Ein smartes System der Unternehmenssanktionierung mit klaren normativen Erwartungen und einem starken Verfahrensrecht würde der deutschen Wirtschaft nutzen. Kriminalstrafrecht braucht’s dabei nicht, meint Charlotte Schmitt-Leonardy.
Es scheint unsensibel – geradezu unangemessen – in Anbetracht der aktuellen Stimmung in der Wirtschaft über Unternehmensstrafrecht zu sprechen. Die noch vor einigen Wochen hinter den Kulissen zu vernehmenden Reformappelle scheinen zu verstummen. Dabei hatte sich die Ampel im Koalitionsvertrag explizit vorgenommen, "die Vorschriften der Unternehmenssanktionen einschließlich der Sanktionshöhe [zu überarbeiten], um die Rechtssicherheit von Unternehmen im Hinblick auf Compliance-Pflichten zu verbessern und für interne Untersuchungen einen präzisen Rechtsrahmen zu schaffen". Passiert ist bislang nichts. Wenig überraschend.
Die Diskussion um die Einführung eines Unternehmensstrafrechts in Deutschland ist seit nahezu sieben Jahrzehnten fast durchgehend auf der Tagesordnung von Wissenschaft, Praxis und Politik. Sie war immer von Ambivalenzen und Abwarten geprägt.
Nach dem Scheitern des Verbandssanktionengesetz (VerSanG) auf der Zielgeraden der 19. Legislaturperiode scheint die Geschichte um die Einführung der Unternehmensstrafe in Deutschland – einmal mehr – auf der leeren Buchseite zwischen zwei Kapiteln angelangt. Die Ideen warten im kriminalpolitischen Limbus auf einen weiteren rechtspolitischen Anlass.
Plausibles Szenario der mittelfristigen Zukunft
Doch Zuwarten ist nicht die Lösung. Hohe – umsatzbezogene – Sanktionen gegen Unternehmen sind ein plausibles Szenario der mittelfristigen Zukunft. Sie stehen bereits im Lieferkettengesetz, sind auf europäischer Ebene etabliert und bleiben in anderen normativen Akten angekündigt. Und sie dürften sich auch im deutschen Diskurs durchsetzen, weil diese Sanktionsdrohung aufgrund ihres – wenn auch unterkomplexen – Bezuges zur ökonomischen Macht von Unternehmen fair erscheint.
Angekündigt als reine Obergrenze wirkt sie a priori verhältnismäßig, weil im Rahmen eines großzügig bemessenen Ermessensspielraums bei Sanktionsbemessung und Einstellungsmöglichkeiten auf die Besonderheiten des Einzelfalls Rücksicht genommen werden soll. Mit anderen Worten: diese "Unternehmenssteuerungsstrategie" könnte politisch funktionieren. Wenn jetzt nicht aufgepasst wird, könnte dies aber zu bedeutsamen System-Brüchen und gravierenden Ungleichbehandlungen führen.
OWi-Lösung wäre Signal der Verharmlosung
Aus kriminalpolitischer Sicht erscheint es sinnvoll und notwendig, Unternehmen stärker in gesellschaftliche Prozesse der Verantwortungszurechnung einzubeziehen. Diese Aufgabe ist komplex und muss das Kriminalstrafrecht überfordern. Der rechtspolitische Weg des (wahrscheinlich) geringsten Widerstands, nämlich eine OWiG 2.0-Lösung, wäre aber ebenfalls nicht zielführend. Die Gründe dafür sind zahlreich – hier sind zwei grundlegende:
Die Einordung von im Einzelfall qualitativ intensiver Unternehmenskriminalität in das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) sendet ein Signal der Verharmlosung. Das Ordnungswidrigkeitenrecht ist ein Rechtsbereich, der Gesetzesübertritte wie Verkehrsverstöße sanktioniert – Regelverstöße, die in ihrer statistischen Akkumulation die Gesellschaft gefährden würden, aber im Einzelnen kaum je einen gravierenden Unrechtsgehalt aufweisen.
Unternehmenskriminalität ist anders. Die ungebrochene Tendenz, sie mit einem grundsätzlich nur geringen (moralischen) Unwertgehalt zu assoziieren, muss dringend hinterfragt werden. Denn wir wissen natürlich schon lange, dass einstürzende Textilfabriken in Pakistan die Bezeichnung "Unfall" oder "Panne" zu Unrecht tragen – und wir haben spätestens mit dem derzeit vor Frankreichs Kassationsgerichtshof verhandelten "Fall Lafarge", den engen Zusammenhang von Profitmaximierung des Konzerns mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit reflektiert.
