Reality TV-Format "Schwer verliebt": Die Menschenwürde hat kein Drehbuch

Pia Lorenz

02.12.2011

Sarah H., Kandidatin einer Sat.1-Kuppelshow, will sich nicht länger schämen. Sie ist mit ihrem Vertrag an die Öffentlichkeit gegangen. Nun werden Knebelklauseln und gleich auch noch Menschenwürdeverletzungen moniert. Nur weil der Zuschauer sich fremdschämt, ist allerdings noch lange nicht die Menschenwürde verletzt, kommentiert Pia Lorenz.

Sarah H. ist 27 Jahre alt. In der Sat.1-Kuppelshow "Schwer verliebt" wird sie vorgestellt als die "romantische Regalservicekraft". Sie ist eine der Kandidatinnen, denen das an Quotenschlager wie den RTL-Vorreiter "Bauer sucht Frau" angelehnte Reality TV-Format dabei helfen will, ihre große Liebe zu finden. Der Sender gibt an, die Kandidaten dabei in Alltagssituationen abzubilden. 

Kritisiert werden diese "Reality"-Formate schon lange. "Fremdschämen" und Menschenwürdeverletzung stehen am Pranger. An den Quoten ändert das nichts. Die Zuschauer scheinen sehen zu wollen, wie Sat.1 Sarah in Szene setzt als Barbie-Freak, als soziale Außenseiterin, als eine, der es noch schlechter geht als selbst dem durchschnittlichsten Zuschauer des Formats.

Mit ihr ist erstmals eine der schwer Vermittelbaren an die Öffentlichkeit gegangen. Mit Hilfe der Rheinzeitung und eines Anwalts, der pro bono für sie tätig wird, lehnt sie sich auf gegen den Sender. Dagegen, dass sie viele Dinge nicht habe tun wollen, die das "geheime Drehbuch" vorgeschrieben habe und für die sie sich schämt. Gegen die von ihr als "Knebelvertrag" bezeichnete Vereinbarung, die sie zum Stillschweigen verpflichtete, bis die Sendung begann. Gegen ein Honorar von 700 Euro, das ihr für die gesamte Staffel alle Nutzungsrechte von Persönlichkeits- bis Urheberrecht abkaufte und gegen angedrohte Schadensersatzzahlungen, wenn sie der Vereinbarung zuwider mit der Presse sprechen sollte. Und gegen das Verbot, die Ausstrahlung von Sendungen per einstweiliger Verfügung zu verhindern.

Entscheidung setzt Information voraus

Nun fordern auch aufmerksam gewordene Politiker, dass die Branche sich einem Kodex unterwerfen und eine unabhängige Stelle die Verträge der Kandidaten vor ihrem Abschluss prüfen solle.

Es gibt Wege, die Kandidaten beim Abschluss von Verträgen über die Mitwirkung an Reality TV-Formaten nicht allein zu lassen, ob nun per Selbstverpflichtung oder gesetzliche Vorgabe. Aber muss, kann und sollte das Recht Menschen, die offenbar als voll geschäftsfähig eingestuft werden, überhaupt vor sich selbst schützen?

Konstellationen, in denen ein Dritter Verträge prüft, sind dem deutschen Recht nicht unbekannt. Bevor man ein Grundstück erwerben kann, muss der Notar beraten. Will man ein Kind abtreiben, ist eine Schwangerschaftsberatungsstelle zu konsultieren. Und wenn man sich untersuchen lassen will auf genetische Krankheitsdispositionen, braucht es nicht nur eine Beratung, um die weitreichenden Folgen der Wahl beurteilen zu können.

Wer Entscheidungen von großer Tragweite trifft, soll und muss sie informiert treffen, im vollen Bewusstsein der Konsequenzen, die eine Unterschrift für sein Leben haben kann.

Viel mehr als nur juristische Beratung

Man kann diesen Gedanken übertragen: Wer sich in die Öffentlichkeit begeben will, ohne an sie gewöhnt zu sein, bedarf einer vorherigen Information. Eine unabhängige Stelle zur Überprüfung von Verträgen über eine Kandidatur für die Reality-Show müsste dabei allerdings viel mehr tun als nur Verträge zu prüfen und die Aspiranten über ihren Inhalt zu belehren.

Sie müsste Menschen, die "nicht über die intellektuellen Fähigkeiten eines Anwalts verfügen" (Martin Dörmann, medienpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion gegenüber der Rheinzeitung), plastisch vor Augen führen, was ihnen blühen kann, wenn sie sich vor die Kameras begeben. Viel wichtiger als sittenwidrige Honorare, unbefristete Rechteübertragungen und ausgeschlossene Rechtsmittel ist dabei das Publikum, dem der Mensch ausgesetzt wird.

