Restitution nationalsozialistischer Raubkunst: Wie Deut­sch­lands neues Schieds­ge­richt funk­tio­niert

von Prof. Dr. Matthias Weller, Mag. rer. publ.

07.10.2025

Es wird immer komplexer, Kunstwerke, die die Nazis ihren Opfern entzogen haben, ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben. Deutschland schafft deshalb ein neues "Schiedsgericht NS-Raubgut". Matthias Weller erläutert, wie es arbeitet.

Zum 1. Dezember 2025 startet das neue "Schiedsgericht NS-Raubgut". Es löst die bisherige "Beratende Kommission" ab.

Deutschland setzt sich damit an die Spitze derjenigen Staaten, die die Washingtoner Prinzipien zum Umgang mit nationalsozialistischer Raubkunst von 1998 wirklich ernst nehmen. Denn erstmals werden rechtlich einklagbare Ansprüche geschaffen, erstmals können Anspruchsteller das Verfahren wie vor staatlichen Gerichten einseitig beginnen. 

Dass es jetzt so weit ist, ist keine Selbstverständlichkeit und hat eine lange Geschichte.  

Nazis haben über 600.000 Kunstwerke entzogen

Deutschland hat die historische Verantwortung für den Holocaust zu übernehmen. Teil der Schoa war die systematische Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung. Nach gängigen Schätzungen hat die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft ihren Opfern über 600.000 Kunstwerke verfolgungsbedingt entzogen. Nimmt man Kulturgüter aller Art hinzu, geht diese Zahl in die Millionen.

Trotz aller Bemühungen um Rückerstattung und finanzielle Wiedergutmachung in der Nachkriegszeit (die finanziellen Leistungen der öffentlichen Hand auf diesem Gebiet beliefen sich bis Ende 2024 auf einen Gegenwert von 85 Milliarden Euro) verblieben insbesondere Kunstwerke und Kulturgüter nicht dort, wo sie eigentlich hingehören: in die Hände der ursprünglichen Eigentümer beziehungsweise ihrer Nachfahren.

Deutschland hat deswegen 1998 mit über 40 Staaten die "Washingtoner Prinzipien" unterzeichnet – völkerrechtlich unverbindliches "soft law". Danach sind "gerechte und faire Lösungen" (Prinzip Nr. 8) zu finden. Dies soll vor allem in alternativen Streitbeilegungsverfahren geschehen (Prinzip Nr. 11). 2003 wurde vor diesem Hintergrund die "Beratende Kommission NS-Raubgut" eingerichtet. Sie stand aber, wie der Name schon sagt, lediglich für unverbindlich beratende Empfehlungen zur Verfügung, und dies auch nur, wenn beide Seiten sich in einer Vereinbarung darauf verständigten und zuvor bilaterale Bemühungen um eine gütliche Einigung gescheitert waren.

Deshalb kam es in den etwas über 20 Jahren nach Einrichtung der Kommission nur zu knapp 25 Verfahren (die entsprechende Institution in Österreich, der Kunstrückgabebeirat, liegt mittlerweile bei über 400, die niederländische Restitutiecommissie bei knapp 180). Die meisten Restitutionen erfolgten in Deutschland stattdessen durch bilaterale Vergleiche im Vorfeld des Verfahrens vor der Kommission (bis jetzt knapp 10.000 Objekte aus musealen Beständen und knapp 35.000 Objekte aus Bibliotheken und Archiven). 

Die bisherigen Probleme mit der Beratenden Kommission 

Zuletzt war diese Struktur in Deutschland allerdings aus einer Vielzahl an Gründen an Grenzen geraten. Zentrale Kritikpunkte waren die folgenden:

Ein Anspruchsteller konnte nur mit Zustimmung der Gegenseite in das Mediationsverfahren gehen. Dies führte gerade in schwierigen Grenzfällen bisweilen zu Verweigerungen und in vielen Fällen zu schleppenden Verhandlungen. Es war deswegen zentrales Ziel jeglicher Reformüberlegungen, die Stellung der Nachfahren der Opfer als Anspruchsteller zu stärken (vgl. auch Washingtoner Prinzip Nr. 7).

