Sowohl SPD als auch CDU überlegen, wie die Zahl der Bundestagsabgeordneten begrenzt werden kann. Doch es bleibt kaum noch Zeit, wenn die Änderungen für die nächste Bundestagswahl greifen sollen. Die Hintergründe erklärt Sebastian Roßner.
Gegenwärtig besitzt der Bundestag mit 709 Abgeordneten Rekordgröße. Nach den aktuellen Umfragen ist es aber durchaus möglich, dass der nächste Bundestag diese Marke noch einmal deutlich nach oben verschiebt: Von etwa 780 bis 850 zukünftigen Volksvertretern ist die Rede. Bereits jetzt liegt Deutschland im internationalen Wettbewerb um das größte Parlament weltweit auf Platz zwei, lediglich geschlagen vom chinesischen Volkskongress, der mit knapp 3.000 Mitgliedern allerdings deutlich in Führung liegt.
Gegen die große Zahl der deutschen Volksvertreter werden meist zwei Argumente ins Feld geführt. Erstens die Kosten: Der Bundestag liegt dem Steuerzahler insgesamt mit etwa einer Milliarde Euro pro Jahr auf der Tasche. Zweitens wird angeführt, die Funktionsfähigkeit des Bundestages leide unter der steigenden Zahl seiner Mitglieder. Beides ist nicht ganz falsch. Eine Milliarde Euro ist eine stolze Summe, die sich allerdings in einem Bundeshaushalt von über 350 Milliarden Euro nicht mehr so imponierend ausnimmt. Schwerer wiegt das Funktionsargument; ab einer gewissen Zahl an Abgeordneten wird das Parlament durch zu hohen Aufwand für interne Koordination gehemmt. Wann Gefahren durch zu viele Abgeordnete entstehen, lässt sich allerdings kaum genau bestimmen.
Reform nach Druck aus Karlsruhe
Es gibt jedoch ein weiteres Argument gegen mehr Volksvertreter. Man braucht sie nicht, wie die Erfahrungen mit kleineren Bundestagen und der Vergleich mit den Parlamenten anderer Demokratien zeigen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine weitere Steigerung der Abgeordnetenzahl als verschwenderische Aufblähung, die letztlich delegitimierend wirkt.
Aber wie kommt es zu der Steigerung der Abgeordnetenzahl? Dafür sorgen rechtliche und politische Faktoren. Seit Mai 2013 gilt das Bundeswahlgesetz (BWahlG) in seiner jetzigen Fassung. Damit vollzog das Wahlrecht - auf Druck des BVerfG (Urt. v. 25.07.2012) - eine wichtige Entwicklung. Denn nunmehr wird jedes Bundestagsmandat von etwa der gleichen Anzahl an Zweitstimmen gedeckt. Mit anderen Worten: Die Sitzverteilung im Bundestag ist seit der letzten Gesetzesänderung in etwa proportional zur Verteilung der Zweitstimmen, sofern man von den verzerrenden Effekten der 5-Prozent-Sperrklausel absieht. Dies ist ein großer Schritt, um den Grundsatz der Gleichheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz (GG) besser zu verwirklichen.
Weniger Wahlbeteiligung, weniger Zweitstimmen
Der Fortschritt hat jedoch seinen Preis: Die Proportionalität zwischen Mandatsverteilung und Zweitstimmenanteil wird gesichert durch eine Regelung über Ausgleichsmandate, die, stark vereinfacht gesagt, dann zur Anwendung kommt, falls die Wahlbeteiligung in den Bundesländern unterschiedlich groß ist oder falls eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate in den Wahlkreisen gewinnt, als ihr nach dem Proporz der Zweitstimmen in dem Land zustehen.
Im Einzelnen funktioniert dies folgendermaßen: Gewählt wird nach Landeslisten, die von den Parteien aufgestellt werden. Jedem Bundesland wird dabei ein Sitzkontingent zugeteilt, das seinem Anteil an der deutschen Gesamtbevölkerung abzüglich der Ausländer entspricht (§ 6 Abs. 2 S. 1 Bundeswahlgesetz, BWahlG). Innerhalb der Länder werden dann die Mandate auf die Landeslisten verteilt (§ 6 Abs. 2 S. 2 - 7 BWahlG), indem zunächst die Zahl der landesweit abgegebenen Zweitstimmen durch die Zahl der dem Land zustehenden Sitze dividiert wird.
Durch den so entstandenen Divisor werden dann die auf die einzelnen Landeslisten entfallenden Zweitstimmen geteilt, um die Zahl der jeweils von den Listen gewonnenen Sitze zu ermitteln. Eine geringere Wahlbeteiligung in einem Land bedeutet daher auch eine geringere Anzahl an Zweitstimmen, die im ersten Berechnungsschritt für den Gewinn eines Mandats nötig ist.
