Den Haag macht ernst: Mit den Haftbefehlen gegen Mohammed Deif, Benjamin Netanjahu und Joaw Galant tritt der IStGH in eine neue Phase ein. Jetzt müssen die Vertragsstaaten sich klar positionieren, finden Aziz Epik und Julia Geneuss.
Am 21. November 2024 hat die zuständige Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) im Zusammenhang mit der "Situation Palästina" einstimmig drei Haftbefehle erlassen: Gegen Mohammed Deif, den obersten Befehlshaber des militärischen Flügels der Hamas, sowie gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Israels Joaw Gallant.
Diese Haftbefehle werden weitreichende Folgen haben, nicht nur für die Beschuldigten selbst, sondern auch für die Praxis des Völkerstrafrecht als solches.
Gegenstand der Haftbefehle
Gegenstand der Haftbefehle sind sowohl Verbrechen der Hamas am und nach dem 7. Oktober 2023 als auch das Vorgehen Israels im Rahmen der nunmehr über ein Jahr andauernden militärischen Operation in Gaza bis zum 20. Mai 2024, dem Tag, an dem die Anklagebehörde die Haftbefehle beantragt hat. Für den Erlass eines Haftbefehls bedarf es dabei eines "begründeten Verdachts" für das Vorliegen von Völkerrechtsverbrechen und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der genannten Personen, was in etwa den Anforderungen des hinreichenden Tatverdachts nach deutschem Strafverfahrensrecht entspricht.
Die Haftbefehle und die Begründung der Entscheidung der Vorverfahrenskammer sind zum Schutz von Zeugen und zur Sicherung des weiteren Verfahrens als "geheim" klassifiziert und wurden daher nicht im Wortlaut veröffentlicht. Bislang liegen lediglich die Pressemitteilungen des IStGH vor.
Die materiell-völkerstrafrechtlichen Vorwürfe, die gegenüber Deif einerseits und Netanjahu und Gallant andererseits in den Haftbefehlen erhoben werden, wurden an anderer Stelle bereits erörtert; im Folgenden sollen daher einige Aspekte nur punktuell hervorgehoben werden.
Hamas-Verbrechen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen
Schon mit Blick auf das äußerst brutale und grausame Vorgehen der Hamas am und nach dem 7. Oktober 2023 ist es nicht überraschend, dass die Vorverfahrenskammer den Haftbefehl gegen Deif, den letzten der drei Beschuldigten auf Seiten der Hamas, dessen Tod noch nicht bestätigt wurde, antragsgemäß erlassen hat. Es ist anzunehmen, dass es der Vorverfahrenskammer nicht ungelegen kam, mit dem Haftbefehl gegen Deif auch die Verbrechen der Hamas zu thematisieren.
Deif werden verschiedene Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen nach Art. 7 und 8 des Römischen Statuts des IStGH (IStGH-Statut) vorgeworfen. Hervorzuheben sind dabei Vorwürfe der sexualisierten und geschlechtsbezogenen Gewalt gegen Frauen sowie der Vorwurf des Menschlichkeitsverbrechens der Ausrottung. Dieses weist mit der Voraussetzung des vorsätzlichen Auferlegens von Lebensbedingungen, die geeignet sind, die Vernichtung eines Teiles der Bevölkerung herbeizuführen, Parallelen zum Völkermord-Tatbestand auf.
Netanjahu und Gallant: Fokus auf das "Wie" der Kriegsführung in Gaza
Auch die Haftbefehle gegen Netanjahu und Gallant beinhalten den Vorwurf von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Im Zentrum der Vorwürfe steht das Kriegsverbrechen des vorsätzlichen Aushungerns von Zivilpersonen als nach humanitärem Völkerrecht verbotene Methode der Kriegsführung. Für dieses Verbrechen sieht die Vorverfahrenskammer den begründeten Verdacht der mittäterschaftlichen Verantwortlichkeit von Netanjahu und Gallant.
Die Kammer führt an, beide hätten die Erbringung humanitärer Hilfe in Gaza behindert und dadurch der dortigen Zivilbevölkerung Nahrung, Wasser, Medizin und medizinische Güter sowie Treibstoff und Elektrizität vorenthalten. Hierfür habe es weder eine militärische oder sonst eine Rechtfertigung gegeben. Damit tritt sie dem oftmals geführten Argument entgegen, Israel habe zur effektiven Bekämpfung der Hamas entsprechende Restriktionen hinsichtlich des Zugangs von Gütern treffen müssen.
