Die Koalition hat sich auf eine Reform beim Bürgergeld geeinigt. Um Menschen schnellstmöglich in Arbeit zu bringen, sollen Sanktionen ausgeweitet und Leistungen gekürzt werden. Verfassungskonform? Eine kritische Analyse von Gerhard Kilz.
Die von Union und SPD am 9.Oktober vorgelegten Pläne für eine "Neue Grundsicherung" haben eine intensive Diskussion über die Kürzung von existenzsichernden Sozialleistungen ausgelöst.
Derzeit ist das Bürgergeld ist im Sozialgesetzbuch II (SGB II) normiert. Ein Anspruch darauf besteht, wenn der Lebensunterhalt insbesondere nicht aus dem erzielten Einkommen oder Vermögen bestritten werden kann (vgl. § 9 SGB II). Es handelt sich also nicht um ein bedingungsloses Grundeinkommen. Die Leistungserbringung erfolgt pauschal durch den monatlichen Regelbedarf (563 Euro für eine alleinstehende Person) sowie durch die Übernahme der tatsächlichen und angemessenen Unterkunftskosten.
Bei Pflichtverletzungen (z.B. Weigerung der Arbeitsaufnahme) tritt eine befristete Minderung des Regelbedarfs in mehreren Stufen bis zu 30 Prozent des Regelbedarfs ein (§ 31a SGB II). Bei einer wiederholten Nichtannahme eines konkreten und zumutbaren Arbeitsangebot, entfällt dieser für maximal zwei Monate vollständig (vgl. § 31a Abs. 7 SGB II).
Das soziokulturelle Existenzminimum
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) leitet einen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatsprinzip) ab (vgl. Urt. v. 5.11.2019, Az. 1 BvL 7/16). Das Existenzminimum umfasst neben der physischen Existenzsicherung auch die soziale Teilhabe. Es wäre verfassungswidrig, wenn der Leistungsumfang des Bürgergeldes von vornherein das Existenzminimum nicht abdeckt.
Die Gewährung des Existenzminimums ist im SGB II nachrangig ausgestaltet. Das bedeutet, dass Bürgergeld-Leistungen erst gewährt werden, wenn kein anderer Anspruch auf finanzielle Hilfe besteht oder diese nicht ausreicht. Verfassungsrechtlich ist dies nicht zu beanstanden.
Davon zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit das Bürgergeld als Reaktion auf Pflichtverletzungen gekürzt werden darf. Nach Ansicht der BVerfG verbietet die verfassungsrechtliche Garantie des Existenzminimums nicht die Minderung von existenzsichernden Leistungen. Allerdings werden deutliche Grenzen gezogen. So zielen Sanktionen bzw. Kürzungen im SGB II allein auf die Erfüllung der Mitwirkungspflichten und haben keinen Strafcharakter. Hinsichtlich dieser Funktion müssen sie verhältnismäßig sein.
Während eine Kürzung des Regelbedarfs um 30 Prozent noch verhältnismäßig ist, hat das BVerfG dies aber ab einer Kürzung von 60 Prozent mit Zweifeln an der der Geeignetheit und Erforderlichkeit verneint. Für das Gericht lagen zu dem damaligen Zeitpunkt keine Erkenntnisse darüber vor, ob massive Kürzungen tatsächlich zu einer Verhaltensänderung und zur Mitwirkung führen.
Im Urteil des BVerfG vom 5. November 2019 wird in Grenzen auch ein kompletter Wegfall von existenzsichernden Leistungen als zulässig angesehen. Ein Wegfall wäre zulässig, wenn Leistungsberechtigte bewusst eine konkrete und auch zumutbare Möglichkeit zur existenzsichernden Einkommenserzielung nicht nutzen. Das BVerfG scheint hier das nicht ausgeschöpfte eigene Arbeitspotential ähnlich wie erzieltes Einkommen oder Vermögen zu bewerten und folglich von einer fehlenden Bedürftigkeit auszugehen.
Verbindliches Erstgespräch
Auch wenn nach dem Vorschlag der Koalition nunmehr die Bezeichnung Bürgergeld entfällt, handelt es sich bei den geplanten Änderungen nicht um einen grundlegenden Systemwechsel. Eher um ein Update.
Angestrebt wird eine kontinuierliche Betreuung. Das Jobcenter wird verpflichtet, für die Leistungsberechtigten ein konkretes und persönliches Angebot zu entwickeln. Ob dies auf einen konkreten Arbeitsplatz oder auch auf eine Qualifizierungsmaßnahme bezogen ist, bleibt in dem von Union und SPD vorgelegten Positionspapier offen.
Ferner sind die Leistungsberechtigten zu einem verpflichtenden ersten Gespräch einzuladen. Und es bleibt beim Instrument des Kooperationsplans (§ 15 Abs. 2 SGB II), mit dem die einzelnen Schritte zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt vereinbart werden. Werden diese nicht eingehalten, erfolgt ein hierauf bezugnehmender Verwaltungsakt. Dieser dürfte eine verbindliche Festlegung der getroffenen Vereinbarungen beinhalten und die Grundlage für Sanktionen bei Nichterfüllung bilden. Insoweit modifizieren die geplanten Änderungen die bestehenden Verfahrensabläufe. Neu ist hingegen das verbindliches Erstgespräch. Die Einladung hierzu erfolgt mit einer Rechtsbehelfsbelehrung. Dies deutet daraufhin, dass das Nichterscheinen zu einer Sanktion führen könnte.