Wenn dann ein Fall doch einmal zur Beratenden Kommission gelangte, erwies sich deren Spruchpraxis über die Jahre zum Teil als inkonsistent, in manchen Fällen auch schlicht nicht überzeugend. Dies lag allerdings nicht zuletzt daran, dass es bisher keinen klar strukturierten Regelkatalog zur Bewertung der vorgelegten Fälle gab, vielmehr lediglich eine unverbindliche "Orientierungshilfe". Hinzu traten bisweilen schwer nachvollziehbare Verletzungen von anerkannten Verfahrensgrundsätzen, etwa zur Neutralität gegenüber dem jeweiligen Parteianliegen und zum rechtlichen Gehör.

Außerdem problematisch: Die erarbeiteten Empfehlungen waren einseitig nicht durchsetzbar (wie dies bei unverbindlichen Empfehlungen eben der Fall ist). Es kam deswegen in einem Fall auch dazu, dass die Empfehlung (zunächst) nicht befolgt wurde. Die Beratende Kommission setzte sich daraufhin auch in den Medien für die Durchsetzung ihrer – eigentlich ja unverbindlichen – Empfehlung ein. Dies passte natürlich wenig zu ihrem Auftrag und zu ihrer Konzeption als bloße Beratungsstelle. Empfehlungen konnten auch keinem Überprüfungsverfahren zugeführt werden.

Schließlich war die Kommission mit nur zwei jüdischen von insgesamt zehn Mitgliedern unausgewogen besetzt.

Damit war klar: Es brauchte eine Reform.

Bund, Länder und Kommunen geben ein "stehendes Angebot" ab 

Die neue Schiedsgerichtsbarkeit löst die vorgenannten Probleme in folgender Weise: Alle öffentlich-rechtlichen Träger, also Bund, Länder und Kommunen, von kulturgutbewahrenden Einrichtungen (zum Beispiel Museen, Bibliotheken, etc.) geben ein bindendes "stehendes Angebot" (offerta ad incertas personas) auf Abschluss einer Schiedsvereinbarung ab. Dieses Angebot richtet sich an alle potenziellen Anspruchsteller, die das Angebot nur noch annehmen müssen. Dann kommt es zum Verfahren in der neuen Schiedsgerichtsbarkeit. Das Verfahren endet in einem bindenden Schiedsspruch für den konkreten Fall. Ein solcher Schiedsspruch ist kraft Gesetzes einem staatlichen Gerichtsurteil gleichgestellt, § 1055 Zivilprozessordnung (ZPO). 

Diese Konstruktion vermeidet die Komplexitäten und Unwägbarkeiten eines "Restitutionsgesetzes", mit dem der Bund ansonsten in den Vermögensbestand von Ländern und Kommunen hätte eingreifen müssen. Stattdessen entscheiden sich nun alle Vermögensträger selbst, in ihr Vermögen einzugreifen. Hierzu haben sich Bund und Länder in einem Verwaltungsabkommen bereits verpflichtet. Die kommunalen Spitzenverbände sind Vertragspartei des Verwaltungsabkommens und haben sich ihrerseits verpflichtet, ihre Mitglieder zur Abgabe entsprechender stehender Angebote anzuhalten. 

Die Erklärungen der Kommunen werden seit März dieses Jahres vollzogen. Dieser Prozess wird vermutlich über den 1. Dezember 2025 hinaus andauern. Dies steht dem Beginn der Tätigkeit des Schiedsgerichts aber nicht entgegen. Sofern ein Anspruchsteller einen Anspruch gegen eine Kommune erhebt, die sich noch nicht entsprechend erklärt hat, wird die neu beim Deutschen Zentrum Kulturgutverluste einzurichtende Schiedsstelle (die Geschäftsstelle der neuen Schiedsgerichtsbarkeit) bei der betreffenden Kommune anregen, dem neuen Modell ebenfalls beizutreten. Sollten einzelne Kommunen kein Angebot abgeben, wäre dies bedauerlich, brächte aber nicht das Modell als solches zu Fall.  

