Gerade Versicherer und Banken gingen zuletzt manch folgenschwerem Grundsatzurteil des BGH aus dem Weg. Wenn es brenzlig wurde, machten sie sich die Prozessvorschriften zunutze und schnell aus dem Staub. Nun kommt eine teilweise Revision des Revisionsrechts. Raphael Koch und Alexander Scheuch über die Neuregelung, den Rechtsfrieden und Frust am BGH.
Der Bundesgerichtshof (BGH) soll Grundsatzfragen klären, die Rechtseinheit sichern und das Recht fortbilden. In der Theorie klingt das nach einem hehren Ziel, praktisch kommt es längst nicht jedem gelegen. Die Auswirkungen einer höchstrichterlichen Entscheidung können nämlich verheerend ausfallen.
Zwar gilt auch ein Richterspruch des BGH zunächst nur für die konkret betroffenen Prozessparteien. Zugleich legt er jedoch die künftige Marschroute für vergleichbare Verfahren fest. Misslich ist das für den Unterlegenen, wenn es in dem Rechtsstreit um Klauseln ging, die er – oder schlimmstenfalls eine ganze Branche – gegenüber einer Vielzahl von Vertragspartnern zum Einsatz gebracht hat. Besonders Versicherungen und Banken, aber auch Energieanbieter treibt deshalb die Angst vor Grundsatzentscheidungen um. Solche laden schließlich die Kunden geradezu dazu ein, ihr Glück vor Gericht zu suchen.
In der Konsequenz beobachtet man deshalb auf Seiten der betroffenen Unternehmen oftmals eine Art geordneten Rückzug. Diesen treten sie an, sobald sich im Revisionsverfahren vor dem BGH herauskristallisiert, dass sie im Verfahren unterliegen werden. Die Zivilprozessordnung (ZPO) hält bislang Möglichkeiten bereit, noch während der letzten Instanz den Rechtsstreit einseitig zu beenden.
Reaktion des Gesetzgebers: Zurück in die Zukunft
Diese taktischen Schachzüge haben nicht nur bei Verbraucherschützern Missfallen hervorgerufen, sondern nun auch den Gesetzgeber auf den Plan gerufen. Erst kürzlich hatte die Bundesjustizministerin angekündigt, zügig Maßnahmen zu ergreifen, damit der BGH Grundsatzfragen, die ihn im Revisionsverfahren erreichen, auch tatsächlich entscheiden kann. Die entsprechenden Neuregelungen wurden kurzerhand durch den Rechtsausschuss des Bundestags auf das Gesetz zum elektronischen Rechtsverkehr aufgesattelt. Sie haben Ende vergangener Woche das Parlament passiert und sollen zum Jahreswechsel in Kraft treten.
Die Gesetzesänderung hatte zwei unterschiedliche Fluchtwege aus der Revision zu berücksichtigen. Einerseits kann nach bisheriger Rechtslage die Partei, welche die Revision eingelegt hat, das Rechtsmittel noch bis unmittelbar vor der Verkündung des Urteils zurücknehmen. Andererseits kann der Revisionsbeklagte den gegnerischen Anspruch anerkennen. Weil das Urteil, das auf das Anerkenntnis folgt, keine Begründung enthält, ist man auch dann vor Grundsatzausführungen des BGH sicher.
Beiden Rückzugsvarianten schiebt die Zivilprozessordnung in §§ 555, 565 künftig einen Riegel vor. Dabei geht der Gesetzgeber zurück zu den Wurzeln: Für die Verfahrensbeendigung in der Revisionsinstanz stellt das Gesetz die Rechtslage wieder her, welche vor der ZPO-Reform von 2002 galt. Wer ein Revisionsurteil verhindern möchte, ist nun auf die Mitwirkung des Prozessgegners angewiesen. Zurücknehmen kann er das Rechtsmittel nach Beginn der mündlichen Verhandlung nur noch mit Einwilligung des Gegners. Ein Anerkenntnis bleibt wirkungslos, sofern nicht die Gegenseite ausdrücklich ein Anerkenntnisurteil beantragt.
