Rezension zu "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich": Justiz mit sozialer Schie­flage?

von Dr. Christian Rath

28.01.2022

Der Journalist Ronen Steinke hat ein Buch über die "neue Klassenjustiz" geschrieben. Es überzeugt vor allem als Mängelbeschreibung. Seine Vorschläge sind aber zu sehr auf die Justizpolitik fixiert.

Ronen Steinke ist aktuell der wichtigste und produktivste rechtspolitische Journalist in Deutschland. Seit rund zehn Jahren arbeitet er als Redakteur für die Süddeutsche Zeitung (SZ). Seine Texte sind stets gut recherchiert, durchdacht und nicht zuletzt juristisch fundiert.

Steinke festigt seinen Ruf nun mit seinem neuen Buch "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich". Was ihm in seinen SZ-Artikeln regelmäßig gelingt, schafft er auch in der großen Form auf 270 Seiten (inklusive sechzig Seiten Fußnoten).

Das Buch hat acht Kapitel. Alle befassen sich mit der Strafjustiz.

Ohne (engagierte) Verteidigung

Steinke beginnt seine Betrachtungen mit den Anwält:innen. Wer Geld hat, kann sich vor Gericht vertreten lassen, und wer kein Geld hat, muss sich in der Regel selbst vertreten. Gute Anwält:innen finden fast immer etwas, was ein Gericht beeindrucken kann. Ein klarer Nachteil für diejenigen, die unverteidigt bleiben.

Wie Steinke aufklärt, ist Pflichtverteidigung für Mittellose nicht die Regel, sondern die Ausnahme. In 90 Prozent der strafrechtlichen Fälle hat der bzw. die Betroffene keinen Anspruch auf Pflichtverteidigung. Dabei sind diese Fälle nur so lange "einfach gelagert", wie kein Anwalt bzw. keine Anwältin beteiligt ist, so die These von Steinke. Dann weist eben niemand auf die kognitiven Einschränkungen der 76-jährigen Rentnerin hin, die zum wiederholten Male wegen Ladendiebstahls vor dem Amtsgericht steht. Staatsanwälte und Richterinnen sind gegenüber den Angeklagten zwar nicht feindlich eingestellt, aber sie stehen unter Zeitdruck. So werden Urteile im Viertelstundentakt gefällt, ohne genau hinzuschauen.

Dabei problematisiert Steinke auch die Arbeit der Pflichtverteidiger:innen. Diese seien schlecht bezahlt und deshalb oft wenig engagiert. Außerdem werden sie meist vom Gericht ausgewählt, was die Bereitschaft zu zeitaufwändigen Anträgen bremsen dürfte.

Hartes Leben, harte Urteile

Auch vielen Strafurteilen attestiert Steinke eine soziale Schieflage. So werden tendenziell höhere Strafen verhängt, wenn jemand in problematischen Verhältnissen lebt. Der Trinker, der Schnaps klaut, wird härter bestraft als andere Diebe. Bei Armen werde oft auch ein strafverschärfendes gewerbliches Motiv für den Diebstahl unterstellt. Wer als Hartz-IV-Empfänger:in teure Parfüms stiehlt, muss sich schnell vorhalten lassen, dass hier ein Weiterverkauf intendiert war. "Wer arm ist, gilt eher als Berufsverbrecher", schreibt Steinke.

Das Problem setzt sich bei der Entscheidung über die Bewährung fort. Je besser die Sozialprognose, um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Wer dagegen arbeitslos und geschieden ist, muss eher ins Gefängnis.

Tagessätze sind nur bedingt sozial

Die 1975 eingeführte Berechnung der Geldstrafen nach Tagessätzen hat zwar eine soziale Intention, die nach der Analyse von Steinke aber zu wenig zum Tragen kommt. So werde das Einkommen von Begüterten meist zu niedrig geschätzt. Eine Nachfrage beim Finanzamt wird durch das Steuergeheimnis verhindert. Dagegen geht die Schätzung des Einkommens bei Armen oft von ähnlichen Mittelwerten aus und die Betroffenen wehren sich dann nicht - aus Scham.

Verzerrt wird das Tagessatzsystem aber auch durch die Möglichkeit, sich die Geldstrafe von Dritten bezahlen zu lassen. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat das 1990 akzeptiert, weil man eh nicht kontrollieren könne, woher jemand das Geld nehme. Allerdings haben sozial Bessergestellte eher eine zahlungskräftige Familie oder hilfsfähige Freunde.