Ebenfalls eine Folge des Vorenthaltens lebensnotwendiger Güter ist der Vorwurf des Menschlichkeitsverbrechens anderer unmenschlicher Handlungen. Hier stützt sich die Vorverfahrenskammer auf das Vorenthalten medizinischer Güter und Medizin, insbesondere von Narkosemitteln und Anästhesiegeräten. Deshalb seien Ärzte gezwungen gewesen, Operationen, unter anderem Amputationen, ohne Betäubung durchzuführen, was bei den Patienten erhebliche Schmerzen und Leiden zufügte.
Verfolgung: Den Palästinensern fundamentale Menschenrechte verweigert
Schließlich sieht die Vorverfahrenskammer den begründen Verdacht hinsichtlich des Menschlichkeitsverbrechens der Verfolgung. Die aus der Vorenthaltung und Behinderung humanitärer Hilfe resultierende Situation habe einen signifikanten Teil der Zivilbevölkerung in Gaza ihrer Grundrechte, einschließlich des Rechts auf Leben und Gesundheit, beraubt.
Dabei sei die Bevölkerung aus politischen und nationalen Gründen zum Ziel geworden. Dieser Tatvorwurf wiegt durchaus schwer, zeichnet sich das Verfolgungsverbrechen doch gerade dadurch aus, dass Grundrechte "wegen der Identität einer Gruppe oder Gemeinschaft" entzogen werden. Es geht hier also um eine Ausprägung des gegenüber Israel zuletzt wiederholt erhobenen Vorwurfs, Palästinensern gerade aufgrund ihrer palästinensischen Identität systematisch fundamentale Menschenrechte zu verweigern.
Keine Ausrottung
Abgelehnt hat die Vorverfahrenskammer indes den begründeten Verdacht für das Vorliegen des Menschlichkeitsverbrechens der Ausrottung. Die Richter haben zwar anerkannt, dass die Wasser- und Nahrungsmittel-, Elektrizitäts- und Treibstoffknappheit sowie das Fehlen medizinischer Güter zu Lebensbedingungen geführt hat, welche geeignet sind, die Vernichtung eines Teils der Bevölkerung herbeizuführen, wie in Art. 7 Abs. 2 lit. b) des Rom-Statuts vorausgesetzt. Gleichwohl sehen sie nicht alle Tatbestandsmerkmale als erfüllt an.
Allerdings hatte bereits die Anklagebehörde selbst gewisse Zweifel erkennen lassen, als sie in ihrem Haftbefehlsantrag eine alternative Formulierung nutzt und auf Ausrottung "und/oder" vorsätzliche Tötung abgestellt hat. Den begründeten Verdacht des Menschlichkeitsverbrechens der vorsätzlichen Tötung sieht die Kammer als gegeben an.
Ein zweifelhaftes amicus-curiae-Verfahren
Zeitgleich mit den Haftbefehlen hat sich die Kammer in zwei gesonderten Beschlüssen mit Einwänden gegen die Gerichtsbarkeit des IStGH und die Zulässigkeit der Strafverfolgung befasst. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen findet jedoch nicht statt, vielmehr verweist die Kammer auf den weiteren Fortgang des Verfahrens.
Vor dem Hintergrund, dass es sich hier um Rechtsfragen handelt, die in dem von der Vorverfahrenskammer nach Eingang des Haftbefehlsantrags zugelassenen sogenannten amicus-curiae-Verfahrens besonders umstritten waren, ist dies bemerkenswert. In diesem Rahmen können "Freunde des Gerichts" – Staaten, Organisationen, Wissenschafter:innen – zu für das Verfahren relevanten Fragen Schriftsätze einreichen. Die Durchführung des amicus-Verfahrens in diesem Verfahrensstadium war schon per se nicht überzeugend und hat zu Verzögerungen geführt. Da die Kammer die virulenten Punkte nun nicht mal adressiert, ist seine Sinnhaftigkeit nochmals deutlicher zu hinterfragen.
Was die Gerichtsbarkeit angeht, hatte die Vorverfahrenskammer bereits im Jahr 2021, in anderer Zusammensetzung, entschieden, dass der IStGH für die "Situation Palästina" zuständig ist.