In Fällen gravierender Rechtsgutsverletzungen ist es angebracht von Unrecht zu sprechen und dieses angemessen zu adressieren. Das würde nicht bedeuten, dass die Mehrheit der wirtschaftsstrafrechtlichen Sachverhalte schwerstes Unrecht darstellt. Ebenso wenig bedeutet die Existenz des Mordparagrafen, dass die Polizeiliche Kriminalstatistik in der Mehrheit qualifizierte Tötungsdelikte ausweist. Unternehmenskriminalität ist – ebenso wie andere Delinquenz-Bereiche – auf einem Spektrum zu skalieren und das OWiG ist hierfür am unteren Ende bestens geeignet – nicht jedoch als exklusive Tatreferenz.
Grunddilemma: Wer ist wann schuld und warum?
Der zweite Grund, der gegen eine OWi-Lösung spricht, ist die Zurechnungsstruktur des § 30 OWiG, der Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen ermöglicht. Wenn wir bei seinem Kerngedanken bleiben, wonach dem Unternehmen Leitungsversagen als eigenes zugerechnet wird, stellt sich – egal in welcher Reformvariation – das Grunddilemma des "Schuldtransfers". Das heißt: Wenn das Versagen der Leitungsebene als Versagen des Unternehmens gelten soll, lautet die für das Strafrecht außerordentlich relevante Frage "Wer ist wann schuld und warum?".
Das Zivilrecht muss sich diese Frage nicht stellen – da kann es aus guten Gründen um die Ausdehnung von Haftungsmasse über die Multiplikation von Verantwortung gehen. Aber nicht im Strafrecht, dessen grundlegendes Prinzip es ist, dass Zurechnung und Verurteilung auf dieselbe Person bezogen sein müssen, also genau die Person sanktioniert wird, die genuin Verantwortung für die Tat trägt. Diese Präzision ist auf Basis des § 30 OWiG oder eines ähnlichen Modells nicht zu leisten.
Die Praxis wird es (nicht) lösen?
Bislang war daher allen Reformentwürfen auf dieser Zurechnungsbasis gemeinsam, die normative Erwartungshaltung nicht ganz transparent zu machen und diese Fragen der Rechtsanwendung zu überlassen. Genuine Unternehmensanteile wie Compliance-Management-Systeme (CMS) und Kooperation im Rahmen von internen Untersuchungen sollten also erst im Rahmen der Strafzumessung eine (nicht näher definierte) Rolle spielen.
Die Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden beispielsweise sollte im damaligen Entwurf des VerSanG nur dann zu einer Milderung führen, wenn sie "unverzüglich, ununterbrochen und uneingeschränkt" erfolgt – die Interpretation dieser Alliteration schien den Strafverfolgungsbehörden überlassen. Und die diffizilen Fragen zur Qualität von Compliance-Maßnahmen sollten einem Richter überlassen werden, der sie mit den anderen Strafzumessungsparametern wie "Bedeutung und Schwere der Tat", "Beweggründe des Anlasstäters", "Folgen der Sanktion für die wirtschaftliche Existenz" usw. im Rahmen eines großen – intransparenten – Strafzumessungsaktes bewerten würde.
Forciert werden soll dieser Ansatz mit der aus dem Kartellrecht bekannten Strategie "Zuckerbrot und Peitsche". Die "Peitsche" sind die umsatzbezogenen Geldsanktionen zusätzlich zur Bekanntmachung der Verurteilung und der Abschöpfung des durch die Tat erlangten Vorteils. Zum "Zuckerbrot" gehören die Einstellungsformate gegen Kooperation und Auflagen. Im VerSanG wurde dies als "gestuftes Anreizsystem" bezeichnet – in der Praxis ist das Modell längst bekannt.
Je höher die Investition in Compliance, desto milder die Sanktion?
Auf eine Steuerungsstrategie vager normativer Erwartungshaltungen und großer Ermessensspielräume bei der Strafzumessung zu setzen hätte jedoch einen Preis. Und das Preisschild dürfte sich je nach Unternehmensgröße und Marktmacht stark unterscheiden: Wenn beispielsweise nicht klar ist, welche Compliance-Bemühungen später in der Strafzumessung Berücksichtigung finden, könnte dies einen Trend begünstigen, der zuweilen die Züge von Alltagstheorie trägt: "gut ist, was teuer ist." Das jedoch befördert Ungleichheiten zwischen den Unternehmen unterschiedlicher Größe – die Devise "let’s throw some money at the problem" können sich nämlich nicht alle leisten.