…mehr Überhang- und Ausgleichsmandate
Wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Proporz der Zweitstimmen in dem Land an Sitzen zusteht, führt dies zu Überhangmandaten, die der Partei erhalten bleiben (§ 6 Abs. 4 S. 2 BWahlG). Diese vorläufigen Landesergebnisse werden dann addiert, woraus sich eine vorläufige Zusammensetzung des Bundestages ergibt, die aber nur als Basis für die weitere Berechnung dient.
Anschließend wird der zweite Rechenschritt durchgeführt (§ 6 Abs. 5, Abs. 6 S. 1 BWahlG), der die Überhangmandate, aber auch die unterschiedliche Wahlbeteiligung in den Ländern ausgleichen soll. Dazu wird, vereinfacht gesagt, zunächst die Gesamtzahl der bundesweit abgegebenen Zweitstimmen durch die gesetzliche Sitzzahl des Bundestages dividiert. Für jede Partei werden dann die von ihr bundesweit gewonnenen Zweitstimmen durch diesen Divisor geteilt, woraus sich ein Zwischenergebnis für die von der Partei gewonnenen Mandate ergibt.
Dieses Zwischenergebnis wird aber bei einigen Parteien unterhalb der Mandatszahl liegen, die im ersten Berechnungsschritt ermittelt wurde, und zwar wegen der Überhangmandate wie auch wegen der niedrigeren Wahlbeteiligung in einigen Ländern. Deshalb wird die Sitzzahl des Bundestages solange erhöht, bis sich bei erneuter Durchführung des zweiten Rechenschritts ein Divisor errechnet, bei dessen Anwendung jede Partei mindestens ebenso viele Mandate erhält, wie sie nach dem ersten Berechnungsschritt erhalten hat, also inklusive etwaiger Überhangmandate. Die so hinzugefügten Sitze dienen als Ausgleichsmandate und kommen den Parteien zugute, die schwach an Überhangmandaten sind oder die hauptsächlich in Ländern mit hoher Wahlbeteiligung erfolgreich waren.
Viele Überhangmandate bedeuten großen Bundestag
Dieses Wahlrecht kann den Bundestag unter bestimmten politischen Bedingungen weit über die gesetzliche Mindestzahl von 598 Abgeordneten hinaus vergrößern, vor allem dann, wenn Parteien deutlich mehr Direktmandate gewinnen, als ihnen nach dem Proporz der Zweitstimmen Sitze zustehen. Direktmandate werden im Wahlkreis mit einfacher Mehrheit vergeben, was dazu führt, dass die meisten Wahlkreise an die Unionsparteien als die stärksten politischen Formationen gehen.
Nimmt der Zweitstimmenanteil dieser Parteien ab, wie dies bei der letzten Bundestagswahl in historischem Ausmaß geschehen ist, steigt die Zahl der Überhangmandate - und damit wiederum die der Ausgleichsmandate. Die prognostizierte Vergrößerung des Bundestages ist politisch betrachtet also eine Folge der relativen Schwäche der großen Parteien.
Reformvorschläge, die den Zuwachs an Abgeordneten bremsen wollen, gibt es in großer Zahl. Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen, nämlich solche, die innerhalb des bestehenden Systems der personalisierten Verhältniswahl bleiben und solchen, die es verlassen wollen.
Keine Chancen für reines Mehrheits- oder Listenwahlwahlrecht
Nach einer alten, aber vom BVerfG immer wieder in obiter dicta bestätigten Rechtsprechung soll der Gesetzgeber grundsätzlich frei darin sein, ein anderes Wahlsystem wie ein Mehrheitswahlrecht nach britischem oder französischem Vorbild oder ein sogenanntes Grabenwahlsystem einzuführen (seit BVerfGE 1, 208 (246); zur Grabenwahl etwa E 121, 266 (307)), bei dem ein fester Teil der Sitze durch Listenwahl, der Rest durch Mehrheitswahl in den Wahlkreisen bestimmt wird.
Letzteres wurde bereits im vergangenen Jahr und jetzt erneut ins Spiel gebracht, hat aber ebenso wie die Einführung eines reinen Mehrheitswahlrechts keine Chance auf breite politische Mehrheiten, da es einseitig die Unionsparteien begünstigen würde.
Umgekehrt findet wohl auch eine reine Listenwahl ohne Wahlkreisabgeordnete, die die Überhangmandate entfallen ließe, keine hinreichende Unterstützung. Denn dies würde wohl auf den Widerstand vieler der 298 direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag treffen und zudem die Machtbalance innerhalb derjenigen Parteien ändern, die realistische Chancen auf Siege in den Wahlkreisen haben. Denn während die Listen auf Landesebene aufgestellt werden, werden Wahlkreiskandidaten lokal nominiert.