Bei Annahme des "stehenden Angebots": Schiedsverfahren nach ZPO 

Sobald sich ein Anspruchsteller für den Abschluss der Schiedsvereinbarung entschlossen und dafür seine Erklärung abgegeben hat, ist erst einmal der Weg zu staatlichen Gerichten verschlossen, in der Regel auch im Ausland. Im Anschluss an das unverbindliche Empfehlungsverfahren nachlaufende, jahrelange Prozesse vor US-amerikanischen Gerichten auf und ab durch alle Instanzen auf Erfolgshonorarbasis wie im "Welfenschatzfall" wird es nicht mehr geben.

Dabei hat der Anspruchsteller vor Abschluss der Schiedsvereinbarung immer die Wahl: Er kann nach wie vor vor die (ausländischen) ordentlichen Gerichte ziehen, anstatt ins neue Schiedsverfahren zu gehen. Der besondere Charme der schiedsrechtlichen Rahmung des neuen Verfahrens liegt im Übrigen darin, dass die §§ 1025 ff. ZPO im Grunde alle oben dargelegten Kritikpunkte adressieren: Schwerwiegende Verletzungen verfahrensrechtlicher Grundsätze können zum Beispiel im Aufhebungsverfahren gerügt werden, § 1059 ZPO. Damit gibt es künftig eine – eingeschränkte – Überprüfungsmöglichkeit. Über dem Spruchkörper schwebt dann nicht mehr nur der blaue Himmel, was keinem Spruchkörper guttut. Die Unparteilichkeit und auch ggf. das Verfahren zur Ablehnung eines Schiedsrichters sind ausdrücklich geregelt, § 1036 f. ZPO.

Das Schiedsverfahrensrecht erlaubt auch, speziell auf den Streitgegenstand zugeschnittene Verfahrensordnungen und ebenso speziell zugeschnittene Bewertungsregeln zu vereinbaren. Genau dies haben Bund, Länder und Kommunen zusammen mit der Jewish Claims Conference und dem Zentralrat der Juden in Deutschland als Vertreter der jüdischen Seite getan. Die gemeinsam verhandelte "Schiedsgerichtsordnung der Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubgut" und der "Bewertungsrahmen für die Prüfung und Entscheidung zum Umgang mit NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut" sind Inhalte des stehenden Angebots.

Wie das neue Gericht besetzt ist 

Nach der Schiedsordnung wird ein jedes Schiedsgericht aus einem geschlossenen Pool von Schiedsrichtern zusammengesetzt und aus fünf Personen bestehen. Jede Partei wählt zwei Personen, eine juristisch und eine historisch bzw. in der Provenienzforschung qualifizierte, und diese vier haben sich dann auf einen gemeinsamen Vorsitzenden aus dem Pool zu verständigen. Entschieden wird mit einfacher Mehrheit. Auch die Besetzung des Pools ist paritätisch mit der jüdischen Seite verhandelt worden.

Nie zuvor gab es in diesem Feld und nirgendwo sonst gibt es eine stärkere, nämlich tatsächlich paritätische Beteiligung der jüdischen Seite, sowohl bei der Errichtung des Streitbeilegungsmechanismus insgesamt als auch auf jeder Schiedsrichterbank. Dies entspricht nicht zuletzt den 2024 vorgelegten, unter der Führung der USA international beschlossenen "Best Practices", Buchstabe I ("balanced, expert, and representative membership"). Im Rahmen eines Restitutionsgesetzes des Bundes, einzupassen in die geltenden Gerichtsverfassungsstrukturen, wäre Entsprechendes kaum erreichbar gewesen. 