Zudem führt eine solche Tendenz zu einem weiteren Phänomen, das im US-amerikanischen Diskurs kritisch thematisiert wird: Das "Compliance Conundrum". Gemeint ist, dass zu große und teilweise enorme Investitionen in präventive Compliance getätigt werden in der Hoffnung, dass sich dies irgendwann sanktionsmildernd auswirkt. Beispielsweise J.P. Morgan bezahlte 2016 dreimal mehr Compliance- und Riskmanagment-Angestellte als es FBI special agents in den gesamten USA gibt. Im Jahr 2023 wurde die weltweite Marktgröße für Compliance auf 54.61 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das hat sicher wenig mit ökonomischer Rationalität zu tun.
Große Unternehmen profitieren
Schließlich liegt nahe, dass es durch ein "gestuftes Anreizsystem" wie es bislang gedacht war, zu "Machtspielen" kommen könnte. Insbesondere die großen Unternehmen dürften es sein, die ein solches Spiel – im doppelten Sinne – beherrschen, denn auf ihrer Seite allein sind oft Argumente wie ihre Bedeutung für die Wirtschaft, zahlreiche Arbeitsplätze oder andere gesamtgesellschaftliche Belange.
Wählt der Gesetzgeber einen Entwurf, für das im Kern das US-amerikanische pre-trial settlement-Verfahren (Verständigungen zur Vermeidung der Hauptverhandlung) Pate steht, braucht man nur in die US-Vergangenheit zu schauen, um die deutsche Zukunft zu erahnen: Die kleinsten Unternehmen sind oftmals nicht interessant genug, um in die settlement-Verfahren zu kommen und auch in den Verfahren, in denen es zu Verständigungen kommt, werden die kleineren Unternehmen oftmals nur den Umstand in die Waagschale legen können, dass sie sich vollkommen auf die Kooperationsbedingungen der Staatsanwaltschaften eingelassen und im Rahmen der internen Untersuchungen gänzlich geöffnet haben.
Für große und aufgrund ihrer Größe systemrelevante Unternehmen laufen die Verhandlungen mit den Strafverfolgungsbehörden durchaus anders – und nicht nur (aber auch), weil das Verteidigungsteam profilierter ist und über mehr Ressourcen verfügt.
Wie ein Unternehmenssanktionsrecht 2.0 aussehen könnte
Dem Selbstverständnis unseres Wirtschaftens sollte die Bereitschaft immanent sein, Unrecht, sofern es vorkommt, klar zu adressieren. Nicht zuletzt in Anbetracht der mit Unternehmenssanktionen verbundenen Kollateralschäden für Arbeitnehmer und Anteilseigner spricht dabei einiges gegen die klassisch punitive Herangehensweise.
Das nächste Kapitel der Unternehmenssanktionierung in Deutschland sollte eine moderne, neue Spur jenseits von Strafgesetzbuch und OWiG sein. Ein solches Konzept müsste die Fairness des Verfahrens in den Mittelpunkt stellen. Konkrete Vorschläge hierzu liegen bereits vor.
Es muss eine klare normative Erwartungshaltung des Gesetzgebers (inklusive sektorbezogener – über den Mechanismus des Public-Private-Partnerships generierter – Compliance-Standards) mit der Möglichkeit einer echten Unternehmensverteidigung und damit der Wahl zwischen Kooperation und streitiger Verteidigung geben. Außerdem braucht es ein gebundenes Verfolgungsermessen von Staatsanwälten mit klar vorgegebenen Leitlinien der Ermessensausübung in einem Verfahren eigener Art, das durch spezialisierte Kammern parallel zu dem Strafverfahren gegenüber den Repräsentanten des Unternehmens geführt wird.
Autorin Prof. Dr. Charlotte Schmitt-Leonardy ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Interdisziplinäre Rechtsforschung. Sie forscht u.a. zu neuen Konzepten der Unternehmensverantwortung für Unternehmenskriminalität.
Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen, der in der Zeitschrift "StV – Strafverteidiger", Heft 11, 2024, erschienen ist. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.
Im Koalitionsvertrag noch angekündigt: . In: Legal Tribune Online, 07.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55809 (abgerufen am: 07.12.2024 )
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