beifahrerrechtsprechung", nach der die Aussagen unfallbeteiligter Beifahrer als per se weniger glaubwürdig galten. Gibt es auf der anderen Seite einen Grundsatz, dass zum Beispiel der Aussage eines Polizeibeamten, immerhin eines Staatsdieners, ein höherer Beweiswert zugemessen wird?
Jahn: Die Beifahrerrechtsprechung ist von den Revisionsgerichten schon für Zivilsachen letztlich mit mildem Entsetzen zurückgewiesen worden. Genauso müsste es sich mit einer strafprozessualen Beweisregel verhalten, die dahin ginge, dass ein Polizeibeamter immer die Wahrheit sagt.
Das belegen auch Zahlen aus der Praxis. In Fällen von Hauptverhandlungen gegen Polizeibeamte kann man nicht sagen, dass die Freispruchquote von vorneherein höher ist als in anderen Konstellationen, in denen bei vergleichbaren Delikten keine Beamten beteiligt sind. Eine andere Frage ist natürlich, ob nicht nur die ohnehin "ganz klaren" Fälle zur Anklage kommen.
Allerdings muss man eines sehen: Polizeibeamte treten häufig vor Gericht auf. Sie agieren also, wenn auch nicht zwingend, häufig vor Gericht professioneller als andere Zeugen. Man kann oft beobachten, dass sie sich vom Beginn einer Vernehmung an ersichtlich Mühe geben, zum Ausdruck zu bringen, dass sie an Zeugenaussagen vor Gericht gewöhnt sind.
"Wer die Angaben von Polizeizeugen nicht kritisch würdigt, ist ein schlechter Richter"
Sie sind es gewohnt, in ihrer Zeugenrolle zunächst zusammenhängend zu berichten, dann professionell auf Rückfragen zu reagieren und im Ganzen das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen.
Damit können sie sozusagen subkutan die richterliche Entscheidungsbildung beeinflussen, weil das, was der Polizeizeuge sagt, relativ eingängig in die richterliche Überzeugungsbildung und damit in das Urteil einfließen kann. Deshalb sind alle Richter verpflichtet, sich etwaiger positiver Vorverständnisse gegenüber Angaben von Polizeibeamten bewusst zu werden. Gerade vor diesem Hintergrund, also der relativen Geschmeidigkeit der Angaben von Polizeibeamten, sollten sie das, was gesagt wird, kritisch würdigen, um den beruflich bedingten "Startvorteil" des Polizeizeugen eventuell ausgleichen und am Ende ein gerechtes Urteil fällen zu können.
Wer nur das trainierte, manchmal bemüht konforme Aussageverhalten von Polizisten belohnt, ist ein schlechter Richter. Dann muss man hoffen, dass das Revisionsgericht eingreift – denn dieses kann sich, da es nicht selbst die Beweise erhebt, auch nicht von einer glatten Aussage einlullen lassen.
"Die Idee, dass man im Strafprozess die Wahrheit rekonstruiert, ist eine Fabel"
LTO: Richter sind, das liegt in der Natur der Sache, auf die nachträgliche Rekonstruktion eines tatsächlichen Geschehens angewiesen, wenn sie einen Sachverhalt aufklären wollen. Allerdings gibt die Entscheidung in Sachen Jallow ein gutes Beispiel dafür, wie eingeschränkt ihre Mittel dabei sind und vor welchen Hürden sie stehen.
Am Ende ihrer Ausführungen gaben die Bundesrichter dem nun zur Entscheidung berufenen Landgericht Magdeburg unter anderem auf, noch einmal die Aussagen einer Belastungszeugin zu überprüfen, die den angeklagten Beamten zunächst schwerer belastet hatte, in der nachfolgenden Hauptverhandlung ihre Aussagen zum Hergang des Feuers und dem Verhaltens ihres Kollegen aber relativierte. Vielleicht gab es Druck im Kollegenkreis, meint der Senat, eventuell im Laufe der Zeit auch die Tendenz, sich selbst zu entlasten.
Sie selbst sind Richter: Wie nahe kann die nachträgliche Rekonstruktion eines Geschehensablaufs der Wahrheit überhaupt kommen?
Jahn: Aus meiner richterlichen Erfahrung heraus ist die Idee, dass man im Strafprozess die Wahrheit durch angestrengtes Suchen rekonstruiert, eine Fabel. Tatsächlich stellt man Wahrheit mit allen Verfahrensbeteiligten gemeinsam nach den Regeln der Strafprozessordnung her.
Das Ziel kann es realistischerweise nur sein, dass durch die optimale Beteiligung Aller am Verfahren die unterschiedlichen Positionen so effektiv einfließen können, dass am Ende ein Ergebnis steht, das für einen objektiven Betrachter oder Leser akzeptabel ist.
Wahrheitsfindung nach vielen Jahren – zum Scheitern verurteilt
Das Wort von der "Suche" nach der Wahrheit ist aber naiv. Wir haben viele Regeln in der Strafprozessordnung, die diese Suche sogar ausdrücklich verbieten wie zum Beispiel die Beweisverwertungsverbote. Die alte Idee, der Strafprozess bilde die Realität getreulich ab, muss man also verwerfen. Vielmehr sollten wir uns bescheidener geben: Am Ende des Strafprozesses steht eine möglichst plausible Version der Wahrheit, aber nicht die einzige Wahrheit. Diese kann ein rechtsstaatliches Strafverfahren nicht erreichen.
LTO: Kann man nicht auch nur unter dieser Prämisse überhaupt den Ansatz verfolgen, wie auch jetzt im Fall Jallow den Instanzgerichten nach Ablauf eines Zeitraums von regelmäßig mehreren Jahren eine neue Tatsachenfindung aufzugeben?
Jahn: Man könnte die am Ende des Verfahrens stehende erneute Entscheidung des jetzt zur Entscheidung berufenen Landgerichts überhaupt nur mit größtmöglichem Verständnis gegenüber diesen beschränkten Aufklärungsmöglichkeiten kritisieren. Die Erinnerung der Zeugen und Sachverständigen lässt nach, die Beweismittel haben möglicherweise über die Zeit hinweg gelitten.
Wollte man das unrealistische Ziel verfolgen, nach einer Aufhebung und Zurückverweisung die Wahrheit eins zu eins zu rekonstruieren, wäre man von vorneherein zum Scheitern verurteilt.
LTO: Herr Professor Jahn, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Prof. Dr. Matthias Jahn ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Leiter der dortigen Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS) und im Nebenamt Richter am OLG Nürnberg. Er ist Mitglied der Redaktion der Fachzeitschrift "Strafverteidiger" und Autor zahlreicher strafrechtlicher Veröffentlichungen.
Matthias Jahn, Richterliche Überzeugungsbildung: . In: Legal Tribune Online, 11.01.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2311 (abgerufen am: 04.10.2024 )
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