Dispositionsmaxime versus Allgemeininteresse
Dem Gesetzgeber kam die delikate Aufgabe zu, in der Neufassung zwei zentrale Gedanken des Zivilprozessrechts miteinander in Einklang zu bringen: Auf der einen Seite steht die Dispositionsmaxime, die besagt, dass die Parteien als Herren des Verfahrens über dessen Gang entscheiden. Sie dürfen deshalb Prozesse im Grundsatz frei beenden. Auf der anderen Seite ist das Revisionsverfahren zugleich höheren Zielen verpflichtet als der Einzelfallgerechtigkeit. Schon bei der ZPO-Reform im Jahr 2002 hatte sich der Gesetzgeber, was das Revisionsverfahren betraf, primär an Allgemeininteressen orientiert. Der BGH sollte vor allem für Rechtseinheit und Rechtsfortbildung Sorge tragen.
Insofern scheinen die jetzt beschlossenen Änderungen konsequent, beziehungsweise anders gewendet die 2002 eingeführten Möglichkeiten der einseitigen Verfahrensbeendigung von Beginn an wenig folgerichtig. Damals wurde vornehmlich betont, Anerkenntnis und Rücknahme verringerten den Aufwand für das Gericht. Tatsächlich spielen derartige Erleichterungen aber jedenfalls in den hier betroffenen Fällen kaum eine Rolle. Für die Richter am BGH bedeutet es eher Frustration als Arbeitsersparnis, wenn ein so gut wie fertiges Grundsatzurteil kurz vor der Verkündung wieder eingestampft werden muss und die Rechtslage ungeklärt bleibt.
Anderswo wird die Gesetzesänderung dagegen kaum Begeisterungsstürme auslösen. Gerade für den Versicherungssektor wäre sie wohl leichter zu verdauen gewesen, wenn sichergestellt wäre, dass Leiturteile des BGH jeweils erst für die Zukunft zu berücksichtigen sind. Mancher Branchenkenner sieht in der Rückwirkung der Karlsruher Entscheidungen auch auf bereits bestehende Verträge, die man wirtschaftlich schwer kalkulieren kann, das eigentliche Problem.
Ein Stück Parteiherrschaft bleibt
Doch dem Gesetzgeber kommt zweifellos bei der Ausgestaltung des Revisionsverfahrens ein Spielraum zu. Er kann also in diesem Rahmen durchaus das öffentliche Interesse betonen, das an wegweisenden Entscheidungen des BGH besteht. Die Parteien sind dem keineswegs hilflos ausgeliefert. Schließlich bestimmen nach wie vor allein sie darüber, ob ein Fall überhaupt den BGH erreicht.
Und selbst eine Verfahrensbeendigung kurz vor der Entscheidung ist weiterhin möglich, vorausgesetzt beide Parteien finden einen gemeinsamen Weg. Die betroffenen Unternehmen mögen in diesem Umstand vielleicht einen Hoffnungsschimmer erkennen. Man müsste schließlich der Gegenseite eine entsprechende Mitwirkung nur ausreichend schmackhaft machen, um ein Urteil zu verhindern. Zu viel Optimismus wäre diesbezüglich aber fehl am Platz: Jedenfalls in Prozessen, die, wie häufig, von den Verbraucherverbänden vorangetrieben oder unterstützt werden, dürften solche Avancen bei der Gegenseite auf taube Ohren stoßen.
Der Autor Prof. Dr. Raphael Koch, LL.M. (Cambridge), EMBA ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Unternehmensrecht, Europäisches Privat- und Internationales Verfahrensrecht an der Universität Augsburg.
Der Autor Alexander Scheuch ist Rechtsreferendar am Landgericht Bonn.
Bundestag erschwert Revisionsrücknahmen: . In: Legal Tribune Online, 18.06.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/8952 (abgerufen am: 05.10.2024 )
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