Spezielles Regelwerk zur Aufarbeitung historischen Unrechts: der neue "Bewertungsrahmen"

§ 1051 ZPO erlaubt, dass die Parteien als anwendbares Recht nichtstaatliche Regelwerke wählen. Genau ein solches, auf Raubkunstfälle zugeschnittenes Regelwerk gibt es nun: den sogenannten Bewertungsrahmen.

Ihn hier zu kommentieren, würde den Rahmen sprengen. Nur so viel: Im Gegensatz zu den allgemeinen Beweisregeln des Zivilverfahrens schafft er ein eigenes, grundsätzlich gegenstandsadäquates Beweisrecht. Er operiert mit einer Reihe von Vermutungen zugunsten des Anspruchstellers, ohne dessen Position gegenüber der bisherigen Praxis zu verschlechtern.

Im Übrigen hindert alle Beteiligten nichts daran, weiter auf ein umfassendes Restitutionsgesetz hinzuarbeiten. Genau dies empfiehlt schon die der Reform zugrunde liegende Studie. Dies gilt insbesondere in Bezug auf Kunstwerke in privater Hand: Auf sie ist der Bewertungsrahmen ersichtlich nicht in allen Teilen zugeschnitten. Er kommt vielmehr erkennbar aus der staatlichen Museumspraxis.

Interessenvertreter privater Eigentümer waren an der Ausarbeitung der Reform, soweit ersichtlich, auch nicht beteiligt. Insoweit bedarf es in der Tat eines Restitutionsgesetzes. Ein solches hat die aktuelle Bundesregierung auch angekündigt (vgl. Koalitionsvertrag, Zeile 3.864).

Das neue Schiedsgericht muss sich jetzt beweisen 

Jetzt kommt es darauf an, dass sich die neue Institution Anerkennung und Akzeptanz erarbeitet. Im konkreten Verfahren sind die Schiedsrichter, auch und gerade die parteibenannten, gehalten, sich neutral gegenüber dem Streitgegenstand zu halten. Schiedsrichter dürfen gerade nicht als Parteivertreter agieren. Hierüber werden die Schiedsrichter der jeweils anderen Seite und insbesondere der Vorsitzende zu wachen haben.  

Man sollte als Schiedsrichter auch den Schein einer Parteilichkeit außerhalb konkreter Verfahren vermeiden, etwa durch Auftritte im Tandem mit Anwälten, die typischerweise Interessen einer Parteiseite vertreten. Die Schiedssprüche sind nach der Schiedsordnung öffentlich zu stellen. Auch dies war bereits ein Petitum der zugrunde liegenden Studie.

Inhaltlich kommt es darauf an, dass die Entscheidungen einer überzeugenden "Grammatik der Gründe" folgen. Hierzu liegen mittlerweile umfassende rechtsvergleichende Grundlagenarbeiten vor. Die Wissenschaft wird all dies weiter begleiten. Mit anderen Worten: Es geht jetzt darum, eine der hohen historischen Verantwortung von uns allen noch besser gerecht werdende "Restitutionskultur" in gegenseitiger Anerkennung zu etablieren.

Universität Bonn

Der Autor Prof. Dr. Matthias Weller ist Inhaber der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Professur für Bürgerliches Recht, Kunst- und Kulturgutschutzrecht und Direktor des Instituts für deutsches und internationales Zivilverfahrensrechts an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. 

Transparenzhinweis: Er war der wissenschaftliche Leiter der internationalen Studie "Reform der Beratenden Kommission". An der Ausarbeitung der umsetzenden konkreten Grundlagentexte (Verwaltungsabkommen, Schiedsordnung, Bewertungsrahmen) war er nicht beteiligt.

Zitiervorschlag

Restitution nationalsozialistischer Raubkunst: . In: Legal Tribune Online, 07.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58319 (abgerufen am: 14.11.2025 )

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