Der österreichische Justizminister plant eine umfassende Rechtsbereinigung. Kritiker sehen gleich die gesamte Rechtsordnung in Gefahr. Georg Krakow plädiert dagegen für noch weitergehende Reformen.
Der österreichische Justizminister Josef Moser macht ernst. Viele politische Beobachter hatten sich die Frage gestellt, wie der neue österreichische "Reformminister" seine Arbeit anlegen würde. Als langjähriger Rechnungshofpräsident hatte er sich als scharfer Kritiker wuchernder Bürokratie profiliert. Seit der Berufung zum Minister für Justiz und Staatsreform lastete ein gewaltiger Erwartungsdruck auf ihm.
Moser hat sich nicht lange aufgehalten und gleich zur Machete statt zum Florett gegriffen: Alle nationalen Gesetze, die vor dem Jahr 2000 erlassen wurden, sollen in Bausch und Bogen verworfen werden – es sei denn, sie werden explizit von der Aufhebung ausgenommen. Dieser radikale Ansatz ist die Konsequenz aus zahlreichen gescheiterten Anläufen, den wachsenden Rechtsbestand einzudämmen.
Alle bisherigen Bemühungen, die Ministerien zum Durchforsten des Rechtsbestandes zu motivieren, waren seit 20 Jahren von überschaubarem Erfolg. Sich von den eigenen Gesetzen zu trennen ist anscheinend ähnlich schwierig, wie die heiß geliebte Schallplattensammlung auszumisten. Deshalb muss nun die gesamte Sammlung weg, nur ein paar Liebhaberstücke dürfen bleiben.
Welche Gesetze werden wirklich gebraucht?
Während die Beamten bei den bisherigen Reformansätzen Argumente finden mussten, warum ein Gesetz aufgehoben werden soll, müssen sie diesmal Argumente finden, warum es beibehalten werden soll. Die Aufhebung nicht zur Ausnahme, sondern zur Regel zu machen, zwingt plötzlich dazu, für jedes einzelne Gesetz eine Existenzberechtigung zu finden.
Die zentralen Bestandteile der österreichischen Rechtsordnung stehen dabei längst auf der Rettungsliste, an der die Ministerien seit zwei Wochen mit Hochdruck arbeiten – so etwa das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch aus dem Jahr 1811 und das Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1974. Sie ersatzlos aufzulassen, würde unmittelbar zum Zusammenbruch des gesamten juristischen Kartenhauses führen.
Als Blaupause für Mosers Plan dient das "Erste Bundesrechtsbereinigungsgesetz" aus dem Jahr 1999. Damit wurden alle Gesetze und Verordnungen von vor 1946 aufgehoben. Ausgenommen blieben (teils mit Auslauffristen) jene 314 Normen, die in einem Anhang explizit angeführt waren. Analog sollen nun alle Bestimmungen aufgehoben werden, die vor dem Jahr 2000 erlassen wurden. Für die Erstellung der Liste der Ausnahmen haben die Ministerien bis Mitte März Zeit. Daran schließt sich eine mehrmonatige Begutachtungsfrist an, in der alle Bürger und Institutionen des Landes auf fehlende Ausnahmen hinweisen können.
Ein derart radikales Vorgehen ist dringend erforderlich, das weiß nicht nur die Anwaltschaft aus ihrer täglichen Arbeit. Der Hang zur Überbürokratisierung hat sich wie eine bleierne Decke über das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben gelegt. Die absurden Erlebnisse heimischer Unternehmer und Bürger sind oft nur mehr als kafkaesk zu bezeichnen.
Zu 1704 Gesetzen kommen zahlreiche Verordnungen
Wer nun überrascht ist, dass es sich „nur“ um 1704 Gesetze handelt, die von der Aufhebung bedroht sind, übersieht die unzähligen Verordnungen, die oft ein Vielfaches des Gesetzestextes ausmachen. Mit den Gesetzen werden auch sie ihre Rechtskraft einbüßen.