Das Gefängnis als Schuldturm

Obwohl heute deutlich weniger Leute im Gefängnis sitzen als vor zwanzig Jahren, nimmt die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen stetig zu. Rund zehn Prozent der Gefängnisinsassen können eine Geldstrafe nicht bezahlen. Seit Neuestem ist die Zahl der (meist kurzen) Ersatzfreiheitsstrafen sogar schon höher als die Zahl der originären Freiheitsstrafen. Steinke folgert: "Eine Geldstrafe ist nur milder für den, der das Geld hat, um sie zu bezahlen." Die meisten Ersatzfreiheitsstrafer sind aber verschuldet, zwei Drittel haben Alkohol- oder andere Drogenprobleme, 40 Prozent kommen aus der Obdachlosigkeit. Oft müssen sie sogar die Geldstrafen mehrerer Strafbefehle auf einmal absitzen, weil ihnen die Bescheide mangels ladungsfähiger Zuschrift zunächst nicht zugestellt werden konnten.

Zwar soll man Ersatzfreiheitsstrafe durch Ableistung gemeinnütziger Arbeit vermeiden können. Doch das funktioniert bei der betroffenen Klientel nur selten. Wer nichts geregelt bekommt, kann meist auch nicht bei der Caritas Rasenmähen.

Gerade für Obdachlose hat die Ersatzfreiheitsstrafe aber nicht nur Nachteile. Sie haben ein Dach über dem Kopf, bekommen regelmäßige Mahlzeiten, ihre Wunden werden versorgt, sie werden höflich angesprochen und können etwas zur Ruhe kommen. "Was ist eigentlich in einer Gesellschaft los, in der das Gefängnis zum Zufluchtsort wird?", fragt Steinke. Die Kosten von 150 Euro pro Hafttag könnten allerdings durchaus effizienter verwendet werden, so der Autor, da hier ein Großteil der Kosten in die Bewachung der Inhaftierten fließt.

Sozial selektive U-Haft

Untersuchungshaft wird zwar nur in drei Prozent aller Strafverfahren angeordnet. Wenn sie aber für nötig gehalten wird, ist in 94 Prozent der Fälle "Fluchtgefahrt" der Grund. Betroffen sind davon ganz überproportional Arme. Die Hälfte der U-Häftlinge hat keinen festen Wohnsitz, 61 Prozent sind ohne regelmäßige Arbeit, hat Steinke herausgefunden. Deshalb wird die U-Haft nicht nur in Fällen mit besonders hoher Strafdrohung verhängt, vielmehr geht es in einem Drittel der Fälle um Diebstahl und Unterschlagung und in einem weiteren Drittel um Drogendelikte.

Reiche haben Möglichkeiten, der U-Haft zu entgehen, die Arme nicht haben: Sie können eine Kaution stellen. Steuerhinterzieher Uli Hoeneß zahlte einst fünf Millionen Euro, damit er bis zum Prozess auf freiem Fuß bleiben konnte. Ex-Audi-Chef Rupert Stadler stellte drei Millionen Euro, um nach vier Monaten aus der U-Haft entlassen zu werden. Auch Geld von Dritten darf als Kaution genutzt werden. Wer keine Rücklagen hat und in einem Umfeld ohne Rücklagen lebt, ist benachteiligt.

Bei hohem Schaden billig wegkommen

Zur Wirtschaftskriminalität werden zwar nur 0,9 Prozent aller erfassten Delikte gerechnet, diese machen aber fast die Hälfte (44,9 Prozent) des durch Kriminalität verursachten Vermögensschadens aus. Wegen der oft komplexen Vorgänge sind Wirtschaftstrafsachen für die Justiz besonders belastend. Engagiert verteidigende Anwält:innen können Strafkammern auf Monate mit Zusatzarbeit beschäftigen und so einen Deal (Milde Strafe für ein Teilgeständnis), der die Justiz und den Beschuldigten entlastet, attraktiv machen.

Wird eine Managerin oder ein Manager zu einer Geldstrafe verurteilt, darf sogar das Unternehmen die Strafe bezahlen. Es darf die übernommene Geldstrafe in der Regel auch als Betriebsausgabe steuermindernd geltend machen. Außerdem gibt es spezielle Versicherungen, die Unternehmen für ihre Manager abschließen, die dann von den Anwaltskosten bis zu den Geldstrafen alles ersetzen. Gegen das Unternehmen selbst können bislang ohnehin nur Bußgelder verhängt werden. Obergrenze: fünf Millionen Euro. Höhere Summen kommen nur zustande, indem der Vorteil aus der Straftat abgeschöpft wird. Aber dass der Täter die Beute nicht behalten darf, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, so Steinke.