Gemeinsamer Vorschlag von FDP, Linke und Grüne
Weniger aussichtslos sind Vorschläge, die das bestehende System möglichst geringfügig verändern. Im vergangenen Jahr machten die Fraktionen von FDP, Linkspartei und Grünen einen Vorschlag, der im wesentlichen zwei Punkte enthält: Es soll die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 vermindert und gleichzeitig die Mindestgröße des Bundestages auf 630 angehoben werden.
Dadurch würde die Wahrscheinlichkeit gemindert, dass Überhangmandate entstehen. Zudem sollen Überhangmandate einer Partei in einem Land primär parteiintern kompensiert werden, indem in Ländern, in denen die Partei keine Überhangmandate erzielt hat, Listenmandate dieser Partei gestrichen werden. Nur wenn dies nicht möglich ist, wie vor allem im Falle der nur in Bayern zur Wahl antretenden CSU, entstünde ein Bedarf nach Ausgleichsmandaten.
Das Problem dieses Vorschlags liegt darin, dass der Proporz zwischen den Landeslisten deutlich verzerrt wird; unter Umständen kann es sogar geschehen, dass einzelne Landeslisten bei der Zuteilung von Mandaten unberücksichtigt blieben.
SPD: Verrechnung mit Mandaten aus den Landeslisten
An diesem Punkt setzen die jüngsten Überlegungen in der SPD an. Übersteigt der Bundestag durch Überhang- und Ausgleichsmandate eine bestimmte Maximalgröße, sollen wie im Vorschlag der grün-gelb-roten Opposition Überhangmandate mit Listenmandaten anderer Landeslisten verrechnet werden.
Dabei soll jedoch für die betroffenen Landeslisten ein Sockel an Mandaten garantiert werden. Reicht auch dies nicht aus, um die Maximalgröße zu wahren, sollen noch verbleibende Überhangmandate gestrichen werden.
Trotz Sieg im Wahlkreis ein Mandat zu versagen, wirft aber erhebliche rechtliche Probleme auf und dürfte zudem auf den entschiedenen Widerstand der Unionsparteien treffen.
BVerfG hat Schlupfloch gelassen: Kein Ausglreich von bis zu 15 Überhandmandaten
Ein besonderes Schlupfloch zur Dämpfung der Abgeordnetenzahl hat das BVerfG dem Bundestag gelassen (Urt. v. 25.07.2012. Az. 2 BvF 3/11). Der Senat erachtet es nämlich einstimmig, aber ohne nennenswerte Begründung für möglich, bis zu 15 Überhangmandate unausgeglichen zu lassen. Ein von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble im vergangenen unterbreiteter Vorschlag griff nach diesem Karlsruher Rettungsring und kombinierte dies mit einer Reduktion auf 270 Wahlkreise, wurde aber prompt von allen Fraktionen abgelehnt. Der Nachteil einer solchen Lösung wäre, dass die Mandatsverteilung nicht mehr dem Proporz der Zweitstimmen entspräche.
Eine mehrheitsfähige Reform wird wahrscheinlich allen politischen Kräften zumuten müssen, eine Kröte schlucken zu. So könnten etwa die Unionsfraktionen einer Reduzierung der Wahlkreise zustimmen, während umgekehrt eine gewisse Zahl an Überhangmandaten ohne Ausgleich bliebe. Zudem müssten wohl Überhangmandate einer Partei mit Listenmandaten anderer Landeslisten der Partei verrechnet werden, wobei auf den SPD-Vorschlag eines garantierten Mandatssockels für die betroffenen Landeslisten zurückgegriffen werden könnte.
Bei allen Reformanstrengungen ist jedenfalls höchste Eile geboten, wenn sie noch für die kommende Bundestagswahl greifen sollen. Abgesehen vom erheblichen Zeitbedarf, um ein neues Wahlrecht zu beraten und eventuell die Wahlkreise neu einzuteilen, gibt auch das Bundestagswahlrecht einen zeitlichen Rahmen vor. Denn nach §§ 21 Abs. 3 S. 4, 27 Abs. 5 BWahlG können Bundestagskandidaten bereits nach Ablauf von 32 Monaten nach dem Beginn der Legislaturperiode aufgestellt werden, das heißt in dieser Wahlperiode ab dem 25. Juni 2020. Da den Parteien bei der Aufstellung ihrer Kandidaten das Wahlrecht bekannt sein muss, welches für die Wahl gilt (BVerfG, Urt. v. 03.07.2008, Az. 2 BvC 1/07), müsste bis zu diesem Zeitpunkt eine Reform verabschiedet sein. Daran mag man kaum glauben.
Der Autor Dr. Sebastian Roßner arbeitet als Rechtsanwalt für die Kanzlei LLR in Köln. Einer seiner Schwerpunkte ist das Staats- und Verfassungsrecht.
Reform des Bundestagswahlrechts: . In: Legal Tribune Online, 12.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40247 (abgerufen am: 15.10.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag