Auslegungshilfe für Verwaltung und Gerichte: Deut­sch­land hat eine "Ras­sismus"-Defini­tion

von Hasso Suliak

13.03.2025

Ein zwölfköpfiges Expertengremium brütete seit Sommer 2023 darüber, jetzt ist sie fertig: Anfang der Woche präsentierte die Bundesbeauftragte für Antirassismus, Alabali-Radovan, eine Auslegungshilfe für Behörden, wann Rassismus vorliegen soll.

Es brauchte erst die Morde der rechtsextremen Terrorvereinigung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), bis der bundesdeutsche Gesetzgeber reagierte: Denn erst auf Empfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses änderte Deutschland im Jahr 2015 sein Strafgesetzbuch (StGB). Gerichte sollten künftig angehalten werden, rassistische Taten schärfer zu ahnden.

Zuvor gab es für die Strafzumessung lediglich die allgemeine Vorgabe, "die Beweggründe und die Ziele des Täters" sowie "die Gesinnung, die aus der Tat spricht", zu berücksichtigen. Seit 2015 regelt § 46 Abs. 2 StGB, dass bei der Strafzumessung "besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende" Beweggründe und Ziele von Tätern berücksichtigt werden müssen.

Gleichzeitig wurden bestimmte Ermittlungs- und Dokumentationspflichten in Bezug auf rassistisch motivierte Taten in den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) geändert. Damit wurden auch langjährige Empfehlungen umgesetzt, die sich aus den europäischen und internationalen Menschenrechtsabkommen ergeben.

Schutz vor rassistischen Handlungen in diversen Gesetzen

Schutz vor unterschiedlichen Formen (rassistischer) Diskriminierung gewährleisten Völker-, Europa- und Verfassungsrecht sowie einzelne einfache Gesetze und untergesetzliche Regelungen. So verbietet auf Ebene des Verfassungsrechts der spezielle Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 3 S. 1 Grundgesetz (GG) die Benachteiligung oder Bevorzugung von Menschen unter anderem wegen ihrer Abstammung, Rasse, Heimat oder Herkunft durch alle Staatsgewalten. Der Begriff "Rasse" war seinerzeit als Reaktion auf den Rassenwahn des NS-Staates in die Aufzählung der Merkmale des Art. 3 GG aufgenommen worden. Versuche, ihn soll aufgrund seiner historisch unklaren und missbräuchlichen Verwendung aus Art. 3 GG zu streichen, scheiterten bislang.

Einfachgesetzlich bietet das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) Schutz vor verschiedenen Formen von Diskriminierung im Bereich der Erwerbstätigkeit und im Kontext privater Rechtsbeziehungen – auch aus rassistischen Motiven. Zudem können rassistische Äußerungen und rassistisches Verhalten verschiedene strafrechtliche Konsequenzen zur Folge haben, etwa nach den §§ 130 (Volksverhetzung) und 86, 86a (Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) StGB. Statistisch erfasst werden rassistische Straftaten von Polizei und Justiz nicht gesondert, sondern als politisch motivierte Taten nach dem Definitionssystem "Politisch motivierte Kriminalität" (PMK) im "Kriminalpolizeilichen Meldedienst Politisch motivierte Kriminalität" (KPMD-PMK).

Keine gesetzliche Definition vorhanden

Allerdings: Was nun unter Rassismus konkret zu verstehen ist, darüber schweigt sich der deutsche Gesetzgeber aus. Eine gesetzliche Definition von "Rassismus" gibt es nicht. Auch eine Handreichung oder Empfehlung für Behörden oder die Justiz, wann Rassismus vorliegt, existierte nicht – jedenfalls bis Anfang dieser Woche.

Am Dienstag legte die Beauftragte der Bundesregierung für Antirassismus, Reem Alabali-Radovan (SPD), eine Arbeitsdefinition von Rassismus für die deutsche Verwaltung vor. Die in einem von Expertinnen und Experten in einem mehr als eineinhalb Jahre dauernden Prozess formulierte Definition soll Beamtinnen und Beamten im Alltag mehr Klarheit verschaffen. Sie sei nicht verbindlich, könne aber für das Verwaltungshandeln genutzt werden. "Gerade die öffentliche Hand muss Vorreiterin im Kampf gegen Rassismus sein. Niemand darf rassistisch diskriminiert werden", so die Staatsministerin.

Definition aus 13 Sätzen

Die von ihr vorgestellte Definition ist nicht knapp, sondern umfasst 13 Sätze: "Rassismus basiert auf einer historisch gewachsenen Einteilung und Kategorisierung von Menschen anhand bestimmter äußerlicher Merkmale oder aufgrund einer tatsächlichen oder vermeintlichen Kultur, Abstammung, ethnischen oder nationalen Herkunft oder Religion", heißt es in der Definition.

Bestimmte Merkmale würden diesen Gruppen zugeschrieben, die sie und die ihnen zugeordneten Personen als höher- oder minderwertig charakterisierten. Die als minderwertig kategorisierten Gruppen werden demnach herabgewürdigt und auf der Grundlage von negativen Stereotypen und Vorurteilen abgewertet. Rassismus stelle gesellschaftlichen Zusammenhalt infrage.

In ihren Schlussfolgerungen erklären die Expertinnen und Experten: "Menschen werden durch Rassismus stigmatisiert, benachteiligt und ausgegrenzt. Rassismus belastet und gefährdet einzelne Personen und Gruppen." Darüber hinaus stelle Rassismus den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Legitimation des demokratischen Verfassungsstaats infrage.

Die Definition soll laut Alabali-Radovan nutzbar sein für das Handeln der Verwaltungen von Bund, Ländern und Kommunen und "das Bewusstsein in den Verwaltungen für alle Erscheinungsformen von Rassismus schärfen". Die Staatsministerin mahnte: "Rassismus verletzt die Menschenwürde, grenzt aus, spaltet und ist unvereinbar mit dem Gebot der Gleichheit. Der Staat und seine Institutionen stehen hier in der Pflicht."

"Praxisnahe Grundlage" – auch für Gerichte

Alabali-Radovan führte aus: "Nur wenn wir Rassismus in all‘ seinen Erscheinungsformen erkennen und anerkennen, können wir ihn nachhaltig bekämpfen, das Vertrauen in staatliche Institutionen stärken und unsere wehrhafte Demokratie festigen." Die Arbeitsdefinition des Rats biete dafür eine wissenschaftlich fundierte und praxisnahe Grundlage.  

Bereits im Juni 2023 hatte Alabali-Radovan den Rat von Expertinnen und Experten für Antirassismus berufen. Er setzt sich aus zwölf Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Praxis und Verwaltung zusammen. Unter ihnen auch drei Juristinnen und Juristen: die Geschäftsführerin des Antidiskriminierungsverbands Deutschland, Eva Maria Andrades, der ehemalige SPD-Ministerialbeamte Ralf Kleindiek und der Hamburger Staatsrechtler Prof. Dr. Mehrdad Payandeh.

Geht es nach der Beauftragten der Bundesregierung, sollten allerdings nicht nur die Verwaltung, sondern auch Gerichte die Arbeitsdefinition für ihre Aufgaben heranziehen. Sie basiere auf rechtlich verbindlichen Vorgaben, insbesondere auf Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG und dem UN-Antirassismusübereinkommen und tauge als Auslegungshilfe, so Albali-Radovan gegenüber LTO. Gerichte könnten sie berücksichtigen, "wenn es um die Auslegung und Anwendung von Gesetzen geht, in denen rassistische Motive eine Rolle spielen".

Die vollständige Definition kann hier eingesehen werden.

Mit Material von dpa

Zitiervorschlag

Auslegungshilfe für Verwaltung und Gerichte: . In: Legal Tribune Online, 13.03.2025 , https://www.lto.de/persistent/a_id/56789 (abgerufen am: 16.03.2025 )

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