Bestraftes Elend

Der Autor kontrastiert die Wirtschaftskriminalität mit der sogenannten Elendskriminalität und stellt fest, dass hier sogar Handlungen bestraft werden, die eigentlich entkriminalisiert sind. So ist Bettelei seit 1973 nicht mehr strafbar, wenn aber die Bahn (also der Staat) als Bahnhofsbetreiber ein Hausverbot ausspricht, ist das Betteln im Bahnhof doch wieder ein Delikt. Ähnliches gilt für Elendsprostitution im Sperrgebiet. Die vom Gericht dann ausgesprochenen Strafen helfen natürlich nicht, sondern verschärfen noch die Lage der Deklassierten.

Frappierend sind auch Steinkes Strafmaßvergleiche: Eine Hartz-IV-Empfängerin, die den Staat in Höhe von rund 84.000 Euro geschädigt hatte, erhielt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten. Etwas günstiger kam mit drei Jahren und sechs Monaten Fußballfunktionär Uli Hoeneß weg, obwohl er 28,4 Millionen Euro Steuern hinterzogen hatte.

Offener und diskreter Drogenkonsum

Auch bei der Drogenkriminalität argumentiert Steinke mit instruktiven Zahlen. Wenn pro Jahr 6,6 Millionen Deutsche illegale Drogen konsumieren, die Polizei aber nur gegen 300.000 Personen jährlich wegen Drogendelikten ermittelt, dann sieht Steinke darin ein starkes Indiz für soziale Selektion. Die Polizei kontrolliere eben eher die offene Drogenszene, auf der Abhängige an andere Abhängige Drogen verkaufen, während der Drogenkonsum zum Beispiel bei Kunstvernissagen unbehelligt bleibe. Drogen werden zwar in allen Schichten konsumiert, so Steinke, unterschiedlich sei aber die Sichtbarkeit.

Gegen die "Sackgasse des Elends"

Das Buch schließt mit 13 justizpolitischen Vorschlägen, von denen drei hier herausgehoben seien. So will Steinke, dass bedürftige Beschuldigte künftig bei allen Delikten das Recht auf Pflichtverteidigung haben. Er verweist auf entsprechende Regelungen in Italien, Frankreich, Österreich und den Niederlanden.

Unter dem Motto "Faire Geldstrafen für Arme" fordert Steinke, dass bei Hartz-IV-Bezieher:innen der Tagessatz auf sieben oder zehn Euro gedeckelt werden sollte. Dies erhöhe die Chance, dass von der Grundsicherung in Höhe von rund 450 Euro pro Monat auch noch etwas zum Leben übrig bleibe. "Wenn man das beachten würde, dann scheiterten auch nicht mehr so viele an der Aufgabe, ihre Geldstrafe zu bezahlen."

Ersatzfreiheitsstrafen sollten künftig, so Steinke, von einer Richter:in nach einem Gespräch mit der Delinquent:in angeordnet werden. Nach schwedischem Vorbild könnte hier herausgefunden werden, ob jemand die Geldstrafe nicht zahlen will oder nicht zahlen kann, weil er oder sie in einer "Sackgasse des Elends" steckt. In letzterem Fall könnte dann nach Alternativen gesucht werden oder Gnade vor Recht ergehen.

Ungleichheit und Elend

Steinke fasst seine Kritik unter dem Schlagwort "Neue Klassenjustiz" zusammen, ohne jedoch zu erläutern, was denn die "neue" von der "alten Klassenjustiz" unterscheidet. Offensichtlich fehlt dem Buch ein "historisches" Kapitel, das die Entwicklung der Justiz beleuchtet: Seit wann versteht sich Deutschland als sozialer Rechtsstaat? Rekrutiert sich die Richterschaft heute aus anderen Schichten als vor hundert oder sechzig Jahren? War der soziale Aufbruch der 1970er-Jahre zu halbherzig oder erleben wir inzwischen einen Backlash?