Komplementarität: Israel hat (Un-)Zulässigkeit des Verfahrens selbst in der Hand
Die Kammer verschiebt auch die Prüfung der Zulässigkeit der personenbezogenen Strafverfolgung auf einen späteren Verfahrenszeitpunkt. Das betrifft insbesondere den Grundsatz der Komplementarität. Demnach ist der IStGH nur komplementär zu staatlicher Gerichtsbarkeit für die Verfolgung von Völkerrechtsverbrechen zuständig. Kurz gesagt: Ist die nationale Strafjustiz ernsthaft selbst aktiv, ist ein entsprechendes Verfahren vor dem IStGH unzulässig.
Die Nichterörterung der Komplementarität durch die Kammer ist angesichts der Brisanz der Haftbefehle und der Anführung im amicus-Verfahren durchaus überraschend. Auch Deutschland hatte in seinem Schriftsatz argumentiert, dass einem Rechtsstaat wie Israel im Falle eines andauernden Angriffs und andauernder Bedrohungen mehr Zeit zur Überprüfung möglicher Verletzungen des humanitären Völkerrechts eingeräumt werden sollte.
Diese Argumentation ist jedoch wenig überzeugend: Zum einen scheint es der Anklagebehörde in dem nun schon über ein Jahr andauernden Konflikt unter den gegebenen Umständen gelungen, umfangreiche Ermittlungsergebnisse vorzulegen. Zum anderen reicht es nicht aus, auf Israels zweifelsfrei unabhängige Justiz zu verweisen, die sich nicht scheut, bei innerstaatlichen Angelegenheiten auch gegen hochrangige Vertreter aus der Politik vorzugehen.
Vielmehr hat sich in der Rechtsprechung des IStGH der – durchaus strenge – sog. "same person, substantially same conduct"-Komplementaritätstest herausgebildet: Nur wenn staatliche Ermittlungen gegen dieselbe Person wegen im Wesentlichen derselben Vorwürfe durchgeführt werden, ist das Verfahren vor dem IStGH unzulässig. Die israelische Justiz hat die (Un-)Zulässigkeit der Strafverfolgung von Netanjahu und Gallant über die Einleitung entsprechender ernsthafter Ermittlungen mithin selbst in der Hand.
Netanjahu kann sich nicht auf Immunität berufen
Die Entscheidungen aus Den Haag werden erhebliche Konsequenzen haben.
Dies gilt zum einen für die Beschuldigten: Reisen sie in einen Vertragsstaat des IStGH, müssen sie nunmehr damit rechnen, dass diese ihrer Verpflichtung aus dem Statut nachkommen und sie verhaftet und an den Gerichtshof überstellt werden. Wenngleich sicher nicht alle Vertragsstaaten dieser Pflicht nachkommen würden, so bleibt ein Risiko, das nur durch eine ganz erhebliche Einschränkung der Reisetätigkeit minimiert werden kann.
Für den nunmehr nur noch ehemaligen Verteidigungsminister Gallant und Hamas-Führer Deif, sollte er doch noch am Leben sein, gilt dies ohne jeden Zweifel.
Aber auch Benjamin Netanjahu kann sich nicht auf seine personelle Immunität als Regierungschef berufen. Der IStGH hat dies bereits in einer früheren Entscheidung klargestellt: Vor einem genuin internationalen Strafgericht, wie dem IStGH, greift weder personelle noch funktionelle Immunität. Da die einzelnen Vertragsstaaten den Gerichtshof nur unterstützen, ohne in eigener Souveränität tätig zu werden, steht Netanjahus Immunität auch einer Verhaftung und Überstellung durch nationalstaatliche Behörden nicht entgegen.
Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass Art. 16 Rom-Statut dem UN-Sicherheitsrat per Resolution nach Kapitel VII der UN-Charta die Möglichkeit eröffnet, das Verfahren auszusetzen, beispielweise um die Rahmenbedingungen für diplomatische Verhandlungen zur Beendigung des Krieges zu schaffen. Der Vorwurf, es sei das Vorgehen des IStGH, das eine Friedenslösung erschwere, greift daher jedenfalls zu kurz.
Völkerstrafrechtspolitische Folgen kaum kalkulierbar
Die völkerstrafrechtspolitischen Folgen der Entscheidungen sind hingegen kaum kalkulierbar. Sicher ist jedoch, dass der Gerichtshof über 20 Jahre nach seiner Errichtung mit den Haftbefehlen in eine neue Phase eingetreten ist.