Dass dagegen das österreichische Verfassungsrecht generell von der Rechtsbereinigung ausgeklammert bleibt, ist unverständlich. Vor allem angesichts der jahrzehntelang geübten Praxis, Normen einfach in den Verfassungsrang zu heben, um sie vor dem Verfassungsgerichtshof zu immunisieren oder eine Änderung zu erschweren. Anstatt ein oder wenige Verfassungsgesetze zu haben, leistet sich Österreich zusätzlich zur zweitältesten Verfassungsurkunde der Europäischen Union (EU) über 1100 einzelne Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen. Im Unterschied zu Deutschland können einzelne Bestimmungen in einfachen Gesetzen in den Verfassungsrang erhoben werden. Dazu muss der Gesetzgeber sie als solche ausweisen und – wie für Verfassungsbestimmungen üblich – mit Zweidrittelmehrheit beschließen.
Es bestehen hauptsächlich zwei Gründe, diesen Weg zu wählen: Erstens: Ein Kompromiss soll bestandsfest gemacht werden, so dass er nicht mit einfacher Mehrheit wieder geändert werden kann. Oder Zweitens: Man sieht ein Risiko, dass eine neue Regelung dem bisherigen Verfassungsrecht widersprechen könnte und will sie absichern. Man muss wissen: Die österreichische Bundesverfassung ist viel mehr eine Arbeits- und Alltagsverfassung als das Grundgesetz in Deutschland.
Wirkung der Reform wird überschätzt
Zu einer spürbaren Entlastung wird es durch diese Rechtsbereinigung aber ohnehin nicht kommen: Es ist anzunehmen, dass alle Gesetze, die faktisch noch angewandt werden, auf der Liste der Ausnahmen landen werden. Wurden beim ersten Bereinigungsgesetz 314 Gesetze und Verordnungen angeführt, wird die Zahl diesmal um ein Vielfaches höher liegen.
Das liegt nicht nur daran, dass der Normenbestand nach dem Zweiten Weltkrieg viel rascher angewachsen ist als davor. Beim ersten Bundesrechtsbereinigungsgesetz lag der Stichtag, vor dem alles aufgehoben werden sollte, 54 Jahre zurück. Nun sollen lediglich Gesetze der letzten 18 Jahre automatisch erhalten bleiben. Auch das wird zu einer deutlich längeren Ausnahmeliste führen.
Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesbediensteten angesichts dieser Herkulesaufgabe nicht der Versuchung erliegen, reflexartig den gesamten Rechtsbestand auf die Liste der Ausnahmen zu setzen.
Probleme? – Ja, aber beherrschbare
Trotz der vielen Ausnahmen kann es zu legistischen Pannen kommen. Der Wiener Verfassungsrechtler Bernd-Christian Funk weist zu recht darauf hin, dass viele Rechtsbereiche "wie eine Lasagne in Schichten aufgebaut" sind – eine Schicht wegzulassen, kann legistische Probleme nach sich ziehen.
Dieser rechtskulinarische Vergleich zeigt nur: Es rächt sich jetzt, dass man die Konsolidierung wesentlicher Rechtsbereiche wie beispielsweise der Sozialversicherung allzu lang aufgeschoben hat. Unzählige Novellierungen und komplexe Verweisungen auf andere Normen über mehrere Gesetze hinweg haben aus dem Rechtsbestand einen gordischen Knoten gemacht. Wenn er nun durchschlagen wird, muss man auf Kollateralschäden gefasst sein.
Die juristische Aufgabe, vor der die österreichische Beamtenschaft steht, ist ungleich größer als beim ersten Bundesrechtsbereinigungsgesetz. Aber die Probleme dürften beherrschbar bleiben. Es ist den Normunterworfenen dieses Landes deshalb zu wünschen, dass sich die Verantwortlichen im Zweifel für die Aufhebung strittiger Gesetze entscheiden. Und eines sei hinzugefügt: Wenn nicht einmal die gesamte österreichische Verwaltung samt allen Interessierten, die in der Begutachtung eingebunden werden, in der Lage sind, den relevanten Rechtsbestand des Landes positiv festzustellen, dann ist das den Bürgern und Unternehmen noch viel weniger zumutbar und zeigt, wie dringend eine Bereinigung Not tut.
Im Anschluss an diese Reform sollte man sich jedenfalls an die ungleich schwierigere politische Aufgabe machen, auch solche Regelungen zu beseitigen, die nicht seit langem als totes Recht gelten, aber trotzdem keinen oder wenig Nutzen bringen.
Mag. Georg Krakow, MBA ist Partner von Baker McKenzie. Davor war er u.a. als Staatsanwalt und als Kabinettschef im Justizministerium tätig.
Rechtsbereinigung in Österreich: . In: Legal Tribune Online, 29.01.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/26747 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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