Ohne es offenzulegen, enthält das Buch zwei unterschiedliche Fragestellungen. Da ist zum einen die titelgebende Ungleichheit vor dem Gesetz bzw. der Justiz. Zum anderen legt Steinke aber immer wieder auch Zustände offen, die nach sozialpolitischen Lösungen schreien. Hier geht es vor allem um den oft disfunktionalen Umgang der Justiz mit Verelendeten, Verwirrten und Entwurzelten. Natürlich kann man beides verbinden, weil es vermutlich eine Skandalisierung erleichtert. Aber viele Probleme der Armen haben wenig mit der priviligierten Behandlung der gut Situierten durch die Justiz zu tun.

Die Vorteile der Reichen

Soweit es um die soziale Ungleichheit vor Gericht geht, bleiben nur wenige Fragen offen, die hier kurz skizziert werden sollen.

Dass hohe Schäden bei Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung nicht proportional schwerer bestraft werden als die deutlich niedrigeren Schäden bei Diebstahl und Hartz-IV-Betrug, wirkt auf den ersten Blick skandalös. Hier zeigt sich aber auch ein grundsätzliches Problem mit der Proportionalität von Strafen, das es zum Beispiel auch bei Tötungsdelikten gibt. Wer drei oder tausend Menschen ermordet, wird nicht drei- oder tausendmal so hart bestraft wie der Mörder oder die Mörderin eines Menschen. Nicht alle Ungerechtigkeiten im Strafrecht sind Ausdruck sozialer Ungleichheit.

Die Verteidigung von Manager:innen behauptet gelegentlich, für ihre Mandant:innen gelte vor Gericht ein Promi-Malus. Die Öffentlichkeit sei mißgünstig und Richter:innen wollten ihre Unerschrockenheit betonen. Gut möglich, dass solche Vorwürfe reine Anwaltstaktik sind. Angesichts der Fragestellung des Buches hätte eine Recherche hierzu nahegelegen.

Dass sich Reiche eine bessere anwaltliche Vertretung leisten können, wird sich wohl kaum wirksam vermeiden lassen. Und die Verbesserung der anwaltlichen Vertretung von Armen erfordert, wie Steinke gezeigt hat, gleich mehrere Reformen, vor allem bei der Pflichtverteidigung. Umso wichtiger erscheint die Frage, wie es mit dem Ethos von Richter:innen und Staatsanwält:innen aussieht. Sind diese wirklich so blind für die schwache Position der Elendsangeklagten, wie Steinke es darstellt? Ihr Selbstverständnis ist sicher ein anderes. Macht Milde und etwas Empathie wirklich so viel mehr Arbeit, die derzeit nicht zu schaffen wäre?

Die Angst des Juristen vor der Sozialpolitik

Das deutsche Strafrecht ist ja doch ein weithin recht nachsichtiges, gerade im Bereich der Kleinkriminalität. Da wird viel eingestellt und Bewährungsstrafe an Bewährungsstrafe gereiht - auch ohne Promianwalt. Wenn die Angeklagten immer wieder kommen, muss die Justiz zwar damit umgehen, aber die Lösung liegt wohl doch eher außerhalb der Gerichtsgebäude, im Feld von Sozialarbeit und Sozialpolitik.

Hier hätte man gerne mehr von Steinke gelesen. Wie viel und welche Sozialbetreuung wäre erforderlich, um Elendskriminalität zu vermeiden? Auch die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen kann die Justiz wohl kaum allein stemmen. Die Fragen, die sich dann stellen, sind herausfordernd: Wie viel Zusammenarbeit von Justiz und Sozialarbeit wollen wir, wie viel Rundum-Betreuung und Rundum-Überwachung? Gibt es die Freiheit zum Leben auf der Straße?

Oder lässt sich vieles doch über Geld lösen? Wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen in akzeptabler Höhe der Schlüssel zur Lösung vieler Kriminalitätsphänomene?

Die Tatsache, dass die Strafjustiz mit manchen sozialen Problemen überfordert ist oder nicht angemessen mit ihnen umgehen kann, hat Steinke aufgezeigt. Die Lösung liegt offensichtlich nicht nur in der Justizpolitik. Es ist wirklich zu hoffen, dass das Buch eine breite Debatte auslöst.

"Vor dem Gesetz sind nicht alle Gleich", v. Ronen Steinke; erschienen im Piper Verlag, 20 Euro, EAN 978-3-8270-1415-3

Zitiervorschlag

Rezension zu "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich": . In: Legal Tribune Online, 28.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47355 (abgerufen am: 09.11.2024 )

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