Eine echte Beratung, die nur sekundär juristischer Natur wäre, müsste Mitschnitte bereits blamierter Kandidaten auf youtube vorführen und hämische Kommentare auf facebook zeigen. Sie müsste erläutern, dass vielleicht am Ende, statt der gesuchten Liebe oder wenigstens den berühmten "fifteen minutes of fame", bundesweite Häme, Beleidigungen und Mobbing im Netz, vielleicht auch im Supermarkt nebenan warten. Die Beratung müsste die Kandidaten darauf vorbereiten, dass sie ein Ausmaß an Öffentlichkeit erwarten kann, das alles bisher Gekannte in den Schatten stellt. Und dass die Reaktionen dieser Öffentlichkeit geeignet sein können, sie zu traumatisieren.

Peinliche Dinge zu tun, verletzt nicht die Menschenwürde

Ein Mensch aber, der geschäftsfähig ist, der also Verträge abschließt und sich auch sonst der Konsequenzen seines Handelns bewusst ist, darf Dinge tun, für die andere sich schämen würden – auch, wenn das in der Öffentlichkeit geschieht. Menschenwürde wird nicht dort verletzt, wo ein Mensch peinliche Dinge tut. Er darf halbnackt Schokoladenbäder nehmen, obwohl er keine Modellmaße hat. Er darf Liebeslieder singen, obwohl er nicht singen kann und er darf mit Barbiepuppen Sexspiele nachstellen.

Es ist im wahrsten Sinne des Wortes sein gutes Recht, seine Persönlichkeit so auszuleben. Und es ist nicht die Aufgabe eines vermeintlich gut gemeinten Rechts, den Menschen vor sich selbst zu schützen, wenn er sich auf diese Art verwirklichen und verstanden wissen will.

Aber es ist die Aufgabe des Rechts, Individuen davor zu schützen, erniedrigende Dinge zu tun, weil diese in einem geheimen Drehbuch stehen, während ganz Deutschland glaubt oder jedenfalls glauben soll, dass sie dabei selbstbestimmt handeln.

Menschenwürde ist auch das Recht auf selbstbestimmte Persönlichkeit

Die Menschenwürde ist vor allem eine Frage des eigenen Selbstverständnisses. Sie ist Grundlage des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, das seinen Namen nicht umsonst trägt. Es garantiert jedem Menschen, selbst darüber zu entscheiden, wie er in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Und es schützt ihn vor Beeinträchtigungen dieses von ihm selbst definierten eigenen sozialen Geltungsanspruchs, der sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Gedanken der Selbstbestimmung ableitet.

An dieser und nur an dieser Stelle verletzen die Reality TV-Formate das, was die Würde des Menschen, was seine Persönlichkeit ausmacht: Wenn sie den Kandidaten Äußerungen aufzwingen, die sie nie tätigen, Handlungen vorschreiben, die sie nie vornehmen würden. Wenn nicht mehr sie selbst bestimmen, was erniedrigend ist und welches Bild das Publikum von ihnen hat. Ein Publikum, das von Sendern und Produzenten gleichzeitig vorsätzlich darüber getäuscht wird, dass, was es sieht, Realität sei.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, um weitere Menschenwürdeverletzungen zu verhindern: Entweder bildet "Reality"-TV die echte Realität ab oder aber die Fiktion wird als solche gekennzeichnet. Beide Varianten können und müssen nicht erst im Verhältnis zwischen dem Sender und seinen Kandidaten geregelt werden. Die zwischen diesen beiden Parteien geschlossenen Verträge sind vielmehr nur das Mittel, mit dem die Sender den eigentlich verwerflichen Zweck umsetzen, hohe Einschaltquoten zu erzielen durch gefälschte Realität. Auch ein freiwilliger Kodex für die Branche dürfte nicht ausreichen, um diesen Kern des Problems zu beseitigen. 

Sarah H. kann vielleicht schon helfen, dass sie nicht auf ihre Menschenwürde verzichten kann - egal, was sie unterzeichnet hat. Die Menschenwürde ist nicht nur unantastbar, sondern auch unverzichtbar. Am Ende kann man jeden Vertrag auflösen, wenn es dafür einen wichtigen Grund gibt. Die Anforderungen dafür sind sehr hoch. Aber eine Verletzung der Menschenwürde dürfte reichen.

 

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Zitiervorschlag

Pia Lorenz, Reality TV-Format "Schwer verliebt": . In: Legal Tribune Online, 02.12.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/4952 (abgerufen am: 04.10.2024 )

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