Der IStGH wird harten Angriffen ausgesetzt sein. Schon jetzt wird er aus den USA massiv angegriffen. Es ist absehbar, dass dies unter der zweiten Regierung Donald Trumps verschärft werden wird und sich einzelne Mitarbeiter des Gerichtshofs – erneut – auf eine sie persönlich betreffende Sanktionierung einstellen müssen.
Auch aus Israel kommt, wenig überraschend, scharfe Kritik. Zu bemerken ist allerdings, dass Israel sich nach Bekanntgabe der Haftbefehlsanträge in begrenztem Umfang auf das Verfahren eingelassen und mit Blick auf bestimmte Verfahrensfragen in rechtliche Kommunikation mit dem IStGH eingetreten ist. Der Gerichtshof wurde nicht ignoriert, sondern als Akteur anerkannt. Ob diese Kommunikation nun weiter aufrechterhalten und Israel bzw. Netanjahu und Gallant als Beschuldigte auch in Zukunft Einwände gegen die Gerichtsbarkeit und die Zulässigkeit des Verfahrens vorbringen werden, bleibt abzuwarten.
Entscheidend: Reaktion der Vertragsstaaten
Nicht nur für den Gerichtshof, auch für das Völkerstrafrecht insgesamt wird jedoch entscheidend sein, wie sich die – mit dem Beitritt der Ukraine ab dem 1. Januar 2025 dann 125 – Vertragsstaaten des IStGH positionieren. Die Bandbreite der Reaktionen ist groß und reicht von Statements, dass die Haftbefehle im Zweifel vollstreckt werden würden (z.B. Niederlande, Italien, Kanada) über Kritik, Missfallen und Empörung (z.B. Österreich, Argentinien) hin zu einer Einladungen Netanjahus, um den Haftbefehl demonstrativ nicht zu vollstrecken (Ungarn). Von der deutschen Bundesregierung findet sich ein wachsweiches Statement, das gleichzeitig auf die Unterstützung des Gerichtshofs, die einzigartigen Beziehungen zu Israel und im Übrigen auf eine "gewissenhafte Prüfung" der – rechtlich allerdings eindeutigen – innerstaatlichen Schritte verweist.
Fast wichtiger als die hypothetische Diskussion um die Vollstreckung der Haftbefehle ist dabei die Haltung der Vertragsstaaten gegenüber der – von ihnen errichteten und durch sie getragenen – Institution IStGH und seiner Unabhängigkeit als auch zum Völkerstrafrecht insgesamt. Die Haftbefehle und das ihnen zu Grunde liegende Recht verweisen auf die zivilisatorische Errungenschaft, dass in einem bewaffneten Konflikt nicht alles erlaubt ist. Im Krieg gilt Recht, namentlich die Regeln des humanitären Völkerrechts. Das gilt auch dann, wenn dieser grundsätzlich vom Selbstverteidigungsrecht gedeckt ist und auch unabhängig davon, ob sich die gegnerische Partei an das humanitäre Völkerrecht hält. Das Völkerstrafrecht ist ein Mechanismus zur Durchsetzung dieser Regelungen, der ständige IStGH die hierzu geschaffene Institution.
Die Haftbefehle drücken den begründeten Verdacht aus, dass das – angesichts der Bilder und Berichte aus Gaza unzweifelhafte – Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung Unrecht ist: kein Versehen oder "Pech", keine unvermeidliche Folge des Krieges, kein "Kollateralschaden". Die Verantwortlichen für dieses Unrecht zu identifizieren, ist genuine Aufgabe der (internationalen) Strafjustiz. Sie muss die Chance erhalten, sich als unabhängige und unparteiische Akteurin zu beweisen. Ist man von der Idee des Völkerrechts, des humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts überzeugt, dann gilt es, sich auch in komplexen und politisch und diplomatisch herausfordernden Situationen widerspruchsfrei dazu zu bekennen.
Prof. Dr. Aziz Epik ist Juniorprofessor für Strafrecht, Internationales Strafrecht und Kriminologie an der Universität Hamburg. Prof. Dr. Julia Geneuss ist Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Potsdam.
Haftbefehle gegen Netanjahu, Galant und Deif: . In: Legal Tribune Online, 25.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55945 (abgerufen am: 07.12.2024 )
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