Verfassungsrechtlich sind diese Änderungen nicht zu beanstanden. Allerdings ist die angestrebte kontinuierliche Betreuung zeitintensiv. Die Entlastung von Verwaltungsaufgaben oder eine Personalaufstockung wären unausweichlich. Einsparungen könnten sich allerdings ergeben, wenn mehr Menschen in Arbeit vermittelt werden.
Leistungskürzungen als Motivation?
Geplant ist eine Ausdehnung der Leistungskürzungen und Sanktionen. Um einen kontinuierlichen Kontakt sicherzustellen, werden Leistungsberechtigte bei der Versäumung eines Termins im Jobcenter zeitnah zu einem weiteren Termin geladen. Wird dieser ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes nicht eingehalten, erfolgt eine Leistungskürzung von 30 Prozent. Bei der dritten Versäumnis entfällt der Regelbedarfs vollständig.
Verstreicht auch ein weiterer Folgetermin, entfällt die Leistungserbringung komplett. Sie wird fortgesetzt, wenn ein neu angebotener Termin realisiert wird. Es bleibt abzuwarten, ob das BVerfG auch diese Terminversäumnisse wie die Ablehnung einer konkreten Arbeitsmöglichkeit bewertet. Nur in diesem Fall wurde die vollständige Leistungseinstellung als vereinbar mit der Menschenwürdegarantie angesehen.
Ferner soll die erste Pflichtverletzung zur Kürzung des Regelbedarfs um 30 Prozent führen. Dies ist entspricht der Rechtsprechung des BVerfG. Bei einer Verweigerung der Arbeitsaufnahme droht die Streichung der Leistungen. Die Übernahme der Unterkunftskosten ist davon nicht betroffen. Diese werden aber direkt an den Vermieter geleistet.
Die Verhältnismäßigkeit dieser Kürzungen hängt von dem Nachweis der Erforderlichkeit und Geeignetheit ab. Werden hierdurch Menschen wirklich motiviert, sich aktiv in den Vermittlungsprozess einzubringen? Auch hier könnte argumentiert werden, dass die Verweigerung der Arbeitsaufnahme ein Indiz für eine nicht bestehende Hilfebedürftigkeit ist. Dies kann aber nur für den Einzelfall beantwortet werden.
Wegfall der Karenzzeit bei Miete und Vermögen
Das Positionspapier betont den generellen Vermittlungsvorrang. Das heißt: Gibt es eine passende Arbeitsstelle, ist diese grundsätzlich anzunehmen. Ein Qualifizierungsbedarf ist dann zweitrangig. Jedoch kann im Einzelfall eine Qualifizierung vorrangig erfolgen, wenn sie für eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt größerer Chancen bietet.
Geplant ist zunächst der Wegfall der sogenannten Karenzzeit. Aktuell werden im ersten Jahr des Leistungsbezugs (Karenzzeit) die Unterkunftskosten, also die Miete, in voller Höhe übernommen. Danach nur noch im angemessenen Umfang. Ist eine Kostenreduzierung nicht möglich oder zumutbar, werden diese weiter als Bedarf anerkannt (in der Regel für sechs Monate). Mit dem geplanten Wegfall der Karenzzeit müssen sich Leistungsberechtigte Personen wesentlich schneller um eine Kostenreduzierung bemühen. Dies ist eine Rückkehr zur früheren Rechtslage vor dem Jahr 2023.
Auch beim Vermögen wird die Abschaffung der im Jahr 2023 eingeführten Karenzzeit angestrebt. Bislang wird vom zu berücksichtigenden Vermögen ein Freibetrag von 40.000 Euro abgezogen. Erst im Folgejahr reduziert sich der Freibetrag auf 15.000 Euro. Anstelle dieser festen Freibeträge soll bei der neuen Grundsicherung ein variables Schonvermögen treten, das an die Lebensleistung (Alter, Beitragszeiten in der Arbeitslosenversicherung) gekoppelt ist. Die Neuregelung könnte zu Einsparungen führen, weil die Leistungsberechtigten eigene Mittel verwenden müssen.
Gerichtliche Überprüfung der Sanktionen zu erwarten
Nach einer ersten Bewertung der Pläne ist festzuhalten, dass es der Koalition wohl primär um Modifikationen des aktuellen Systems als um einen radikalen Abbau von Grundsicherungsleistungen geht. Mit einer Ausnahme: Die geplanten Sanktionsregelungen beinhalten eine deutliche Verschärfung. Abzuwarten bleibt hier, ob diese am Ende einer gerichtlichen Überprüfung standhalten werden.
Die Betonung einer raschen und nachhaltigen Vermittlung und die Ausweitung der Sanktionen setzten aber bereits jetzt ein deutliches politisches Signal. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, wie die vereinbarten Ziele in einem künftigen Gesetzesentwurf umgesetzt werden können.
Der Autor Prof. Dr. rer. pol. Gerhard Kilz lehrt unter anderem Sozial- und Verwaltungsrecht an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Paderborn. Zum Thema Bürgergeld veröffentlichte er einen umfassenden Rechtsberater, der im dtv-Verlag erschienen ist.
Sanktionen und Leistungskürzungen: . In: Legal Tribune Online, 17.10.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/58404 (abgerufen am: 07.11.2025 )
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